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Globale Kinderpolitik | Kinder und Politik | bpb.de

Kinder und Politik Editorial "Ich finde, man sollte eine Lösung für alle finden, nicht nur für die Mehrheit". Ein Gespräch Globale Kinderpolitik "Angemessen" oder "vorrangig"? Zur Diskussion um "Kinderrechte ins Grundgesetz" aus kinderrechtlicher Perspektive Demokratie mit Kindern in der Kita Kinderpolitik(wissenschaft) – eine Einführung Wie geht es den Kindern in Zeiten von Corona? Leitbilder "guter Kindheit" "Ein bisschen Licht in diese Dunkelheit". Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder in Erziehungsverhältnissen

Globale Kinderpolitik

Samia Kassid

/ 16 Minuten zu lesen

Es dauerte lange, bis Kinder weltweit als Subjekte mit eigenen Rechten anerkannt wurden, die es zu schützen und zu fördern gilt. Mit der Kinderrechtskonvention von 1989 liegt globaler Kinderpolitik heute eine weltweit anerkannte Richtschnur zugrunde.

Wir leben in einer vernetzten, globalisierten und zunehmend digitalisierten Welt, die manchmal Segen ist, aber auch Fluch sein kann, weil sich keiner den globalen Auswirkungen unseres Handelns entziehen kann. Armut und strukturelle Ungleichheiten verschärfen sich, und angesichts der großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts ist die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft größer denn je. Die Klimakrise, der Verlust von Biodiversität und die zunehmende Umweltverschmutzung verändern das Leben auf unserem Planeten mit der Folge, dass Ungeborene, Kinder und junge Menschen veränderte Lebensbedingungen vorfinden werden, die die Wahrnehmung ihrer Rechte gefährden. Längst können die negativen globalen Entwicklungen nicht mehr von Nationalstaaten allein aufgehalten werden.

Bis Kinder weltweit als Subjekte mit eigenen Rechten anerkannt wurden, die es zu schützen und zu fördern gilt, lagen Jahrtausende dazwischen, in denen Kindsein und Kindheit sehr früh endeten. Der Gedanke, Herausforderungen global zu begegnen und politische Rahmenbedingungen für Kinder zu schaffen, ist ein Ergebnis des gewaltvollen 20. Jahrhunderts mit seinen zwei Weltkriegen. Die Pädagogin Ellen Key erklärte 1902 das 20. Jahrhundert zum "Jahrhundert des Kindes". Trotz Kriegen, Hungersnöten und ausbeuterischer Arbeit ist es in der Tat zum wichtigsten Jahrhundert in der Geschichte der Kinderrechte geworden: 1989 wurde nach einem langen Weg dorthin das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention, UN-KRK) verabschiedet. Wie schnell Rechte von Kindern weltweit massiv beeinträchtigt werden können, hat zuletzt die Covid-19-Pandemie und die gegen sie getroffenen Maßnahmen gezeigt. In diesem Beitrag wird die Entwicklung von Kindsein, Kindheit und Kinderrechten hin zu einer globalen Politik und Verantwortung für Kinder skizziert und diese in den Kontext der Lebensrealitäten von Kindern gesetzt.

Was ist Kinderpolitik?

Politik für Kinder besteht in der Verantwortung der Regierungen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es allen Kindern ermöglichen, ihr volles Potenzial zu entfalten und selbstbestimmt aufzuwachsen. Die Entstehung des Themenfeldes Kinderpolitik ist eng verknüpft mit der Entwicklung der Idee der Menschenrechte und der europäisch geprägten Moderne. Das Themenfeld umfasst verschiedene Disziplinen, die sich mit der "Rolle" des Kindes in einer Gesellschaft befassen. Obwohl es keine eindeutige Definition des Begriffs "Kinderpolitik" gibt, wird darunter meist eine Politik von Erwachsenen für Kinder oder im Namen von Kindern beziehungsweise unter Beteiligung von Kindern verstanden. Oft wird Politik für Kinder auch als Querschnittspolitik betrachtet, mit dem Ziel, die Interessen und Rechte von Kindern zu vertreten. Dies kann auf verschiedenen Ebenen oder an der Schnittstelle von Familien- und Bildungspolitik stattfinden oder in andere Politikfelder hineinwirken, um kinderfreundliche Lebensbedingungen zu schaffen, wie in der Wohnungsbau- und Stadtentwicklungsplanung, im Verkehr oder in der Armutsbekämpfung. Letztendlich gibt es keine Politik, die Kinder nicht betrifft.

