Lutz kam aus einem strengen katholischen Elternhaus. Ein Kaplan faszinierte den zehnjährigen Jungen, weil er so offen und unkompliziert war. Doch dann begannen die Umarmungen und schließlich, in einer Ferienfreizeit, die gewalttätigen sexuellen Übergriffe. "Und plötzlich ist er versetzt worden, dann war er weg. Ich habe versucht, die ganze Sache zu vergessen oder wegzuschieben."
Nach ihrer Konfirmation blieb Johanna in der vom neuen Pastor geleiteten Jugendgruppe aktiv. Der verheiratete Pastor habe sich immer sehr progressiv gegeben und die Jugendliche mit Umarmungen, Liebeserklärungen und Küssen verwirrt. Über mehrere Jahre zog sich der sexuelle Missbrauch hin. "Heute weiß ich, dass es vor mir Mädchen gab, und ich weiß auch, wen er sich nach mir ausgesucht hat."
Berichte über sexuellen Kindesmissbrauch, sexualisierte oder sexuelle Gewalt durch katholische und evangelische Geistliche in Gemeinden oder kirchlichen Einrichtungen erschüttern.
Die 2016 gegründete Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
Kernaufgabe Prävention
In den zurückliegenden Jahren ist es zu zahlreichen Austritten evangelischer und katholischer Kirchenmitglieder gekommen. Diese "Abstimmung mit den Füßen" sollte nicht darüber hinwegtäuschen, welch große Rolle beide Kirchen mit Caritas und Diakonie im Alltag von Familien spielen. Sie übernehmen tagtäglich Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsaufgaben. Im März 2022 wies die Statistik 9445 Kindertagesstätten und Horte in katholischer und 9278 Kindertagesstätten in evangelischer Trägerschaft aus. 2022 wurden in katholischen Einrichtungen 633023 Kinder, in evangelischen 591793 Kinder betreut.
Der Ruf nach Prävention und Handlungswissen in Verdachtsfällen ist somit verständlich. Das Personal beider Kirchen und in allen Entscheidungs- und Handlungsbereichen muss im Kinder- und Jugendschutz professionell agieren können, und die Leitung von Einrichtungen ist verantwortlich, Qualifikation und Weiterbildung zu ermöglichen. Kinder und Jugendliche verbringen sehr viel Zeit außerhalb der Familie, und dies inzwischen bereits im Kleinkindalter. Um Gewalt zu verhindern und von Gewalt Betroffenen zu helfen, wird Verantwortung auf viele Schultern im Bereich Betreuung und Erziehung verteilt. Pädagogische Einrichtungen benötigen Schutzkonzepte, an deren Entwicklung auch Kinder und Jugendliche zu beteiligen sind.
Die damit verbundenen Aufgaben insbesondere für die Kinder- und Jugendhilfe, zu denen auch die frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung zählen, hat der Staat gesetzlich geregelt.
Eine Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und ihres Schutzes ist auch ein Anliegen Gewaltbetroffener, die sich als Erwachsene an die Kirchen wenden. Doch es sind insbesondere ihre Berichte, die vor Augen führen, welche Bedeutung der beim Hearing 2018 angemahnten Fehleranalyse im Sinne der Aufarbeitung von Unrecht in den zurückliegenden Jahrzehnten zukommt. Sie kann zu einer fundierten Prävention beitragen.
Aufarbeitung: Zuhören und es-wissen-wollen
Doch Aufarbeitung ist keinesfalls ausschließlich ein Instrument gelingender Prävention. Die Forderung an beide Kirchen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, zielt auf die Veränderung von Haltung, Struktur, Kultur und Organisation. Sie erweist sich als berechtigter Anspruch derjenigen, denen Schutz und Integrität in der Kirche nicht gewährt wurde. Die Kommission formulierte dies als Recht auf Aufarbeitung für diejenigen, die in kirchlichen Einrichtungen von Gewalt betroffen waren, wie auch für jene, die in ihrer Herkunftsfamilie, in staatlichen Schulen, im Breiten- und Spitzensport, in Kliniken oder Kultureinrichtungen sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch erleben mussten und deren Leid durch das Versagen staatlicher Jugendämter und des Straf- und Familiengerichtswesens verlängert wurde.
Der Hinweis, dass doch die Familie der häufigste Tatort sei, taugt in diesem Zusammenhang nicht dafür, Fälle aus Schulen, Sportvereinen oder eben aus dem Kontext Kirche herunterzuspielen.
