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"Ein bisschen Licht in diese Dunkelheit". | Kinder und Politik | bpb.de

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"Ein bisschen Licht in diese Dunkelheit". Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder in Erziehungsverhältnissen

Sabine Andresen

/ 17 Minuten zu lesen

Nach wie vor ist es nicht selbstverständlich, über sexuelle Gewalt gegen Kinder zu sprechen. Wer Kinder heute respektvoll und gewaltfrei aufwachsen sehen will, kommt um den Blick in die Vergangenheit und das Aufarbeiten gewaltvoller Ereignisse nicht herum.

Nach wie vor ist es nicht selbstverständlich, über sexuelle Gewalt gegen Kinder zu sprechen. Ein in seiner Kindheit von sexuellem Kindesmissbrauch Betroffener äußerte sich in einer vertraulichen Anhörung bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs dazu folgendermaßen: "Und diese Kommission hatte ich … also ich habe selbst eine große Hoffnung, dass da mal was ins Rollen kommt. Weil das Thema sexueller Missbrauch ist nach wie vor ein Tabuthema, es wird wenig darüber gesprochen, wenige wissen darüber. Eigentlich hat auch keiner irgendwie eine Ahnung, was für eine Dunkelziffer da vorliegt. Und meine Hoffnung mit dieser Kommission ist quasi, ein bisschen Licht in diese Dunkelheit reinzubringen."

Seit 2016 hört die Unabhängige Kommission betroffene Menschen und andere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an. Aufarbeitung ist neben Fragen der Prävention und Intervention in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Bestandteil gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Bekämpfung sexueller Gewalt oder sexuellen Kindesmissbrauchs geworden. In diesem Beitrag greife ich die Erfahrungen mit Aufarbeitung auf und argumentiere dafür, diese strukturell zu stärken. Dazu wird zunächst geklärt, was unter "Aufarbeitung" zu verstehen sei, und anschließend eine kindheits- und erziehungstheoretische Perspektive eingenommen. Kindheit verläuft nicht beiläufig, vielmehr ist sie in gesellschaftliche Abläufe, historische Zusammenhänge und generationale Machtverhältnisse eingebettet. Was unter sexueller Gewalt gegen Kinder erfasst wird und worauf sich der Blick richten muss, wird davon ausgehend aufbereitet. Abschließend wird die nach wie vor bestehende Tabuisierung in der Gesellschaft und deren Folgen diskutiert.

Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder – Zur Klärung

Aufarbeitung von Gewalt ist ein politischer Vorgang und in übergeordnete politische Prozesse eingebunden. Sie zielt darauf, dass historisch zurückliegendes Unrecht gegenüber einzelnen Menschen oder Gruppen zu Verantwortungsübernahme im Hier und Heute aufruft. Damit geht es grundlegend um Prozesse der Demokratisierung. Gewalt in der Vergangenheit reicht in die Gegenwart und wenn sie tabuisiert wird, von Gewalt Betroffene nicht gehört werden, Anerkennung von Unrecht und auch Wiedergutmachung nicht erfolgen, so hat dies auch Auswirkungen auf die Zukunft.

In zahlreichen Ländern liegen inzwischen Erfahrungen mit Aufarbeitung von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, gegen Kinder und Jugendliche vor. Diese Ansätze firmieren unter dem Dach von "Transitional Justice", und sie wollen ein neues kollektives Wissen, durch das sich auch die Geschichte der Erziehung umschreiben ließe, hervorbringen.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bringt insbesondere auf der Basis von vertraulichen Anhörungen mit und schriftlichen Berichten von Betroffenen, geboren zwischen den 1940er und den 2000er Jahren, ein solches Wissen hervor. Dabei agiert sie bislang ohne eine gesetzliche Grundlage und ist vor allem darauf angewiesen, dass Menschen es auf sich nehmen, über die Gewaltwiderfahrnisse zu sprechen. Das ist ein sehr intimer und oft schmerzhafter Moment. Insofern wird es künftig stärker darauf ankommen, dass auch andere Zeugnis ablegen, denn sexueller Kindesmissbrauch lässt sich nicht allein durch die Dynamik zwischen Tätern und Opfern verstehen. Kinder wachsen in einem Umfeld auf, und viele Betroffene berichten davon, dass sie sich jemandem anvertraut haben, dass Menschen in der Familie, der Schule oder dem Sportverein etwas mitbekommen haben. Die Gewalt jedoch wurde oftmals nicht unterbunden.