Kritisch ist anzumerken, dass Kinderpolitik immer noch oft als Stellvertretung verstanden wird, ohne echte Mitsprache und Mitwirkung von Kindern und jungen Menschen zu ermöglichen. Diese Form der Diskriminierung von Kindern (Adultismus) wird in der Kinderrechteforschung zunehmend thematisiert als etwas, das alle Menschen qua ihres Lebens erfahren (haben). Adultismus bezeichnet den gesellschaftlichen Umgang mit dem Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern beziehungsweise Jugendlichen und wird von Gesetzen, sozialen Institutionen und Traditionen gefestigt und sowohl gesellschaftlich als auch individuell verinnerlicht. In diesem Zusammenhang spielen auch altersspezifische Diskriminierungen von Kindern eine wichtige Rolle. Am Beispiel des Mindestalters für "Kinderarbeit" zeigt der Kindheitsforscher Manfred Liebel auf, dass solche Regelungen zur Diskriminierung arbeitender Kinder führen können, die sie von der Entscheidung ausschließen, in eigener Verantwortung Geld zu verdienen oder mit ihrem Einkommen zum Lebensunterhalt ihrer Familie beizutragen, und sie in die Illegalität treibt.

Globale Kinderpolitik strahlt in die Gestaltung nationaler Kinderpolitiken hinein, aber auch darüber hinaus. Sie ist jedoch nicht losgelöst von kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Einflüssen in den jeweiligen Ländern. Das Bild von Kindheit und die Rolle des Kindes sowie wirtschaftliche Zwänge oder gesellschaftliche Normen beeinflussen das Verständnis von Kinderrechten und deren Umsetzung. Daher lohnt sich ein Überblick über die Entwicklung von Kindheit und Menschenrechten.

Der lange Weg zu Kinderrechten

Kindheit und Kindsein sind ein gesellschaftliches Kunstprodukt, eine soziale Konstruktion, immer den gegenwärtigen Einflüssen und dem gesellschaftlichen Wandel, den Dogmen und Glaubenssätzen der jeweiligen Zeit ausgesetzt. Die Kindheit, wie wir sie kennen, ist eine "Erfindung der Moderne". Im Mittelalter gab es keine Kindheit, sie war "ein Synonym für Überwindung der ersten besonders gefährlichen Lebensjahre", danach wurden die Kinder rasch ins Arbeitsleben integriert. In der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurden mit John Locke und Jean-Jacques Rousseau Gedanken laut, in denen Kindheit als ein wichtiger und kostbarer Zeitraum bezeichnet wird, der besonderen Schutz und Förderung benötigt, und neue Ansätze in Erziehung und Pädagogik wurden entwickelt. Mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft entstand erstmals ein Konzept von Kindheit als eigene, vom Erwachsensein unterscheidbare Lebensphase.

Die Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts und die Entstehung des Kapitalismus schuf eine Arbeiterklasse, Menschen, die unter katastrophalen Bedingungen lebten und arbeiteten. Die Auswirkungen verschiedener Industrialisierungswellen treffen noch heute Kinder in vielen Teilen der Welt. Die gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit führten aber auch dazu, dass sich Politik zunehmend mit sozialen Fragen beschäftigte, die unter anderem auch arbeitende Kinder betrafen. Menschenrechtsideen und die Einführung von Schule und Kindergarten ließen ein neues, anderes Bild vom Kind entstehen, das zu ersten (Arbeits-)Schutzgesetzen führte.

Das Konzept der Menschenrechte ist keine Erfindung der europäischen Moderne. Die Auffassung, dass Menschen angeborene Rechte haben, gibt es seit jeher und wurzelt in vielen Kulturen und Traditionen. Menschenrechte sind "eine Rebellion gegen leidvolle Erfahrungen, die als Unrecht gedeutet werden", die dazu führt, dass Menschen lernen, "sich auf besondere Weise zu schützen: zunächst vor dem Staat, aber dann auch voreinander". Zum Durchbruch der Menschenrechte verhalf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 mit der Virginia Bill of Rights, die auf den Gedanken der Aufklärung beruht und eine Reihe von unveräußerlichen Menschenrechten benennt, einschließlich der damit einhergehenden Beschränkung der Staatsgewalt. Die Französische Revolution mit ihrer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verbreitete die Idee der Menschenrechte mit der Folge, dass Menschenrechte in den Verfassungen vieler europäischer Nationalstaaten Einzug hielten. Frauen und Kinder blieben dabei außen vor.

