Was Kirche für mich bedeutet, fällt mir nicht leicht zu beantworten. Trotz der für eine Theologiestudentin typischen Biografie: Angefangen bei der Kinderkirche, zu der mich meine Großmutter brachte, einer prägenden Konfirmationsunterrichtszeit, etlichen Jugendfreizeiten und Engagement in der kirchlichen Jugend, inklusive der Leitung von Kinder- und Mädchengruppen. Mein Verhältnis zur Kirche bleibt von Widersprüchen und Gleichzeitigkeiten geprägt. Nicht die Tatsache, dass ich trotz atheistischem Vater und katholischer Mutter Teil der Evangelischen Landeskirche bin, erzeugte bei mir ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl; es war mein Schwarzsein.
Die Evangelischen Landeskirchen sind weiße Institutionen. Und obgleich in Kirche von Nächstenliebe und der Gemeinschaft aller in Christi gepredigt wird, ist und war die Institution für mich und meine BPoC-Geschwister (Black and Persons of Color) nicht immer ein sicherer Ort. Ein Ort, wo wir selbstverständlich willkommen geheißen werden, unsere Anwesenheit nicht in Frage gestellt wird und wir nicht zu Schmuck beziehungsweise zu einem Beweis vermeintlicher Weltoffenheit degradiert werden.
Jahrelang dachte ich, mein Schicksal sei das einer Einzelkämpferin in dieser Institution. Doch dann kam das Jahr 2020, es war wie eine Zäsur: Es kam nicht nur eine weltweite Pandemie, auch mein persönliches Leben änderte sich, mit dem Umzug weg von Bonn, wo ich mehrere Jahre hochschulpolitisch aktiv war, unter anderem im AStA-Vorsitz. In den USA wurde George Floyd durch einen Polizisten ermordet, was zu den weltweiten Black-Lives-Matter-Protesten führte. Diese Protestbewegung wirkte auch in den Raum Kirche, und innerkirchliche antirassistische Stimmen wie Sarah Vecera und Quinton Ceasar wurden nun gehört.
Im Spätsommer 2020 fand erstmals die Veranstaltung "Dear White Church" statt, zu der auch ich eingeladen wurde. Zum ersten Mal hatte ich bei einer kirchlichen Veranstaltung das Gefühl, dass die Tragweite und Tiefe von rassistischen Strukturen in Gesellschaft und Kirche ernstgenommen wird. Zum ersten Mal herrschte das Bewusstsein, dass es eine kritische Auseinandersetzung über den Zusammenhang von Kolonialismus und Mission braucht. Diese erste "Dear White Church"-Tagung war ein Schlüsselmoment für mich, da ich zuvor mein politisch-aktivistisches Handeln getrennt von Kirche und Theologie gelebt hatte. Dort fand ich Menschen, mit denen ich nicht nur viele Ansichten teilte, sondern auch viele Erfahrungen. Das Gefühl, eine wirkliche Gemeinschaft gefunden zu haben, begleitet mich seitdem. Sarah Vecera, die ein fantastisches Buch mit dem Titel "Wie ist Jesus weiß geworden? – Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus" geschrieben hat, ist es zu verdanken, dass es eine bundesweite Vernetzung von BPoC in Kirche gibt, die immer größer wird.
Als ich mich im Studium mit Befreiungstheologien befasst habe, änderte sich ebenfalls mein Blick auf Kirche und Theologie. Die Überzeugung, dass G*tt parteiisch ist und auf der Seite der Armen und Unterdrückten steht, dass man sich aktiv aus ausbeuterischen und unterdrückerischen Verhältnissen befreien soll, statt auf endzeitliche Erlösung zu hoffen, das holte mich sofort ab. Dass sich Befreiungstheolog*innen oft marxistischer Analyse bedienen, überzeugte mich erst recht, und ein absolutes Highlight für mich war die Begegnung mit Gustavo Gutiérrez, dem Vater der Befreiungstheologie, im Rahmen einer Studienfahrt nach Lima/Peru. Im Befreiungstheologischen Netzwerk habe ich eine Community gefunden, mit der ich die Begeisterung für die Befreiungstheologie teilen kann, die als Fach an deutschen Universitäten eine eher marginale Rolle spielt. Dort habe ich Menschen kennengelernt, die sich zum Beispiel in der Kirchenasylbewegung engagieren. Kirchenasyl bietet Menschen Schutz vor Abschiebung, und die Bewegung setzt sich für ein humaneres Asylrecht ein. Ich habe anderthalb Jahre für Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg gearbeitet und miterlebt, welche Schrecklichkeiten und nicht nachvollziehbaren Entscheidungen das Leben von vielen Asylbewerber*innen bestimmt. Ich kann nur jede Kirchengemeinde dazu aufrufen, die Stellung und Macht, die Kirche gegenüber dem Staat hat, zum aktiven Schutz von Menschen zu nutzen.
In Kirche sah und sehe ich das Potenzial, transformative Gerechtigkeit herzustellen und Raum für schwierige und schmerzhafte Momente und Gespräche zu ermöglichen. Da in der deutschen Kirchen- und Theologiewelt eine wirkliche fachliche und pädagogische Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus nicht zu finden war, habe ich 2022 eine dreijährige Weiterbildung zur Referentin des Programms "Sacred Conversations to End Racism" bei der US-amerikanischen Kirche United Church of Christ (UCC) begonnen. Dieses Programm wurde von Velda Love konzipiert und erhebt den Anspruch, sich mit Rassismus und Marginalisierung sowohl historisch-politisch als auch theologisch-spirituell auseinanderzusetzen. Es soll ganzheitlich, dekolonisierend und communitybasiert wirken. Im Austausch mit den US-amerikanischen Glaubensgeschwistern stellte ich fest, dass meine Sprachfähigkeit über die eigene Religiosität und Spiritualität, trotz Theologiestudiums, noch ausbaufähig ist, von meiner Unsicherheit, spontan Gebete zu sprechen, gar nicht erst angefangen. Ich musste einen Widerspruch feststellen: "Philosophisch-theologische Verkopftheit", die mich zum Theologiestudium gebracht hat, stand mir bei meiner eigenen gelebten Spiritualität häufig im Weg.
Zum Symbol dessen, was ich an Kirche und Christentum kritisiere und ablehne, ist der "weiße Jesus" geworden. Wenn mich dieser blondgelockte, blauäugige Mann vom Kreuz hängend leidend anblickt, denke ich oft an die Grausamkeiten, die im Namen ebendiesem, der ja für unsere Sünden gestorben ist und nun unser aller König sei, ausgeübt wurden. Macht und Unmenschlichkeit, die durch seinen Namen legitimiert wurden, und Imperien, die man in seinem Namen errichtete. Dieser "weiße Jesus" steht dem radikalen jüdischen Wanderprediger gegenüber: Jemand, der sich den Unterdrückten und Ausgeschlossenen zuwandte und an der Peripherie des römischen Reichs, von ebendieser imperialen Macht exekutiert wurde.
Was Theologie ist oder sein sollte, hat vielleicht niemand besser auf den Punkt gebracht als James H. Cone, der Begründer der Schwarzen Befreiungstheologie:
"Theology is not a rational discourse about ultimative reality; it is also a prophetic word about the righteousness of God that must be spoken in clear, strong, and uncompromising language."