In einem Empfehlungspapier für Aufarbeitung in Institutionen hat die Kommission folgende Definition vorgenommen: "Aufarbeitung soll aufdecken, in welcher Kultur sexueller Kindesmissbrauch in einer Institution stattgefunden hat, welche Strukturen mit dazu beigetragen haben, dass Täter und Täterinnen Kindern und Jugendlichen Gewalt angetan haben, wer davon gewusst hat, aber sie nicht oder spät unterbunden hat. Sie soll sichtbar machen, ob es unter den Verantwortlichen in den Institutionen zu dem Zeitpunkt des Missbrauchs eine Haltung gab, die Gewalt begünstigt und Kinder oder Jugendliche abgewertet hat, und sie will klären, ob und wenn ja warum sexueller Kindesmissbrauch in einer Einrichtung vertuscht, verdrängt, verschwiegen wurde. Auf der Basis dieser Erkenntnisse zielt Aufarbeitung auf Anerkennung des Leids und auf die Rechte und Unterstützung erwachsener Betroffener. Sie will einen Beitrag dazu leisten, Kinder und Jugendliche besser zu schützen und ihre Rechte zu etablieren, und sie zielt darauf, die Gesellschaft für die Dimensionen sexuellen Kindesmissbrauchs zu sensibilisieren. Durch öffentliche Berichterstattung und Empfehlungen kommt Aufarbeitung zu einem Ergebnis, an das für Prävention, Intervention und weitere Aufarbeitung angeknüpft werden kann."

In den zitierten Empfehlungen geht es auch um Betroffenenbeteiligung und Unabhängigkeit als zentrale Qualitätskriterien. Perspektivisch muss sich Aufarbeitung, die sich mit sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend befasst, daran messen lassen, ob und wie die Rechte betroffener Menschen umgesetzt werden und ob sie zu einer Demokratisierung im Generationenverhältnis beizutragen vermag.

Kindheit und Gesellschaft

Kindheit ist in den Aufbau von Gesellschaften integriert. Daraus leiten sich Perspektiven für den Umgang mit sexueller und anderen Formen der Gewalt ab. Insbesondere schließen hier Fragen politischer Verantwortung für Erziehung, Kindeswohl und Kinderrechte an. Dies ist keineswegs eine neue Erkenntnis. Der Kindheits- und Jugendforscher Siegfried Bernfeld formulierte 1925 den bis heute wegweisenden Gedanken in seiner Schrift "Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung": "So mannigfaltig menschliche Gesellschaften strukturiert sein mögen, das Kind hat von Geburt an eine Stelle in ihnen. Für es muss eine bestimmte Menge Arbeit von der Gesellschaft geleistet werden, sie hat irgendwelche Einrichtungen, die nur wegen der Entwicklungstatsache bestehen, gewisse Einstellungen, Verhaltungen, Anschauungen über sie. Die Kindheit ist irgendwie im Aufbau der Gesellschaft berücksichtigt. Die Gesellschaft hat irgendwie auf die Entwicklungstatsache reagiert. Ich schlage vor, diese Reaktionen in ihrer Gänze Erziehung zu nennen. Die Erziehung ist danach die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache."

Als Kenner der Pädagogik seiner Zeit und Psychoanalytiker verweist Bernfeld darauf, dass es stets einer Art Philosophie für den Umgang mit Kindern bedürfe und Erziehungsarbeit nicht losgelöst von Menschenbildern, Zielen oder Entwicklungsmodellen praktiziert werden könne. Dazu gehört auch, wie in Familien, in Einrichtungen, also etwa in Kindergarten, Schule oder in der Heimerziehung, mit Gewalt, vor allem sexueller Gewalt gegenüber Kindern verfahren wird. Für die Gestaltung von Kindheit ist in dieser Lesart die dafür zu leistende Arbeit und Verantwortung der Anderen, der für Versorgung, Pflege, Erziehung und Unterrichtung zuständigen Erwachsenen zentral.

