Wenig wirkt in Deutschland so stabil, wie das Verhältnis von Staat und Kirche. Den Eindruck könnte man zumindest gewinnen, wenn man nur die maßgeblichen Verfassungsbestimmungen betrachtet. Das Grundgesetz übernahm 1949 die relevanten Passagen aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Artikel 140 GG). Unser Religionsverfassungsrecht wurde also zu großen Teilen vor mehr als 100 Jahren formuliert.
Aber schon gleich nach Inkrafttreten der Bonner Verfassung wusste man, dass nicht zwingend dasselbe gemeint ist, wenn "zwei Grundgesetze dasselbe sagen".
Religiöse Individualisierung und Pluralisierung
Nach 1945 wurde der Nationalsozialismus in weiten Teilen zunächst als eine säkularistische Verirrung gedeutet. Exemplarisch steht dafür das Stuttgarter Schuldbekenntnis der evangelischen Kirchen. Der Abfall vom christlichen Gottesglauben mündete, so das Zeitverständnis, im Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus. Als probates Gegenmittel sah man eine christliche Tiefenimprägnierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft durch eine erstarkte Volkskirche.
Mitte der 1960er Jahre sollte dann der "koordinationsrechtliche Überschwang"
Doch ganz lassen wollte man von der Sonderstellung der Kirchen dann doch nicht. Immer wieder gab es Versuche, die Kirchen auf eine höhere Stufe zu stellen als andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Die Rede war von "gestufter Parität", in der das staatskirchliche Erbe und eine herausragende gesellschaftliche Bedeutung ins Feld geführt wurden, um weitreichende Ungleichbehandlungen zwischen den Kirchen und allen anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu rechtfertigen. Schnell machte das Bonmot Ernst-Wolfgang Böckenfördes Karriere, der freiheitliche Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantiere könne.
Nach und nach verlor auch dieses die 1970er und 1980er Jahre prägende Paradigma an Überzeugungskraft. Zu stark wirkten die transformativen Kräfte der Pluralisierung und Individualisierung.
Im Horizont solcher Entwicklungen kam es erneut zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der Rechtswissenschaft und in der Spruchpraxis der Gerichte. Zunehmend wurde reflektiert, welch beachtliche Verschiebungen sich durch Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung im Grundverständnis ergeben. Das beginnt bei der Bezeichnung des Rechtsgebietes: Aus dem "Staatskirchenrecht" wurde das "Religionsverfassungsrecht".
Säkularisierung
"Säkularisierung" gehört sicherlich zu den umstrittensten und vielschichtigsten Begriffen der politischen Ideengeschichte – jedenfalls, wenn man sie nicht mit "Säkularisation", der staatlichen Enteignung von Kirchen, gleichsetzt. Säkularisierung meint vielmehr die durch Um- und Abbrüche bestimmte, komplizierte Überführung theologischer in "säkulare" Denkungsarten.
Im Kontext religionsrechtlicher und -politischer Ordnungen spielt das nähere Verständnis von Religion eine zentrale Rolle: Wer Religion als etwas begreift, woran jemand "sein Herz hängt", als diffusen Sinn und Geschmack für das Unendliche, kennt im Grunde keine Säkularisierung. Wenn man den Religionsbegriff nur weit genug anlegt, hat am Ende jeder irgendeine Art von belief system. Solchen Positionen stehen diametral diejenigen gegenüber, die bloß auf Kirchenzugehörigkeit oder die Observanz autoritativ wirkender religiöser Gebote schauen. Sie nehmen nur ein ganz bestimmtes Spektrum an Religionskulturen überhaupt wahr.
Um beiden Extremen zu entgehen, ist es in der Religionssoziologie üblich, eine breite Facette an Indikatoren heranzuziehen, um Säkularisierungsprozesse zu erfassen.
