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Pluralisierung – Säkularisierung – Europäisierung | Kirche in Deutschland | bpb.de

Kirche in Deutschland Editorial Kirche und ich: Sechs Standpunkte Verantwortung in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft Nichtreligiösität als Normalfall Berufen um der Menschen willen Kein "weißer Jesus"! Gemeinde als einladender, sicherer Raum Zwiegespalten Kirchen in Deutschland. Ein historischer Abriss Pluralisierung – Säkularisierung – Europäisierung. Dynamiken im Verhältnis von Staat und Kirche Für Schuld und Versagen Verantwortung übernehmen. Sexueller Kindesmissbrauch in der evangelischen und katholischen Kirche Gehorsam und Gewissen. Eine erste Bilanz des Synodalen Wegs Die Finanzierung der Kirchen in Deutschland. Gegenstand und Faktor kirchlicher Freiheit Sakralraumtransformation. Überlegungen zur Umnutzung von Kirchenbauten

Pluralisierung – Säkularisierung – Europäisierung Dynamiken im Verhältnis von Staat und Kirche

Hans Michael Heinig

/ 14 Minuten zu lesen

Das Religionsverfassungsrecht ist zu großen Teilen über 100 Jahre alt. Es befindet sich, seit jeher, im Wandel. Heute beschäftigen neue Fallkonstellationen die Rechtsprechung und reagieren auf gesellschaftliche Veränderungen.

Wenig wirkt in Deutschland so stabil, wie das Verhältnis von Staat und Kirche. Den Eindruck könnte man zumindest gewinnen, wenn man nur die maßgeblichen Verfassungsbestimmungen betrachtet. Das Grundgesetz übernahm 1949 die relevanten Passagen aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Artikel 140 GG). Unser Religionsverfassungsrecht wurde also zu großen Teilen vor mehr als 100 Jahren formuliert.

Aber schon gleich nach Inkrafttreten der Bonner Verfassung wusste man, dass nicht zwingend dasselbe gemeint ist, wenn "zwei Grundgesetze dasselbe sagen". Der Kontext des Normtextes und die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern sich. Auf beides reagiert das Recht: Rechtstexte werden anders interpretiert, neue Fallkonstellationen beschäftigen die Rechtsprechung, gewandelte normative Leitbilder prägen die Rechtspraxis. So unterliegen das politische System und die staatliche Verwaltung, Religionskulturen und kirchliche Organisationsformen, die gesellschaftlichen Moralvorstellungen und Idealbilder gelingenden sozialen Lebens fortwährenden, mehr oder weniger tiefgreifenden Wandlungen. Folglich transformiert sich unter der Hand trotz gleichlautender Verfassungsnormen auch das Verhältnis von Staat und Kirchen.

Religiöse Individualisierung und Pluralisierung

Nach 1945 wurde der Nationalsozialismus in weiten Teilen zunächst als eine säkularistische Verirrung gedeutet. Exemplarisch steht dafür das Stuttgarter Schuldbekenntnis der evangelischen Kirchen. Der Abfall vom christlichen Gottesglauben mündete, so das Zeitverständnis, im Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus. Als probates Gegenmittel sah man eine christliche Tiefenimprägnierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft durch eine erstarkte Volkskirche. Das christliche Naturrecht erfuhr eine Renaissance bis hin in die höchstgerichtliche Rechtsprechung. Die bundesdeutsche Lehre aus der NS-Zeit verzichtete also zunächst darauf, moderne Pluralismuskonzeptionen oder eine dezidiert individualistische Grundhaltung aufzunehmen. In dieser Fluchtlinie bewegte sich auch die Umdeutung der in das Grundgesetz übernommenen Weimarer Religionsnormen: Staat und Kirche begegneten sich, so die Vorstellung der sogenannten Koordinationslehre, auf Augenhöhe. Den Kirchen wurde ein quasi-souveräner Status zugestanden. Staat und Kirche hätten mit den gleichen "Untertanen" zu tun und müssten sich deshalb koordinieren. Staatskirchenverträge und Konkordate wurden zum bevorzugten Handlungsinstrument, um die Beziehungen zwischen ihnen zu gestalten. Minderheitenreligionen und Weltanschauungen wurden weitgehend ignoriert. Im expandierenden Wohlfahrtsstaat wurde den kirchlichen Trägern breiter Entfaltungsraum eingeräumt. Auf einfachgesetzlicher Ebene bildeten sich zahlreiche Sonderklauseln in einer Vielzahl von Einzelfeldern heraus, vom Arbeitsrecht über das Bildungsrecht bis hin zum Denkmalschutzrecht, die der angesonnenen besonderen Stellung der Kirche Rechnung tragen sollten.