Die Aufarbeitungskommission hat angesichts dessen eine Empfehlung für die Vorgehensweise von Aufarbeitung in Institutionen erarbeitet und 2019 veröffentlicht. Aufarbeitung, so das Empfehlungspapier, muss unabhängig sein. Sie soll aufdecken, in welcher Kultur sexueller Kindesmissbrauch stattgefunden hat, welche Strukturen dazu beigetragen haben und wer von den Taten gewusst, aber sie nicht oder spät unterbunden hat. Aufarbeitung soll sichtbar machen, ob es unter den Verantwortlichen zum Zeitpunkt des Missbrauchs eine Haltung gab, die Gewalt begünstigte, und klären, ob und warum sie vertuscht, verdrängt oder verschwiegen wurde. Aufarbeitung ist mit dem Anspruch verbunden, einen Beitrag zu Anerkennung von Leid zu leisten, auf Versorgungslücken für erwachsene Betroffene hinzuweisen und die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Zentral für jede Aufarbeitung ist die Beteiligung von Betroffenen. Dadurch wird den Kirchen Deutungsmacht aus der Hand genommen.
Im Zentrum stehen die Zeugnisse betroffener Menschen und weiterer Zeitzeug:innen, so auch beim Hearing der Kommission zur Verantwortung der Kirchen 2018. Zeugenschaft benötigt ein Auditorium, in dem zugehört und geglaubt wird. Dazu beizutragen, war unter anderem die Bitte an den katholischen Bischof von Trier, Stephan Ackermann, und die Hamburger evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs. Vor einem Dialog mit Betroffenen geht es folglich darum, den Anspruch auf Deutungshoheit aufzugeben und die Berichte offen anzuhören. Daran anschließend stellen sich Fragen nach Schlussfolgerungen aus den Zeugnissen, nach möglichen Reformen und der Legitimität von Macht.
Dies alles sind Vorgänge, die Zeit benötigen. Zeit erweist sich allerdings als eine für unabhängige, sorgfältige Aufarbeitung äußerst herausfordernde Kategorie. So besteht in Aufarbeitungsprojekten beispielsweise ein zeitintensiver Klärungsbedarf über Fragen der Veröffentlichung und zum Äußerungs- und Persönlichkeitsrecht. Doch viele Betroffene sind aus nachvollziehbaren Gründen ungeduldig. Ihr Leben kann durch die sexualisierte Gewalt stark geprägt sein, immer wieder hat sie die Reaktion von Vertreter:innen der Kirchen zurückgeworfen in ihrer individuellen Aufarbeitung. Sie berichten von vielen Lebensstationen des Wartens auf Antwort. Menschen lange warten zu lassen, sie hinzuhalten, ist eine Form der Machtausübung und wird als solche auch von den Betroffenen wahrgenommen. Lutz, aus dessen Bericht oben zitiert wird, hatte bei der katholischen Kirche einen "Antrag auf Anerkennung des Leids" gestellt: "Lange hörte ich erst mal nichts."
Die Aufarbeitung von Gelegenheitsstrukturen für Täter und Täterinnen verweist auf kontextübergreifende Phänomene. Dazu zählen ihre Strategien, die Reaktion von Dritten im Umfeld, die schwache soziale Position der Kinder und Jugendlichen, deren Bedürfnis nach Zuwendung in Lebenskrisen von Tätern und Täterinnen ausgenutzt wurde, sowie Erkenntnisse über die Bedeutung des Geheimhaltungsdrucks und über die Schuld- und Schamgefühle aufseiten des Kindes. Diese zu untersuchen ist wichtig, aber es geht darüber hinaus darum, das Spezifische in unterschiedlichen Tatkontexten in den Blick zu nehmen. Die Historikerin Birgit Aschmann formuliert dies für die katholische Kirche als Untersuchung der "katholischen Dunkelräume". Analog dazu müssen auch die evangelischen Dunkelräume ausgeleuchtet werden.
Öffentlichkeit und Auseinandersetzung
Das Geschichtenportal der Aufarbeitungskommission dokumentiert, mit welcher Haltung Sportverbände, Familien, Schulen, aber auch die Kirchen Betroffenen begegnen.
"Nachdem die Medien in letzter Zeit oft über sexuellen Missbrauch in der Kirche berichten, habe ich mich wieder mit dem Verdrängten beschäftigt und den Entschluss gefasst, meine Jahre des Missbrauchs zu erzählen. Heute muss man sich alles anhören und mir Glauben schenken."
Ähnliches berichten Betroffene aus der evangelischen Kirche. Spätestens das Hearing 2018 hat vor Augen geführt, dass sexueller Kindesmissbrauch, seine Vertuschung und Verharmlosung sowie die Priorisierung des Institutionen- statt des Kinderschutzes in Deutschland keinesfalls nur die katholische Kirche betrifft. Frühzeitig haben sich auch Betroffene aus dem Tatkontext evangelische Kirche für vertrauliche Anhörungen bei der Kommission gemeldet.
Die katholische Kirche stand wegen der "Internationalisierung des Missbrauchsskandals" bereits früher unter dem Druck einer Aufarbeitung, zuerst in Irland und den USA und seit 2010 dann auch deutlicher in Deutschland.
Im Hinblick auf die katholische Kirche unterscheidet der Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg drei Phasen, in denen es auf der internationalen Bühne um die öffentliche Thematisierung sexueller Gewalt ging: Zunächst die Aufarbeitung und Berichterstattung, dann finanzielle und andere Formen der Entschädigung der Opfer und schließlich staatliche Reaktionen.