Bernfeld verweist jedoch auf ein damit einhergehendes Problem in der Ordnung der Generationen zueinander: Er sensibilisiert für den Tatbestand, dass durch dieses Arrangement Kinder von vornherein in eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft gebracht werden, weil Erwachsene Arbeit für sie zu leisten und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen hätten. Bernfeld selbst verarbeitet hier biografische Erfahrungen. 1892 in der heutigen Ukraine geboren, und als jüdischer Wissenschaftler diskriminiert, kritisierte er in all seinen Schriften Marginalisierung, Abwertung und strukturelle Ohnmacht, insbesondere von Kindern und Jugendlichen auch aufgrund ihres Alters. Er forschte zu den gesellschaftlichen Ursachen, den Strukturen, durch die Kinder im Privaten und durch Vergesellschaftung in Abhängigkeit gehalten und mit impliziten Schuldzuweisungen belastet werden. Er forderte eine an den Erfahrungen, dem Wissen, den Tätigkeiten und den Werken – zum Beispiel Tagebüchern – der Jüngsten orientierte Forschung und legte selbst ein Archiv mit Dokumenten Jugendlicher an. Diese zugleich politisch, ethisch, methodisch und theoretisch motivierte Haltung ist bis heute ein Ideal der Kindheits- und Jugendforschung. Akteure, Ansätze, disziplinäre Verortungen, Erkenntnisinteressen und Forschungsziele weichen – wen mag das verwundern – empirisch davon meist ab. Dies ist besonders gravierend für den Umgang mit Ohnmacht der Kinder aufgrund sexueller Gewalt in Erziehungsverhältnissen, worauf noch einzugehen sein wird.

Bernfeld thematisiert ferner für Gesellschaften die notwendige Ausweitung von Erziehungsarbeit auf Orte außerhalb der Herkunftsfamilie. Dadurch übernehmen neben den Eltern weitere Teile der Gesellschaft eine konkrete Verantwortung für Erziehung. Die Arbeit für Kinder in der Familie und darüber hinaus an weiteren, dafür eigens geschaffenen Institutionen ist ein wesentlicher Aspekt der gesellschaftlichen Hervorbringung der Lebensphase Kindheit. Der springende Punkt nun ist, dass das Kind selbst über keinerlei Kontrolle darüber verfügt, wer diese Aufgaben übernimmt und wie sie verrichtet werden. Ihm bleibt nur, darauf zu vertrauen, dass Erwachsene wohlwollend und die an ihm und für es verrichteten Tätigkeiten passend sind. In diesem Zusammenhang benennt Bernfeld das Problem von Willkür beziehungsweise Beliebigkeit, denn es müsse lediglich "irgendwie" auf die Entwicklungstatsache reagiert werden. Vor allem aber, das ist ein Phänomen bis in die Gegenwart, verfügen Kinder über keinerlei Kontrolle über Art, Qualität, Intensität oder Angemessenheit ihrer Erziehung. Hier sensibilisiert der Psychoanalytiker für die Abhängigkeit des Kindes als Kind ebenso wie für die Vergesellschaftung von Kindheit und für das Soziale ihrer Gestaltung. Von der Bernfeld’schen Perspektive auf Kindheit und politische Ordnungen aus lässt sich auch die Frage nach Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt in Erziehungsverhältnissen, stellen.

Sexuelle Gewalt gegen Kinder

Die Polizeiliche Kriminalstatistik führt für Deutschland im ersten Corona-Jahr 2020 folgende Fälle auf: Gemeldet worden sind 16921 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch an Kindern unter 14 Jahren, zu 73 Prozent betroffen waren davon Mädchen. Im Vergleich zu 2019 wurden fast 1000 Fälle mehr registriert. Hinzu kommen 18761 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Kinderpornografie. Hier wird im Vergleich zu 2019 ein Zuwachs von 6499 Fällen berichtet.

Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, da es sich bei dieser Statistik um das Hellfeld handelt. Ein Kennzeichen sexueller Gewalt gegen Kinder ist deren tendenzielle Unsichtbarkeit, denn es ist bei diesen Gewalttaten von einer sehr viel höheren Anzahl an Taten, einem Dunkelfeld, auszugehen. In Deutschland fehlen regelmäßige Erhebungen zur Prävalenz. Interessant ist, dass diese polizeilich bekannten Verdachtsfälle 2020 weniger auf Meldungen durch das Personal an Schulen oder Kitas, sondern durch andere Personen, etwa in der Nachbarschaft von Kindern, zurückgingen. Worauf ein Anstieg von Verdachtsfällen zurückzuführen ist, lässt sich selten exakt klären, denn dieser kann aus einer Zunahme oder einem sensibilisierten Umfeld resultieren. Ob die ermittelten Verdachtsfälle im Einzelnen zu einer umfassenden Aufklärung und bei Tatnachweis auch zu einer Verurteilung führen, ist ebenfalls offen. Denn zur Historie dieser Gewaltform gegen Kinder gehört, dass sie vielfach nicht eindeutig aufgeklärt wird.

Insofern haben es Betroffene, ihre Unterstützer und Unterstützerinnen, Fachkräfte in den Behörden, den Gerichten, in Beratungsstellen und Kliniken, in der Familienberatung und in Kollegien in Jugendämtern oder Schulen mit vielen Unsicherheitsfaktoren zutun. Zu diesen zählt auch die Sorge, sich beispielsweise in Angelegenheiten von Familien einzumischen oder aber über jemanden aus dem Kollegium einen Verdacht zu artikulieren.

Was unter sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche beziehungsweise unter sexuellem Kindesmissbrauch, wie die Terminologie im Strafrecht lautet, verstanden wird, ist unterschiedlich. Ich möchte hier die Definition von Anne Longfield vorschlagen: "Die Handlungen können Körperkontakt beinhalten, darunter Angriff auf den Körper wie Penetration (z.B. Vergewaltigung), oder nicht-penetrative Handlungen wie Masturbation, Küssen, Reiben und Berühren über der Kleidung. Dazu zählen auch kontaktlose Handlungen, wie, Kinder in das Ansehen oder Herstellen sexueller Bilder einzubeziehen, bei sexuellen Aktivitäten zuzusehen, Kinder zu ermutigen sich sexuell unangemessen zu verhalten oder ein Kind zu manipulieren, um sexuellen Missbrauch anzubahnen (auch im Internet). Sexueller Missbrauch wird nicht nur durch erwachsene Männer ausgeübt. Auch Frauen können Handlungen sexuellen Missbrauchs begehen, ebenso wie andere Kinder."

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass verschiedene Studien darauf hinweisen, dass eine strikt getrennte Betrachtung einzelner Gewaltformen, denen Kinder ausgesetzt sein können, problematisch ist. Die Berichte Betroffener an die Kommission zeugen vielfach von mehreren Gewaltformen gleichzeitig, so geht sexuelle Gewalt meist mit psychischer Gewalt einher und ist von körperlicher Gewalt oft nicht zu trennen. Es wird perspektivisch in der Gewaltforschung ebenso wie in der Kindheits- und Jugendforschung darum gehen müssen, das Zusammenwirken von Gewaltformen sowie die lebensgeschichtliche Aufschichtung zu untersuchen. Zugleich aber muss in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufklärung sexuellen Kindesmissbrauchs darauf geachtet werden, dass gerade diese Gewaltform besonders schwer zu thematisieren und sehr folgenreich ist. Sexuelle Gewalt geht für betroffene Kinder mit Scham und mit Schuldgefühlen einher. Dies liegt auch an den Strategien der Täter und Täterinnen sowie an einer Tabuisierung im Umfeld. Sexuelle Gewalt gegen Kinder, das ist aus meiner Sicht ein zentrales Ergebnis bisheriger Forschung und Aufarbeitung, ist von Machtausübung auch in Erziehungsverhältnissen nicht zu trennen.