Mitte der 1960er Jahre sollte dann der "koordinationsrechtliche Überschwang" enden. Es kam in der Rechtswissenschaft, in der gerichtlichen Spruchpraxis und im politischen Kräftespiel zu erheblichen Verschiebungen: Kirchenaustritte wurden erstmals zum Thema. Moderne Rechtstheorien gewannen gegenüber dem Naturrechtsdenken die Oberhand. Die Kirchen erschienen nicht mehr als staatsanaloge Sondermacht. Vielmehr betrachtete man sie als dem demokratischen Gesetzgeber unterworfene, zugleich verfassungsrechtlich in ihrer Unabhängigkeit geschützte und insoweit mit anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften vergleichbare Organisationen. Bezeichnend war die Titelgebung für die Staatsrechtslehrertagung 1967: Die Kirchen standen "unter dem Grundgesetz", nicht über oder neben der Verfassung. Verfassungsrechtlich gesehen waren sie weniger Heilsanstalt oder Ordnungsmacht als vielmehr Produkt der religiösen Vereinigungsfreiheit ihrer Mitglieder.

Doch ganz lassen wollte man von der Sonderstellung der Kirchen dann doch nicht. Immer wieder gab es Versuche, die Kirchen auf eine höhere Stufe zu stellen als andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Die Rede war von "gestufter Parität", in der das staatskirchliche Erbe und eine herausragende gesellschaftliche Bedeutung ins Feld geführt wurden, um weitreichende Ungleichbehandlungen zwischen den Kirchen und allen anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu rechtfertigen. Schnell machte das Bonmot Ernst-Wolfgang Böckenfördes Karriere, der freiheitliche Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantiere könne. In der öffentlichen Wahrnehmung entwickelte sich daraus die Überzeugung, die Kirchen lieferten die Ethos-Ressourcen, auf die die moderne Demokratie angewiesen sei. Deshalb müsse der Staat die Kirchen finanziell fördern, mit ihnen bei der Wahrnehmung sozial- und kulturstaatlicher Aufgaben eng kooperieren und ihnen weitreichende Freiheitsräume zugestehen.

Nach und nach verlor auch dieses die 1970er und 1980er Jahre prägende Paradigma an Überzeugungskraft. Zu stark wirkten die transformativen Kräfte der Pluralisierung und Individualisierung. Religionskulturen veränderten sich. Kirchliche Dogmen und Amtsträger verloren an der ihnen selbstverständlich zugesprochenen Autorität. Glauben wurde zwar nicht zur Privatsache, aber doch zu einer höchstpersönlichen Angelegenheit, die trotz kirchlicher Bindung Synkretismen aller Art und religiöse Patchwork-Identitäten ganz selbstverständlich einschließt. Zudem veränderte seit den 1960er Jahren Arbeitsmigration und später dann auch Fluchtmigration die religiöse Landschaft in Deutschland. Der Islam in seinen vielfältigen Ausprägungen gewann an Relevanz.

Im Horizont solcher Entwicklungen kam es erneut zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der Rechtswissenschaft und in der Spruchpraxis der Gerichte. Zunehmend wurde reflektiert, welch beachtliche Verschiebungen sich durch Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung im Grundverständnis ergeben. Das beginnt bei der Bezeichnung des Rechtsgebietes: Aus dem "Staatskirchenrecht" wurde das "Religionsverfassungsrecht". Die Religionsfreiheit, zuvorderst in ihrer individual- und minderheitsschützenden Dimension, gewann gegenüber institutionell geprägten Bestimmungen an Bedeutung. Typische Anerkennungskämpfe in einer Migrationsgesellschaft, die nach ihrem vorherrschenden politischen Selbstverständnis lange Zeit kein Einwanderungsland sein wollte, wurden in gerichtlichen Foren ausgetragen: Kopftuchtragende Lehrerinnen, religiös begründete Schulbefreiungen oder das Schächten wurden zu intensiv und breit diskutierten Rechtsfällen. Die staatskirchenrechtliche "Schlacke" der Bonner Republik wurde nach und nach abgetragen – und das zukunftsweisende pluralistische Grundanliegen der Weimarer Nationalversammlung quasi wiederentdeckt: Denn 1919 suchten maßgebliche politische Kräfte nach einer Verfassungsordnung für gleichsam imaginierte religionspluralistische Verhältnisse, die es damals faktisch nur in marginalen Ansätzen gab. Bewusst sprach die Weimarer Verfassung nicht von Kirchen, sondern von Religions- und Weltanschauungsgesellschaften. Alle Religionen sollten "gleicher Ehre sein", hieß es damals. Man zielte auf ein Trennungsmodell, das sich von der französischen Laizität unterscheidet, indem es das bikonfessionelle Arrangement mit seinen Wurzeln bis hin zum Westfälischen Frieden von 1648 pluralitätsgerecht fortschreibt. Gleiche Rechte für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der freiheitsrechtlich geschützten Entfaltung und staatlichen Kooperation lautete der Grundgedanke, der doch bemerkenswert aktuell und zeitgerecht erscheint.