Für die theoretischen Deutungen der religionsrechtlichen und -politischen Ordnung spielen Säkularisierungsprozesse vordergründig eine geringere Rolle als die beschriebenen Dynamiken der Pluralisierung und Individualisierung. Das mag auf den ersten Blick überraschen, ist die sozio-kulturelle Bedeutung der Säkularisierung doch enorm: Man vergleiche etwa die Religionslandschaft urbaner Räume oder östlicher Landstriche der 1920er Jahre mit der von heute, um eine Ahnung von den transformativen Kräften zu bekommen, die hier walten. Säkularisierungsprozesse betreffen Fragen individueller Lebensführung ebenso einschneidend wie die der gesamten Institutionenordnung.
Aber das normative Spannungsfeld, in dem sich liberaldemokratische Verfassungsstaaten verorten, ist in Sachen Säkularisierung und Säkularität recht verlässlich fixiert: Die moderne Demokratie folgt in ihren Legitimationsmustern einer säkularen Logik, doch sie kann sich keiner säkularistischen Agenda verschreiben, ohne ihres freiheitlichen Charakters verlustig zu gehen. Wie gesellschaftliche Säkularisierungsprozesse dann bei der genauen Gestaltung der religionsrechtlichen und -politischen Ordnung verarbeitet werden, ist weitgehend den demokratietypischen Aushandlungsprozessen überlassen. Ob etwa freien (traditionell: religiösen) Wohlfahrtsverbänden ein gewisser Vorrang als Leistungsanbietern im Sozialstaat gelassen wird oder sie in scharfen Wettbewerb mit gewinnorientierten Konkurrenten gesetzt werden; ob der Reformationstag (Norddeutschland) oder der internationale Frauentag (Berlin) als gesetzlicher Feiertag anerkannt wird; ob Regierungsmitglieder als Gäste publikumswirksam an religiösen Feiern teilnehmen; wie religiöse Belange in der Bauplanung oder im Immissionsschutzrecht berücksichtigt werden; welches Gewicht kirchlichen Stellungnahmen zu Gesetzgebungsvorhaben zukommt. All das ist, auch wenn man diese Konstellationen jeweils verfassungsrechtlich durchbuchstabieren kann, zunächst einmal eine Frage politischer Opportunität und demokratischer Selbstverständigung.
Schaut man sich die kirchlichen Perspektiven auf die Säkularität des liberalen Staates an, lassen sich wiederum drei Phasen ausmachen, mit Zäsuren in den 1960er und den 1990er Jahren: Zunächst hatten sich kirchliche Kreise nach 1945 teilweise noch schwer damit getan, dass sich demokratische politische Ordnungen ihrerseits radikal säkular begründen, nämlich mittels des Prinzips der Volkssouveränität. Weiterreichende Vorstellungen, nach denen der Staat etwa Bestandteil einer göttlichen Schöpfungsordnung ist, mögen Gläubige motivieren, loyale Staatsbürger zu sein. Als allgemeine Rechtfertigung staatlicher Machtausübung ist diese traditionelle theologische Vorstellung allerdings untauglich geworden. Auch eine Erwähnung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes vermag daran nichts zu ändern. Der kirchlicherseits empfundene Säkularisierungsdruck wurde zunächst aber durch die christlich-bikonfessionelle Homogenität der Nachkriegsgesellschaft und die politisch eingeräumte Sonderstellung der Kirchen abgemildert.
Bis Ende der 1960er Jahre kam es dann zu weitreichenden Prozessen der theologischen Aneignung liberaldemokratischen Gedankenguts in den politischen Ethiken beider Kirchen. Die katholische Weltkirche wandte sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der demokratischen Moderne zu. Die Evangelische Kirche in Deutschland brachte ihre Lernprozesse schließlich mit der sogenannten Demokratiedenkschrift auf den Punkt.