Sexuelle Gewalt, Kindheit und Politik

Aus dem intergenerationellen Machtmissbrauch und den fehlenden Kontroll- und Entscheidungsbefugnissen von Kindern folgt: Auf allen gesellschaftlichen Ebenen braucht es eine reflektierte Positionierung gegenüber "dem Kind". Eine solche Positionierung ist gegenwärtig beispielsweise in der Auseinandersetzung mit einer "kindgerechten Justiz" zu beobachten.

Ich möchte mit Blick auf die Forschung dafür argumentieren, dass eine explizit kindheitstheoretisch orientierte Herangehensweise nötig ist, um die Tragweite von Unrecht in der Kindheit als einer besonderen Lebensphase zu untersuchen. Warum? Zu Beginn des Lebens ist der Mensch von Liebe, Vertrauen, Erziehung und Bildung besonders abhängig. Ein Merkmal der Kindheit ist der im Vergleich zum Erwachsenenalter fehlende Einfluss auf persönliche und soziale Lebensumstände. Für ein siebenjähriges Kind, eine dreizehnjährige Jugendliche, einen Schüler vor dem Abitur ist es ungleich schwerer, sich einer gewaltvollen Situation zu entziehen und ihr nicht ohnmächtig ausgeliefert zu bleiben. Zwar teilen Kinder und Jugendliche diese Ohnmacht mit Menschen anderer Altersgruppen in Zeiten des Krieges, durch Genozid, Kolonialherrschaft, auf Fluchtrouten, in Lagern, aber auch durch reproduktive Gewalt in intimen Beziehungen oder bürgerlichen häuslichen Verhältnissen, gleichwohl ist der Blick auf das Spezifische von Gewalt und Gewaltverhältnissen nötig, wenn sie zwischen den Generationen ihren systematischen Ort haben. Im Generationenverhältnis ist die Macht über Körper, Alltag, Zeit und Raum ungleich verteilt. Die Berichte von betroffenen Menschen geben in diese kindspezifischen Erfahrungen einen sehr genauen Einblick.

Weil sexuelle Gewalt bis heute oft im Unausgesprochenen verbleibt, Betroffene sich isoliert fühlen und nicht gehört werden, sind ihre Zeugnisse für ein gesellschaftliches Verstehen und verantwortungsvolles Handeln zentral, um das seit dem Jahr 2000 in Deutschland festgeschriebene Recht auf ein gewaltfreies Aufwachsen sowie für die Anerkennung von Unrecht und Leid gegenüber inzwischen Erwachsenen zu realisieren. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil die Mehrzahl der Taten strafrechtlich nicht verfolgt wurde und wird, wofür es ein Bündel von Gründen gibt. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat sich damit intensiv befasst und in einem Empfehlungspapier Maßnahmen zur Umsetzung betroffenensensibler Ermittlungs- und Strafverfahren sowie die Realisierung einer kindgerechten Justiz gefordert.

Das große Schweigen über sexuelle Gewalt

In der öffentlichen Erzählung wird das Jahr 2010 als Wendepunkt im Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch dargestellt. In diesem Jahr hatte das verantwortungsvolle Handeln des damaligen Schulleiters am Canisius Kolleg, Pater Klaus Mertes, der inzwischen erwachsenen Betroffenen nicht nur zuhörte, sondern ihnen auch glaubte, zu einem Wendepunkt beigetragen. Entscheidend für den gesamten gesellschaftlichen Prozess aber war die Vorgehensweise der Betroffenen, über die unter anderem das Buch von Matthias Katsch aufklärt.