Säkularisierung

"Säkularisierung" gehört sicherlich zu den umstrittensten und vielschichtigsten Begriffen der politischen Ideengeschichte – jedenfalls, wenn man sie nicht mit "Säkularisation", der staatlichen Enteignung von Kirchen, gleichsetzt. Säkularisierung meint vielmehr die durch Um- und Abbrüche bestimmte, komplizierte Überführung theologischer in "säkulare" Denkungsarten. Geradezu klassisch ist der Streit, ob Säkularisierung eine radikale Zäsur bedeutet oder eine Transformation, Überschreibung oder Übersetzung theologischer Sinngehalte in "weltliche" meint.

Im Kontext religionsrechtlicher und -politischer Ordnungen spielt das nähere Verständnis von Religion eine zentrale Rolle: Wer Religion als etwas begreift, woran jemand "sein Herz hängt", als diffusen Sinn und Geschmack für das Unendliche, kennt im Grunde keine Säkularisierung. Wenn man den Religionsbegriff nur weit genug anlegt, hat am Ende jeder irgendeine Art von belief system. Solchen Positionen stehen diametral diejenigen gegenüber, die bloß auf Kirchenzugehörigkeit oder die Observanz autoritativ wirkender religiöser Gebote schauen. Sie nehmen nur ein ganz bestimmtes Spektrum an Religionskulturen überhaupt wahr.

Um beiden Extremen zu entgehen, ist es in der Religionssoziologie üblich, eine breite Facette an Indikatoren heranzuziehen, um Säkularisierungsprozesse zu erfassen. Dazu gehört die Institutionenbindung, die Teilnahme an religiös organisierten Riten und die Entwicklung der Mitgliederzahlen ebenso wie Verschiebungen in den individuellen und familiären Frömmigkeitspraktiken oder in den Bildern, die sich Menschen vom Transzendenten machen (Gottesbilder, transzendente Kräfte). In der Langzeitbeobachtung zeigen alle Indikatoren, konfessions- und religionsübergreifend, dass die Verweltlichung des sozialen Alltags, der Festkultur oder der biografischen Übergänge in neue Lebensphasen mit wachsender Geschwindigkeit zunimmt, wobei es sich jedoch nicht um einen linearen Prozess handelt.

Für die theoretischen Deutungen der religionsrechtlichen und -politischen Ordnung spielen Säkularisierungsprozesse vordergründig eine geringere Rolle als die beschriebenen Dynamiken der Pluralisierung und Individualisierung. Das mag auf den ersten Blick überraschen, ist die sozio-kulturelle Bedeutung der Säkularisierung doch enorm: Man vergleiche etwa die Religionslandschaft urbaner Räume oder östlicher Landstriche der 1920er Jahre mit der von heute, um eine Ahnung von den transformativen Kräften zu bekommen, die hier walten. Säkularisierungsprozesse betreffen Fragen individueller Lebensführung ebenso einschneidend wie die der gesamten Institutionenordnung.