Mit dem Ausklingen des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden Bewegungen, die nicht nur Frauenrechte, sondern auch Kinder und ihre Rechte in den Fokus stellten. Kinderschutzbewegungen proklamierten den Schutz von Kindern als Aufgabe der Staatengemeinschaft. Wegweisend waren die Ideen von Ellen Key, die in ihrem Buch "Das Jahrhundert des Kindes" von 1902 unter anderem das Recht eines jeden Kindes auf körperliche Unversehrtheit sowie gleiche Rechte für eheliche und uneheliche Kinder und eine Auseinandersetzung mit den Problemen der Jugendhilfe forderte. Der polnische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak postulierte 1919 in seinen Schriften das Recht jedes Kindes auf die Achtung seiner Persönlichkeit, legte den Baustein für eine "Pädagogik der Achtung" und rief zu einem neuen Bild von Kindern auf, das auf Gleichwertigkeit und Respekt beruht. Er wurde zum Pionier der Kinderrechte mit der Forderung, Kinder von Geburt an und auf jeder Stufe ihres Lebens als kompetente Menschen anzuerkennen. Auch forderte er umfassende Beteiligungsrechte für Kinder. Somit wurden Kindern erstmals Rechte zuerkannt, die über Förderungs- und Schutzrechte hinausgehen.

Angesichts des Leids von Kindern im Ersten Weltkrieg gründete Eglantyne Jebb 1919 in Großbritannien die Kinderorganisation Save the Children. 1923 verfasste sie die Erklärung über die Rechte des Kindes, die heute Bestandteil der UN-Kinderrechtskonvention ist. Es gelang ihr, den 1919 gegründeten Völkerbund auf die Rechte von Kindern aufmerksam zu machen, mit dem Ergebnis, dass der Völkerbund die (unverbindliche) Erklärung übernahm. 1924 wurde dann die Genfer Erklärung verkündet, in der zum ersten Mal besondere Rechte für Kinder offiziell anerkannt wurden.

Im Dezember 1948 verabschiedete die Vollversammlung der neu gegründeten Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Im Vordergrund stand die Vision, die Würde jedes einzelnen Menschen anzuerkennen und zu schützen. Die (unverbindliche) Menschenrechtserklärung markiert den Beginn des Bemühens um universale politische und rechtliche Durchsetzung der Menschenrechte als Aufgabe der Völkergemeinschaft. Die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte umfassen bürgerliche, politische und soziale Rechte, die auch Politiken für Kinder inspirierten. Am 20. November 1959 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen die historische, aber unverbindliche Erklärung der Rechte des Kindes, die die Genfer Deklaration um fünf weitere Artikel erweiterte. Mit der Erklärung wurden Kindern spezifische Rechte zuerkannt und die Verantwortung der Erwachsenen für deren Einhaltung untermauert, da "die Menschheit dem Kind das Beste schuldet, das sie zu geben hat" (Präambel). Kinder werden als Träger eigener Rechte und das Kindeswohl ("best interest of the child") bei der Einführung von Gesetzen und bei der Erziehung als Richtschnur des Handelns festgeschrieben. Seither ist der 20. November der Tag der Kinderrechte.

Die sogenannten Menschenrechte der zweiten Generation gelten als ein Meilenstein der Menschenrechtsgeschichte, da sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte konkretisierten und aus ihr internationale, rechtsverbindliche Standards machten. Während für westliche Länder vor allem bürgerliche Rechte wie Religions-, Rede- und Versammlungsfreiheit oder andere demokratische Grundsätze wichtig waren, standen für neue Mitglieder und Ostblockländer soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit, Gesundheit und Bildung im Fokus. Nach mehr als 15 Jahren wurden zwei konsensfähige UN-Pakte ausgehandelt und 1967 von der UN-Vollversammlung angenommen (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte), die auch vereinzelte kinderrechtliche Bestimmungen umfassen.