Gleichwohl darf diese Diagnose eines Wendepunkts nicht darüber hinwegtäuschen, dass lange vor 2010 Wissenschaftlerinnen, politische Aktivistinnen und Betroffene auf sexuelle Gewalt insbesondere gegen Mädchen in deren Familien hartnäckig aufmerksam gemacht und Anlauf- und Beratungsstellen gegründet haben. Diese Diskurse haben aufgezeigt, dass und in welchem Maße gerade die bürgerliche Familie und das daran angeschlossene Konzept von Privatheit dazu führt, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder tabuisiert wird. Eine analoge Kritik an Tabuisierung in pädagogischen Kontexten fand kaum statt. Schulen oder anderen pädagogischen Einrichtungen als Tatkontexte und Orte der Vertuschung sowie pädagogischen Fachkräften als Tätern, diesen Phänomenen wurde kaum größere Aufmerksamkeit geschenkt.

Für die Erziehungswissenschaft hat sich im Rückblick das Jahr 1999 als besonders entlarvend erwiesen. Berichte über Gewaltverhältnisse an der Odenwaldschule, deren Prestige auch mit dem Namen des Professors an der Fakultät für Erziehungswissenschaften (früher Fakultät für Pädagogik) der Universität Bielefeld, Hartmut von Hentig, verbunden war, haben in der Wissenschaft, in Bildungsadministration und -politik sowie in der pädagogischen Praxis keine nennenswerten Reaktionen erfahren. Es ist inzwischen oft darauf verwiesen worden, dass bereits 1999 ein Zeitungsartikel über sexuellen Kindesmissbrauch durch den Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker erschienen war, der ohne Echo blieb. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp spricht in diesem Zusammenhang von wirkmächtigen "Ringen des Schweigens".

Kaum anders verhält es sich mit Publikationen über andere Gewaltkontexte und mit dem vorhandenen Wissen über sexuelle Gewalt in Familien, über behördliches Versagen bei Kindeswohlgefährdung oder fachliche Verantwortung für "Projekte", wie die Vermittlung von Pflegekindern an verurteilte Sexualstraftäter in Berlin unter der wissenschaftlichen Federführung des Sexual- und Sozialpädagogen Helmut Kentler.

Das Phänomen der Schweigsamkeit über sexualisierte Gewalt in einer ansonsten diskussionsfreudigen Disziplin ist auch für die Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder in Erziehungsverhältnissen wichtig. Um diese auf den Weg bringen zu können, ist zunächst diejenige Verschwiegenheit zu überwinden, die Gewalterfahrungen, Rechte und Interessen sowie Schutz und Unterstützung betroffener Kinder, Jugendlicher und inzwischen erwachsener Überlebender auszublenden hilft. Das heißt, dass auch die Erziehungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin einen selbstkritischen Aufarbeitungsprozess vor sich hat.

In Deutschland entbrannte 2010 eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Verantwortung für zurückliegenden sexuellen Kindesmissbrauch sowie für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Gegenwart. Dabei zeigten sich schnell erhebliche Defizite hinsichtlich verfügbarer wissenschaftlicher Informationen etwa über Prävalenz sowie über historische Vorgänge. Die Politik in Deutschland beantwortete die Frage nach Verantwortung zunächst durch folgende Maßnahmen: die zeitlich befristete Einrichtung eines Runden Tisches sexueller Kindesmissbrauch, die Schaffung der Stelle eines/einer Unabhängigen Beauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs, die Installation einschlägiger Forschungsprogramme, die Einrichtung eines Ergänzenden Hilfesystems und eines nationalen Hilfetelefons. 2016 kamen schließlich ein Betroffenenrat beim UBSKM sowie die Aufarbeitungskommission hinzu. Insbesondere die Etablierung von Strukturen für die Beteiligung Betroffener und die ersten Schritte unabhängiger Aufarbeitung können als wichtige Signale politischer Verantwortungsübernahme gesehen werden. Aufarbeitungsvorgänge in der katholischen und evangelischen Kirche verdeutlichen, dass ohne unabhängige und starke Strukturen der Betroffenenbeteiligung, Aufklärung und Anerkennung als mindestens halbherzig gedeutet werden müssen. Nun stellt sich die Frage, wie im Jahr 2022 politische Verantwortung für den Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch, für die Stärkung von Betroffenenbeteiligung und unabhängiger Aufarbeitung aussehen wird.