Aber das normative Spannungsfeld, in dem sich liberaldemokratische Verfassungsstaaten verorten, ist in Sachen Säkularisierung und Säkularität recht verlässlich fixiert: Die moderne Demokratie folgt in ihren Legitimationsmustern einer säkularen Logik, doch sie kann sich keiner säkularistischen Agenda verschreiben, ohne ihres freiheitlichen Charakters verlustig zu gehen. Wie gesellschaftliche Säkularisierungsprozesse dann bei der genauen Gestaltung der religionsrechtlichen und -politischen Ordnung verarbeitet werden, ist weitgehend den demokratietypischen Aushandlungsprozessen überlassen. Ob etwa freien (traditionell: religiösen) Wohlfahrtsverbänden ein gewisser Vorrang als Leistungsanbietern im Sozialstaat gelassen wird oder sie in scharfen Wettbewerb mit gewinnorientierten Konkurrenten gesetzt werden; ob der Reformationstag (Norddeutschland) oder der internationale Frauentag (Berlin) als gesetzlicher Feiertag anerkannt wird; ob Regierungsmitglieder als Gäste publikumswirksam an religiösen Feiern teilnehmen; wie religiöse Belange in der Bauplanung oder im Immissionsschutzrecht berücksichtigt werden; welches Gewicht kirchlichen Stellungnahmen zu Gesetzgebungsvorhaben zukommt. All das ist, auch wenn man diese Konstellationen jeweils verfassungsrechtlich durchbuchstabieren kann, zunächst einmal eine Frage politischer Opportunität und demokratischer Selbstverständigung.

Schaut man sich die kirchlichen Perspektiven auf die Säkularität des liberalen Staates an, lassen sich wiederum drei Phasen ausmachen, mit Zäsuren in den 1960er und den 1990er Jahren: Zunächst hatten sich kirchliche Kreise nach 1945 teilweise noch schwer damit getan, dass sich demokratische politische Ordnungen ihrerseits radikal säkular begründen, nämlich mittels des Prinzips der Volkssouveränität. Weiterreichende Vorstellungen, nach denen der Staat etwa Bestandteil einer göttlichen Schöpfungsordnung ist, mögen Gläubige motivieren, loyale Staatsbürger zu sein. Als allgemeine Rechtfertigung staatlicher Machtausübung ist diese traditionelle theologische Vorstellung allerdings untauglich geworden. Auch eine Erwähnung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes vermag daran nichts zu ändern. Der kirchlicherseits empfundene Säkularisierungsdruck wurde zunächst aber durch die christlich-bikonfessionelle Homogenität der Nachkriegsgesellschaft und die politisch eingeräumte Sonderstellung der Kirchen abgemildert.

Bis Ende der 1960er Jahre kam es dann zu weitreichenden Prozessen der theologischen Aneignung liberaldemokratischen Gedankenguts in den politischen Ethiken beider Kirchen. Die katholische Weltkirche wandte sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der demokratischen Moderne zu. Die Evangelische Kirche in Deutschland brachte ihre Lernprozesse schließlich mit der sogenannten Demokratiedenkschrift auf den Punkt. Die Kirchen wurden, anders als in Weimar, maßgebliche intermediäre Stützen des Grundgesetzes, zu Orten demokratischer Bildung und vielfältigen zivilgesellschaftlichen Engagements. Bis in die 1980er Jahre schwang aber auch noch die Idee einer gewissen "Kulturschuld" mit. Wiederum kristallisierten sich solche Vorstellungen um das oben zitierte Böckenförde-Diktum: Wenn der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, ist er denen, die über die nötigen Ethos-Ressourcen "verfügen", zu Wohlwollen und Entgegenkommen verpflichtet. Versteht man Säkularisierung als Um- und Fortschreibung religiöser Denktraditionen, hat der säkularisierte Staat die (christliche) Religion gleichsam immer noch in seinem Rücken.

Solche religionspolitischen Argumentationsstrategien zur Legitimation kirchlicher Privilegierung verloren im Zuge der oben beschriebenen Prozesse der Pluralisierung und Individualisierung nach und nach an Plausibilität. Mit forcierter Pluralisierung wächst die Sensibilität für Diskriminierungen, und zugleich gerät Tradition als Begründung für Ungleichbehandlung unter Verdacht. In dem Maße, in dem religiöse Interessen qualitativ und quantitativ an Gewicht verlieren, wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in der demokratischen Gemeinwohlproduktion eine geringere Bedeutung spielen.