Solche religionspolitischen Argumentationsstrategien zur Legitimation kirchlicher Privilegierung verloren im Zuge der oben beschriebenen Prozesse der Pluralisierung und Individualisierung nach und nach an Plausibilität. Mit forcierter Pluralisierung wächst die Sensibilität für Diskriminierungen, und zugleich gerät Tradition als Begründung für Ungleichbehandlung unter Verdacht. In dem Maße, in dem religiöse Interessen qualitativ und quantitativ an Gewicht verlieren, wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in der demokratischen Gemeinwohlproduktion eine geringere Bedeutung spielen.
Zugleich sind mit der Abschaffung der Staatskirche (Artikel 140 GG in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 1 WRV) nicht nur Staatsreligionen, sondern auch antireligiöse Staatsweltanschauungen unterbunden. Staatliche Politik darf nicht zum gezielten "Treiber" gesellschaftlicher Säkularisierung werden; auch eine säkulare demokratische Mehrheit darf keine weltanschaulich-säkularistischen Politiken verfolgen. Die säkularer werdende Gesellschaft wird nicht zu einer religionsfreien Zone. Das wollte Jürgen Habermas mit der Rede von der "postsäkularen Gesellschaft" zum Ausdruck bringen.
Europäisierung
Fortschreitende nationenübergreifende Verflechtungen bedingen nicht nur Prozesse religiöser Pluralisierung, sondern prägen auch eine Überformung des nationalen Religionsrechts durch das Recht der Europäischen Union (EU).
Zwar wurde 2007 in das europäische Vertragswerk eigens eine Bestimmung aufgenommen, die verhindern sollte, dass die heterogenen religionsrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten direkt oder mittelbar europarechtlich harmonisiert werden (Art. 17 AEUV). Im 2000 erarbeiteten Grundrechtekatalog der EU sollten Klauseln Vorsorge treffen, dass die mitgliedstaatlichen Grundrechte, auch die vergleichsweise weit reichende Religionsfreiheit des Grundgesetzes, unbotmäßig durch die der EU verdrängt werden (Art. 51ff. EUGRCh). Doch wie diese Regularien genau zu verstehen sind und ob der EuGH mit ihnen politisch umsichtig und methodisch akribisch umzugehen weiß, darüber gehen die Expertenmeinungen weit auseinander.
Im Detail erweisen sich die Dinge oft als tückisch kompliziert: So hat die EU eine dezidierte Kompetenz für Antidiskriminierungsmaßnahmen (Artikel 19 AEUV). Auf dieser Grundlage hat sie Regeln für das Arbeitsleben beschlossen, die auch kirchliche Arbeitgeber oder religiöse Arbeitnehmer betreffen. Der EuGH legt das Recht nun dergestalt aus, dass religiösen Interessen in der Abwägung mit kollidierenden Anliegen erkennbar weniger Bedeutung beigemessen wird, als man das in Deutschland gewöhnt ist: Unternehmerisch begründete Neutralitätsverpflichtungen obsiegen über das Interesse einer gläubigen Muslima, ein Kopftuch am Arbeitsplatz tragen zu dürfen.
Schaut man sich die vom EuGH behandelten Fälle mit Religionsbezug in der Summe an, wird deutlich, welches Transformationspotenzial im Unionsrecht ungeachtet fehlender originärer EU-Kompetenzen für das Religionsrecht schlummert: Das Wettbewerbs- und Beihilferecht berührt die sozialstaatliche Leistungserbringung durch kirchliche Träger.
