Historisch-politisch betrachtet, ist die deutsche Konfessionslandschaft seit der Reformation von Zersplitterung geprägt: Sie hat im 16. Jahrhundert zwei große christliche Kirchen hervorgebracht – die evangelische und die katholische. Aus der Geschichte heraus stehen die Kirchen in Deutschland in einem besonderen Verhältnis zum Staat. Trotz verfassungsrechtlicher Trennung bilden beide eine Art Zweckgemeinschaft. Sie kooperieren etwa bei der Ausgestaltung des Sozialwesens, der Staat gewährt kirchliche Feiertage und die Finanzämter treiben Kirchensteuern ein.
Ein Widerspruch ist augenfällig: Einerseits sind die Kirchen wirkungsmächtige gesellschaftliche Akteurinnen, sei es in den Bereichen Wohlfahrt, Bildung, Medien oder Kultur. Zudem sind ihre Türme oft weithin sichtbar, und viele Städte werben mit ihren Sakralbauten als kulturelles Erbe und touristische Hotspots. Andererseits verlieren die Kirchen – öffentlich wie innergemeinschaftlich – an Rückhalt und Resonanz: Die Mitgliederzahlen schwinden rapide, Gemeinden altern und Riten und Ansprache scheinen zuweilen aus der Zeit gefallen. Nicht zuletzt hat die moralische Autorität der Institution, vor allem der katholischen Kirche, durch die schleppende Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen erheblich gelitten.
Wofür steht Kirche in einem Land, in dem religiöse Pluralität längst der Regelfall ist? Was kann sie einer Gesellschaft bieten, die sich durch individualisierte Lebensentwürfe auszeichnet, Wertvorstellungen tagtäglich aushandelt und in der sich mehr als 40 Prozent als konfessionslos verstehen? Gewiss sind Kirchen Institutionen, die sich im Innern längst in tiefgreifenden Umbruchprozessen befinden, während ihre Fassaden Jahrhunderte alt sind. Dahinter liegen Räume, die ambivalent bleiben: einladende Räume für persönlichen Glauben und Spiritualität; dunkle Räume, in denen es zu Gewalt gekommen ist; Räume, aus denen Menschen aus unterschiedlichen Gründen ausgeschlossen sind; Räume, in denen Machtpolitik über ethische Integrität obsiegen kann; Räume, wo Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenkommen, interreligiöser Dialog stattfindet und tatkräftiges Engagement für die gesamte Gesellschaft wichtig ist; Räume, wo Reformvorhaben gewagt werden und wo Zukunft doch ungewiss ist.