Zugleich sind mit der Abschaffung der Staatskirche (Artikel 140 GG in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 1 WRV) nicht nur Staatsreligionen, sondern auch antireligiöse Staatsweltanschauungen unterbunden. Staatliche Politik darf nicht zum gezielten "Treiber" gesellschaftlicher Säkularisierung werden; auch eine säkulare demokratische Mehrheit darf keine weltanschaulich-säkularistischen Politiken verfolgen. Die säkularer werdende Gesellschaft wird nicht zu einer religionsfreien Zone. Das wollte Jürgen Habermas mit der Rede von der "postsäkularen Gesellschaft" zum Ausdruck bringen. Die religiöse Option der Lebensführung wird weiterhin durch die Religionsfreiheit geschützt, und organisierte Religion bleibt ein wichtiger Faktor im öffentlichen Leben – zum Guten, etwa in Gestalt eines religiös motivierten Altruismus, wie zum Schlechten, etwa in Gestalt heiß laufender Religionskonflikte.

Europäisierung

Fortschreitende nationenübergreifende Verflechtungen bedingen nicht nur Prozesse religiöser Pluralisierung, sondern prägen auch eine Überformung des nationalen Religionsrechts durch das Recht der Europäischen Union (EU). Als gewichtiger Treiber der Europäisierung des deutschen religionsverfassungsrechtlichen Systems hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) positioniert.

Zwar wurde 2007 in das europäische Vertragswerk eigens eine Bestimmung aufgenommen, die verhindern sollte, dass die heterogenen religionsrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten direkt oder mittelbar europarechtlich harmonisiert werden (Art. 17 AEUV). Im 2000 erarbeiteten Grundrechtekatalog der EU sollten Klauseln Vorsorge treffen, dass die mitgliedstaatlichen Grundrechte, auch die vergleichsweise weit reichende Religionsfreiheit des Grundgesetzes, unbotmäßig durch die der EU verdrängt werden (Art. 51ff. EUGRCh). Doch wie diese Regularien genau zu verstehen sind und ob der EuGH mit ihnen politisch umsichtig und methodisch akribisch umzugehen weiß, darüber gehen die Expertenmeinungen weit auseinander.

Im Detail erweisen sich die Dinge oft als tückisch kompliziert: So hat die EU eine dezidierte Kompetenz für Antidiskriminierungsmaßnahmen (Artikel 19 AEUV). Auf dieser Grundlage hat sie Regeln für das Arbeitsleben beschlossen, die auch kirchliche Arbeitgeber oder religiöse Arbeitnehmer betreffen. Der EuGH legt das Recht nun dergestalt aus, dass religiösen Interessen in der Abwägung mit kollidierenden Anliegen erkennbar weniger Bedeutung beigemessen wird, als man das in Deutschland gewöhnt ist: Unternehmerisch begründete Neutralitätsverpflichtungen obsiegen über das Interesse einer gläubigen Muslima, ein Kopftuch am Arbeitsplatz tragen zu dürfen. Die Kirchen wiederum dürfen bei der Personalauswahl ihre theologischen Vorstellungen einer "Dienstgemeinschaft" nur noch mit erheblichen Einschränkungen umsetzen. Gerade beim kirchlichen Arbeitsrecht vermissen manche im EuGH die Sensibilität dafür, dass hier theologische Fragen des Kircheseins berührt werden und die Justiz in der Gefahr steht, säkularitätswidrig eigene religiöse Vorstellungen zugrunde zu legen. Das Bundesverfassungsgericht war sich dieser Problematik einer unbotmäßigen Richtertheologie immer allzu bewusst. Doch es wird inzwischen aus seiner prägenden Rolle für die religionsrechtliche Ordnung in Deutschland ein Stück weit verdrängt. Dazu trägt auch bei, dass der EuGH den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte weit versteht. Hierdurch müssen herkömmliche Wertungen des deutschen Religionsverfassungsrechts zurücktreten, wenn ein Fall einen Anknüpfungspunkt zum Unionsrecht bietet.

Schaut man sich die vom EuGH behandelten Fälle mit Religionsbezug in der Summe an, wird deutlich, welches Transformationspotenzial im Unionsrecht ungeachtet fehlender originärer EU-Kompetenzen für das Religionsrecht schlummert: Das Wettbewerbs- und Beihilferecht berührt die sozialstaatliche Leistungserbringung durch kirchliche Träger. Das Datenschutzrecht ist volleuropäisiert – mit potenziellen Folgen etwa für missionarische Tätigkeiten. Grundlegende Abwägungsentscheidungen im kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland wurden seitens des EuGH unter Verweis auf das EU-Antidiskriminierungsrecht revidiert.

