Meine Jugend war von Mobbing und Ausgrenzung geprägt, die Schule war für mich die Hölle auf Erden. Meine Freie evangelische Gemeinde kam mir dagegen vor wie ein Stück Himmel: Hier wurde ich nicht ausgelacht und nicht ausgegrenzt, hier wurde ich respektiert und geliebt. Erwachsene und Gleichaltrige fragten nach meiner Meinung, nahmen sich Zeit für mich und ließen mich Verantwortung übernehmen. Man hat mir von einem barmherzigen Gott erzählt, von Jesus, der mich bedingungslos liebt. Das half mir, auch mit den dunklen Gedanken umzugehen, über die ich als Jugendlicher mit niemandem reden wollte. Meine Gemeinde war jung und divers – Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Prägungen, mit ganz verschiedenen Interessen, waren hier zusammen. Das war nicht immer einfach und glatt. Doch uns verband etwas, das mehr wiegt als gemeinsame Hobbys oder politische Ansichten: der gemeinsame Glaube an den dreieinen Gott. Dabei glaubten wir gar nicht alle genau gleich – auch die Gottesbeziehung der einzelnen Menschen war so unterschiedlich wie sie selbst. Ich wurde darin unterstützt, nicht einfach alles nachzumachen, sondern meinen eigenen Weg im Glauben zu gehen. Mit 17 Jahren wollte ich verbindlich dazugehören, ließ mich taufen und wurde Gemeindemitglied.
Zu schön, um wahr zu sein? Mir ist bewusst, dass viele Menschen Kirche nicht positiv erleben, sondern ausgrenzend, einengend, missbräuchlich. Mit den Jahren habe ich selbst auch Verletzungen erlebt. Und auch ich habe Menschen verletzt. Ich glaube: Je näher man sich ist, desto eher kann so etwas passieren. Ich vergleiche Gemeinde daher gerne mit Familie: Familie kann der sicherste und schönste Ort der Welt sein – aber auch voller Streit und Gewalt. Romantisierung ist weder für Familie noch für Gemeinde hilfreich. Besser ehrlich und authentisch sein: Wir sind Menschen, wir machen Fehler und übernehmen Verantwortung – und wir stehen immer wieder auf und sind füreinander da.
Ich darf als theologischer Laie mit meinen persönlichen Begabungen und Interessen mitarbeiten: Gottesdienste liturgisch gestalten, predigen, Menschen segnen, Gesprächsgruppen leiten, in der Gemeindeleitung mitarbeiten, unsere Gemeinde in überregionalen Gremien vertreten und vieles mehr. Ich bringe meine eigene Note ein und andere tun das auch. Wir versuchen das zu leben, was die Bibel "Priestertum aller Glaubenden" nennt. Dennoch profitieren wir sehr von unseren Hauptamtlichen mit ihrer fundierten theologischen Ausbildung.
Wir legen in meiner Freikirche Wert auf eine freiwillige Mitgliedschaft. Diese bewusste persönliche Entscheidung führt auch zu einer großen Verbundenheit. Die Ortsgemeinden sind eigenständig und dadurch sehr unterschiedlich. Einen hohen Stellenwert hat bei uns das persönliche Gewissen, was in einer Zeit der zunehmenden Polarisierung und dem Wunsch nach einfachen Antworten umso wichtiger ist und immer wieder verteidigt werden will.
Ich wurde vor kurzem über Instagram gefragt, woran man eine "gute" Gemeinde erkennt. Ausgehend von meinen oben beschriebenen Erfahrungen und Überlegungen habe ich es so formuliert: Eine gute Gemeinde ist – unabhängig von der Konfession – eine, in der das Evangelium gepredigt wird: Dass Gott uns Menschen liebt. Eine gute Gemeinde ist nicht perfekt – aber die Menschen ringen um den richtigen Umgang miteinander, geben nicht so schnell auf, lernen und verzeihen. Eine gute Gemeinde ist ein offener, einladender und sicherer Raum des Lebens und Glaubens – oder arbeitet daran, einer zu werden. Und sie ist ein Ort, an dem Verletzungen heilen dürfen.
Meine Hoffnung ist, dass Kirche neben allem wichtigen sozialen und kulturellen Engagement auch als genau dieser Ort in die Gesellschaft hineinwirken kann: Ein Ort, an dem Grenzen zwischen Menschen überwunden werden und Versöhnung möglich wird.