Einige Jahre vor der Gründung von SNAP war der "Doyle Report" erschienen, ein bis heute wichtiges Dokument, das aber zum Erscheinungszeitpunkt keine weitreichende Resonanz erfuhr.
Fälle von Ausbeutung, Erniedrigung und (sexueller) Gewalt, insbesondere in der Heimerziehung der katholischen Kirche, hatten ab den 1990er Jahren in Irland Aufmerksamkeit erhalten. Die in Auftrag gegebenen Untersuchungen und deren Berichtlegung, insbesondere der "Ryan Report" von 2009, waren Vorbild für die Diskussion über die Einrichtung einer Aufarbeitungskommission in Deutschland.
Für die katholische Kirche in jedem einzelnen Land ist zweifellos die Positionierung des Vatikans von großer Bedeutung. Hierzu lassen sich nur die öffentlich zugänglichen Informationen aufführen – ein weiteres Problem bisheriger Aufarbeitung, auf das auch Wilhelm Damberg hinweist.
In Deutschland gilt das Jahr 2010 als gesellschaftlicher Wendepunkt im Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch. Hierzu haben Betroffene wie Matthias Katsch und der damalige Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes SJ, beigetragen. 2018 wurde schließlich die sogenannte MHG-Studie veröffentlicht: Sie dokumentiert Fälle von 3677 betroffenen Kindern und 1670 Tätern innerhalb der katholischen Kirche.
Für die evangelische Kirche fehlt bislang eine auf Aufarbeitung konzentrierte Vereinbarung.
Nach dem Hearing der Aufarbeitungskommission beschloss die Synode der EKD im November 2018 einen 11-Punkte-Plan.
Merkmale von Kirche als Tatkontext
Birgit Aschmann plädiert für eine forschungsorientierte, interdisziplinäre Aufarbeitung.
In der Fallstudie wird zudem das Verhältnis von Kirche und Herkunftsfamilie entschlüsselt, denn in welchem Maße der Pfarrer für die Eltern betroffener Kinder eine nicht zu hinterfragende Autoritätsperson war, hat auch die Modi von Sprechen und Schweigen geprägt. Täter beider Kirchen nutzten insbesondere prekäre familiäre Konstellationen aus, weil diese Kinder und Jugendliche besonders bedürftig nach Aufmerksamkeit und Zuwendung werden lassen. Für beide Kirchen wird herausgestellt, dass die Praxis einer Bagatellisierung verbreitet war und Übergriffe allenfalls als Einzelfälle anerkannt wurden.
In beiden Kirchen gehört die Gemeinde zum konkreten Tatkontext, denn hier ergeben sich verschiedene Möglichkeiten des strategischen Annäherns an ein Kind. Doch die Analyse legt auch Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Dunkelräumen offen: In der katholischen Kirche ermöglicht der Ministrant:innendienst den Zugang zu jungen Kindern, in der evangelischen Kirche der Unterricht der Konfirmand:innen. Jugendliche, wie die oben zitierte Johanna, sind in einer Phase der Selbstzweifel und Orientierungssuche, sie sind zugleich begeisterungsfähig. Das wurde ausgenutzt.
Solche Erkenntnisse auf der Basis von Betroffenenberichten geben Hinweise auf Merkmale und Gelegenheitsstrukturen, die eine religiöse Konnotation haben. Sie verdeutlichen, wie nötig ein differenzierter Blick ist und wie sehr es darauf ankommt, die jeweilige Dynamik zwischen dem Phänomen Religion und der jeweiligen Organisation einer Kirche zu untersuchen. Einseitige Hinweise auf zölibatäres Leben hier oder liberale Sexualpädagogik dort erklären nur wenig. Die zahlreichen Facetten von Macht und Missbrauch in beiden Kirchen sind aufzudecken und einer substanziellen Kritik zuzuführen.
Unabhängige Aufarbeitung, der Zugang zu Archiven, die Möglichkeit der Zeugenschaft und echten Beteiligung von Betroffenen, die Veröffentlichung der Ergebnisse, Wiedergutmachung, Verantwortungsübernahme und der aufrichtige und entschiedene Wille zur Veränderung sind angesichts vorliegender Erkenntnisse das Gebot der Stunde. Auch Staat und Zivilgesellschaft haben eine Verantwortung dafür. Seit 2010 sind Betroffene immer wieder enttäuscht worden. Sie und andere stellen die Frage, ob die geforderte Fehleranalyse, die Aufarbeitung der "Dunkelräume", den Kirchen aus der Hand genommen werden müsste.
Auch ist die Sorge vielleicht nicht unbegründet, dass angesichts aktueller Krisen sexuelle Gewalt und die von ihr Betroffenen in den gesellschaftlichen und politischen "Dunkelräumen" verschwinden und damit die Kirchen in ihrer Deutungshoheit über Recht und Unrecht erneut Oberwasser erhalten. Ich empfehle die Lektüre der Berichte von Betroffenen auf dem Geschichtenportal der Unabhängigen Kommission