Nun kann man die einzelnen Entscheidungen des EuGH, wenn nicht in jedem Aspekt der Begründung, so doch im Ergebnis, durchaus nachvollziehen. Für religiös geprägte Sachverhalte, für die Kirchen wie für andere religiöse Organisationen, besteht keine Bereichsausnahme im Unionsrecht. Sie werden wie viele andere Felder, etwa Sport oder Kultur zumindest mittelbar vom Europarecht erfasst, obwohl die Union für sie keine Gesetzeskompetenz hat. Die EU hat dabei immer schon Wert darauf gelegt, Ausnahmeklauseln eng zu verstehen und restriktiv anzuwenden, um eine einheitliche und möglichst effektive Geltung des Unionsrechts sicherzustellen. Dieses hat sich stark aus der Logik der Marktfreiheiten und des Binnenmarktprojektes heraus entwickelt, sodass es gleichsam in seiner DNA liegt, unternehmerischen Freiheiten höheres Gewicht beizumessen, als dies mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte zu tun pflegen. Antidiskriminierungsfragen spielen im Unionsrecht über alle Politikfelder hinweg eine wichtigere Rolle als traditionell im deutschen Verfassungsrecht. Zudem ist das Unionsrecht als recht junge Rechtsordnung traditionsarm und gilt unmittelbar überstaatlich, weshalb es weit weniger als das mitgliedstaatliche Religionsrecht von historischen Pfadabhängigkeiten und spezifischen kollektiven Lernerfahrungen geprägt ist. Manche sehen darin auch eine Chance. Sie haben etwa die Interventionen des EuGH in Sachen kirchliches Arbeitsrecht als lange überfällig und geradezu befreiend erlebt.

Ausblick

Es spricht wenig dafür, dass die vorstehend aufgezeigten Dynamiken – Pluralisierung, Säkularisierung, Europäisierung – mit ihren Rückwirkungen auf die Praxis des deutschen Religionsrechts absehbar zum Erliegen kommen. Im Gegenteil: Die Großtrends zur Individualisierung auch des religiösen Lebens, zur migrationsbedingten Pluralisierung, zum religiösen Traditionsabbruch und zum Kirchenaustritt sowie zur europarechtlichen Überformung dürften sich eher noch verstärken. Gleichwohl hat die zwar im Detail fluide, in der Grundanlage aber doch religionsfreundliche, integrativ-kooperative Ordnung Bestand. Ein grundstürzender Systemwechsel hin zu scharfen Unterscheidungen zwischen einzelnen Religionskulturen, so eine typisch islamophob motivierte rechtspopulistische Forderung, oder zu einer streng laizistischen Ausrichtung, die Religion aus der Öffentlichkeit verdrängen will, ist absehbar nicht zu erwarten.

Mindestens drei Indikatoren tragen diese Prognose: Erstens hat die Politik hat seit den 2000er Jahren einige Mühen aufgewandt, um islamische Organisationsstrukturen mit ihren Eigenheiten in das kooperative Arrangement zu integrieren. Damit sollte auch dem Eindruck eklatanter, den Status quo delegitimierender Ungleichbehandlung entgegengewirkt werden. Zweitens sind Mehrheiten für eine grundlegende Verfassungsreform nicht in Sicht. Nachdem drittens sukzessive das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener durch zumeist römisch-katholische Geistliche und dessen Jahrzehnte währende systematische Verschleierung durch Kirchenleitungen bekannt wurden, fanden sich kaum politische Stimmen, die eine grundlegende Modifikationen im Verhältnis von Staat und Kirchen forderten. Angesichts der Monstrosität der im Raum stehenden Vorwürfe ist dieses Verhalten nicht ganz einfach zu erklären. Mittelfristig und mittelbar könnte der Missbrauchsskandal zu einem Verlust staatskirchenrechtlicher Selbstverständlichkeiten beitragen. Harsche unmittelbare politische Sanktionen blieben aber aus.