Nun kann man die einzelnen Entscheidungen des EuGH, wenn nicht in jedem Aspekt der Begründung, so doch im Ergebnis, durchaus nachvollziehen. Für religiös geprägte Sachverhalte, für die Kirchen wie für andere religiöse Organisationen, besteht keine Bereichsausnahme im Unionsrecht. Sie werden wie viele andere Felder, etwa Sport oder Kultur zumindest mittelbar vom Europarecht erfasst, obwohl die Union für sie keine Gesetzeskompetenz hat. Die EU hat dabei immer schon Wert darauf gelegt, Ausnahmeklauseln eng zu verstehen und restriktiv anzuwenden, um eine einheitliche und möglichst effektive Geltung des Unionsrechts sicherzustellen. Dieses hat sich stark aus der Logik der Marktfreiheiten und des Binnenmarktprojektes heraus entwickelt, sodass es gleichsam in seiner DNA liegt, unternehmerischen Freiheiten höheres Gewicht beizumessen, als dies mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte zu tun pflegen. Antidiskriminierungsfragen spielen im Unionsrecht über alle Politikfelder hinweg eine wichtigere Rolle als traditionell im deutschen Verfassungsrecht. Zudem ist das Unionsrecht als recht junge Rechtsordnung traditionsarm und gilt unmittelbar überstaatlich, weshalb es weit weniger als das mitgliedstaatliche Religionsrecht von historischen Pfadabhängigkeiten und spezifischen kollektiven Lernerfahrungen geprägt ist. Manche sehen darin auch eine Chance. Sie haben etwa die Interventionen des EuGH in Sachen kirchliches Arbeitsrecht als lange überfällig und geradezu befreiend erlebt.
Ausblick
Es spricht wenig dafür, dass die vorstehend aufgezeigten Dynamiken – Pluralisierung, Säkularisierung, Europäisierung – mit ihren Rückwirkungen auf die Praxis des deutschen Religionsrechts absehbar zum Erliegen kommen. Im Gegenteil: Die Großtrends zur Individualisierung auch des religiösen Lebens, zur migrationsbedingten Pluralisierung, zum religiösen Traditionsabbruch und zum Kirchenaustritt sowie zur europarechtlichen Überformung dürften sich eher noch verstärken. Gleichwohl hat die zwar im Detail fluide, in der Grundanlage aber doch religionsfreundliche, integrativ-kooperative Ordnung Bestand. Ein grundstürzender Systemwechsel hin zu scharfen Unterscheidungen zwischen einzelnen Religionskulturen, so eine typisch islamophob motivierte rechtspopulistische Forderung, oder zu einer streng laizistischen Ausrichtung, die Religion aus der Öffentlichkeit verdrängen will, ist absehbar nicht zu erwarten.
Mindestens drei Indikatoren tragen diese Prognose: Erstens hat die Politik hat seit den 2000er Jahren einige Mühen aufgewandt, um islamische Organisationsstrukturen mit ihren Eigenheiten in das kooperative Arrangement zu integrieren. Damit sollte auch dem Eindruck eklatanter, den Status quo delegitimierender Ungleichbehandlung entgegengewirkt werden. Zweitens sind Mehrheiten für eine grundlegende Verfassungsreform nicht in Sicht. Nachdem drittens sukzessive das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener durch zumeist römisch-katholische Geistliche und dessen Jahrzehnte währende systematische Verschleierung durch Kirchenleitungen bekannt wurden, fanden sich kaum politische Stimmen, die eine grundlegende Modifikationen im Verhältnis von Staat und Kirchen forderten.
Druck zu merklichen Änderungen dürfte sich somit nicht etwa aus einer strategischen Neuausrichtung staatlicher Politik ergeben, sondern schlicht aus der Entwicklung kirchlicher Mitgliederzahlen und daraus folgender schrumpfender Finanzkraft. Sie wird die zivilgesellschaftliche Leistungsfähigkeit der Kirchen dramatisch einschränken. Die größte organisatorische Herausforderung der Kirchen in den nächsten 20 Jahren besteht schlicht darin, mit Anstand zu schrumpfen. Die Halbierung der Mitglieder und Einnahmen setzt sie einem alle organisatorischen Verästelungen erfassenden Stresstest aus, der für das Verhältnis zum Staat wie zu anderen Teilen der Gesellschaft nicht folgenlos bleiben kann. Was das auf längere Zeit für die Gestalt des deutschen Religionsrechts bedeutet, zeichnet sich momentan nicht mal in Ansätzen ab.