Stärker als mit Schweigsamkeit ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bislang mit dem Begriff der Tabuisierung und des Tabus verbunden. Vielfach wird eingefordert, das Tabu zu brechen, auch weil Täter und Täterinnen es sich zunutze machen. Ein Tabu überwinden zu müssen, erschwert betroffenen Menschen, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die Tatvorgänge zu verstehen, einzuordnen und zu thematisieren.

Sprachlosigkeit und Praktiken des Schweigens haben eine enorme Wirkung auf betroffene Kinder, in der Vergangenheit ebenso wie heute. Wenn diese sexuelle Gewalt erleben, wollen sie, dass die Gewalt beendet wird, dass sie aufhört. Dazu sind Kinder und auch noch Jugendliche aufgrund ihrer altersbedingten Abhängigkeit und der ungleichen Machtbefugnisse auf ein Umfeld angewiesen, in dem ihnen ermöglicht wird, sich anzuvertrauen und Hilfe zu erhalten.

Heute erwachsene Betroffene berichten vielfach von ihrer Verunsicherung als Kind, die Gewalterlebnisse einzuordnen, zu verstehen und in Worte zu fassen. Dies hätte kompetente und sprachfähige Erwachsene vorausgesetzt. Der Bericht einer Betroffenen an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs verdeutlicht diese Angewiesenheit: "Es ist nicht wahrscheinlich, dass ich als Kind jemals den Versuch gemacht habe, mit jemandem über das zu reden, was Vater mit mir gemacht hat. Es gab keinen Ansprechpartner." Die Verfasserin hat zwischen ihrem 6. und 13. Lebensjahr sexualisierte Gewalt durch den leiblichen Vater erfahren. Bei Elternabenden habe der Klassenlehrer die Mutter wiederholt auf die Schweigsamkeit der Schülerin angesprochen: "Sie hat nie gefragt, warum ich nicht rede, geschweige denn, dass sie Hilfe gesucht hätte. Und auch seitens der Lehrer geschah nichts weiter. Ich denke, sie waren dankbar für eine so ruhige, nicht störende Schülerin wie mich." Immerhin, so könnte man sagen, hat der Klassenlehrer versucht, mit der Mutter ins Gespräch zu kommen, vielleicht weil er eine Ahnung von der Gewalt hatte.

Vielfach scheuen Fachkräfte im Kindergarten oder in der Schule, Ehrenamtliche etwa im Freizeitsport oder Angehörige und Freunde davor zurück, sich überhaupt einzumischen oder aber sie gehen ihrer Intuition, ihrem "Bauchgefühl", dass etwas nicht stimmt, nicht weiter nach. Auch diesem Kind wurde nicht geholfen, der Lehrer hat nicht intensiver nachgefragt oder Unterstützung angeboten.

Eine nach wie vor offene Frage ist, wie es gelingen kann, Abwehr, Unsicherheit, Vermeidung und De-Thematisierung im Umgang mit sexueller Gewalt zu überwinden. Eine weitere Frage richtet sich auf die Gestaltung von Kindheit im Sinne der Gewährleistung von Gewaltfreiheit und einer demokratischen Generationenordnung. Im Lichte der Erkenntnisse der Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder ist eine Politik nötig, die in der Perspektive und Integrität der Kinder einen ihrer wesentlichen Ausgangspunkte nimmt. Wer Kinder heute respektvoll und gewaltfrei aufwachsen sehen will, der kommt um den Blick in die Vergangenheit und das Aufarbeiten gewaltvoller Ereignisse nicht herum. Eine Orientierung an den Rechten des Kindes ruft die Verantwortung des staatlichen Wächteramtes hervor.

ist Professorin für Familienforschung und Sozialpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und war von 2016 bis September 2021 Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
E-Mail Link: s.andresen@em.uni-frankfurt.de