Druck zu merklichen Änderungen dürfte sich somit nicht etwa aus einer strategischen Neuausrichtung staatlicher Politik ergeben, sondern schlicht aus der Entwicklung kirchlicher Mitgliederzahlen und daraus folgender schrumpfender Finanzkraft. Sie wird die zivilgesellschaftliche Leistungsfähigkeit der Kirchen dramatisch einschränken. Die größte organisatorische Herausforderung der Kirchen in den nächsten 20 Jahren besteht schlicht darin, mit Anstand zu schrumpfen. Die Halbierung der Mitglieder und Einnahmen setzt sie einem alle organisatorischen Verästelungen erfassenden Stresstest aus, der für das Verhältnis zum Staat wie zu anderen Teilen der Gesellschaft nicht folgenlos bleiben kann. Was das auf längere Zeit für die Gestalt des deutschen Religionsrechts bedeutet, zeichnet sich momentan nicht mal in Ansätzen ab.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rudolf Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951), in: Hans Michael Heinig/Hendrik Munsonius/Jens Reisgies (Hrsg.), Abhandlungen zum Kirchen- und Staatskirchenrecht, Tübingen 2019, S. 3.

  2. Vgl. Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland, München 1995, S. 305.

  3. Vgl. Lena Foljanty, Recht oder Gesetz, Tübingen 2013.

  4. Im Überblick mit weiteren Nachweisen Hans Michael Heinig, Prekäre Ordnungen, Tübingen 2018, S. 50ff.

  5. Axel von Campenhausen, Die Kirchen unter dem Grundgesetz 1949–1989, in: Rudolf Morsey/Konrad Repgen (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, Paderborn 1989, S. 71–93, hier S. 74.

  6. Zur damaligen Debattenlage etwa Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Darmstadt 1962.

  7. Vgl. Martin Heckel/Alexander Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, Berlin 1968, S. 5–106.

  8. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/M. 1991, S. 92–114, hier S. 112.

  9. Vgl. Detlef Pollack, Religion und gesellschaftliche Differenzierung, Tübingen 2016, S. 168ff.

  10. Exemplarisch für die Debatte Hans Michael Heinig/Christian Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, Tübingen 2007.

  11. Vgl. Matthias Koenig, Gerichte als Arenen religiöser Anerkennungskämpfe, in: Astrid Reuter/Hans G. Kippenberg (Hrsg.), Religionskonflikte im Verfassungsstaat, Göttingen 2010, S. 144–164.

  12. Vgl. Folkart Wittekind, Welche Religionsgemeinschaften sollen Körperschaften des öffentlichen Rechts sein?, in: Günter Brakelmann/Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen (Hrsg.), Auf dem Weg zum Grundgesetz, Münster 1999, S. 77–97.

  13. Vgl. Hans Michael Heinig, Säkularisierung/Säkularisation, in: Martin Honecker et al. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 2001, Spalte 1364–1371.

  14. Vgl. Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne, Frankfurt/M.–New York 20222.

  15. Vgl. ebd.

  16. Vgl. Reiner Anselm, Politische Ethik, in: Wolfgang Huber/Torsten Meireis/Hans-Richard Reuter (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, S. 195–264, hier: S. 221–230.

  17. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt/M. 2001, S. 13.

  18. Neben der im Weiteren skizzierten unionsrechtlichen Europäisierung sei hier auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als eine weitere, von der EU unabhängige völkerrechtliche Schicht verwiesen. Zum Überblick etwa Angelika Nussberger, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Lösung von Konflikten in multireligiösen Gesellschaften, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 4/2017, S. 419–439.

  19. Vgl. EuGH, Urteil vom 14.3.2017 – C-157/15 – Achbita/G4S Secure Solutions; ders., Urteil vom 14.3.2017 – C-188/15 – Bougnaoui und ADDH; mit leicht anderer Akzentsetzung: ders., Urteil vom 15.7.2021 – C-804/18 und C-341/19 – WABE und MH Müller Handel.

  20. Vgl. ders., Urteil vom 17.4.2018 – C-414/16 – Egenberger; ders., Urteil vom 11.9.2018 – C-68/17 – IR.

  21. Vgl. ders., Urteil vom 27.6.2017 – C-74/16 – Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania.

  22. Vgl. ders., Urteil vom 10.7.2018 – C-25/17 – Jehovan todistajat.

  23. Vgl. ders. (Anm. 20).

  24. Zur Relevanz der Missbrauchsdebatte für die weitere Ausgestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses jüngst Isabelle Ley/Tine Stein/Georg Essen (Hrsg.), Semper reformanda, Freiburg/Br. 2023.

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ist Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Georg-August-Universität Göttingen.
E-Mail Link: ls.heinig@jura.uni-goettingen.de