UN-Kinderrechtskonvention von 1989

In den 1970er Jahren rückte die extreme Ungleichheit von Lebenschancen von Mädchen und Jungen immer mehr in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Das galt vor allem für einen Großteil derer, die im Globalen Süden lebten und deren Lebenswelten durch Hungerkatastrophen, Bürgerkriege oder politische Umwälzungen massiv bedroht waren. 1979 rief die UN-Generalversammlung das "Internationale Jahr des Kindes" aus. Ein Jahr zuvor schlug Polen vor, ein Übereinkommen für Kinder zu erarbeiten, das völkerrechtlich für alle Staaten bindend sein sollte. Ein Jahrzehnt später und unter Beteiligung vieler Staaten und Nichtregierungsorganisationen wurde die UN-KRK einstimmig verabschiedet, die auf der Erklärung der Rechte des Kindes von 1959 fußte. Die UN-KRK trat am 2. September 1990 völkerrechtlich in Kraft und ist nicht nur das wichtigste Menschenrechtsinstrument für Kinder, sondern einer der am schnellsten und von allen Staaten mit Ausnahme der USA ratifizierten Menschenrechtsverträgen. Sie bündelt erstmals alle fundamentalen Menschenrechte – soziale, wirtschaftliche, kulturelle, zivile und politische – einschließlich Rechten, die auch in anderen universellen Menschenrechtsverträgen kodifiziert sind, in einem Dokument. Die UN-KRK greift dabei auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Menschenrechte, wie das Verbot des Sklavenhandels oder das Folterverbot, auf. Die 54 Artikel der UN-KRK sind in die drei Kategorien Förder- Schutz- und Beteiligungsrechte gegliedert. Im Allgemeinen werden vier Grundprinzipien als Grundlage für alle anderen Rechte der UN-KRK gesehen: Das Recht auf Nichtdiskriminierung (Artikel 2), das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung (Artikel 6), die Einhaltung der Kindesinteressen/des Kindeswohls (Artikel 3) und das Recht auf Beteiligung (Artikel 12). Zudem enthält sie rund 30 spezielle Kinderrechte, die es in keinen anderen Menschenrechtsdokumenten gibt, und kombiniert Verbote mit staatlichen Schutzpflichten.

Da internationale Menschenrechtsdokumente immer ein Ergebnis diplomatischer Gespräche, von Aushandlungsprozessen und Kompromissen sind, bleiben sie meist recht abstrakt und lassen Spielraum für unterschiedliche Auslegungen. Dies gilt auch für die UN-KRK, die versucht, unterschiedliche Rechtssysteme, kulturelle und religiöse Normen zusammenzubringen. Hier setzt Kritik an der UN-KRK an, da einige der erarbeiteten Kompromisse nicht zugunsten des Kindes ausfielen beziehungsweise ihre Realitäten nicht widerspiegeln. Inzwischen folgten drei Fakultativprotokolle (Beteiligung an bewaffneten Konflikten, Schutz vor Kinderhandel, -prostitution und -pornografie sowie Individualbeschwerderecht), und es liegen verschiedene Auslegungshilfen (Allgemeine Bemerkungen/General Comments) vor, die ein besseres Verständnis der Konvention ermöglichen.

Das große Verdienst der UN-KRK ist, dass sie das Bewusstsein für Kinder und ihre Rechte weltweit geschärft und einen Perspektivwechsel geschaffen hat: weg vom Bild des Kindes als nur schutzbedürftiges Rechtsobjekt hin zu einem eigenständigen Rechtssubjekt mit unveräußerlichen Rechten mit kindspezifischer Ausgestaltung. Staaten, die die UN-KRK unterzeichnet und ratifiziert haben, haben – unabhängig von der herrschenden Staatsform – viele Bestimmungen in nationales Recht aufgenommen oder Aktionspläne entwickelt. Doch trotz der Ratifizierung gibt es Vorbehalte zu einzelnen Bestimmungen und auch zu den Grundsätzen der UN-KRK. So haben beispielsweise einige ASEAN-Staaten Vorbehalte geltend gemacht, da einige Bestimmungen der UN-KRK im Widerspruch zu deren Verfassung und zu den Grundsätzen des Islams stünden, wie beispielsweise die Artikel zu Religionsfreiheit, Adoption, Staatsangehörigkeit, Inhaftierung oder Nichtdiskriminierung. Auch sehen beispielsweise die nationalen Gesetze der ASEAN-Staaten keine gemeinsame Definition des Begriffs "Kind" und "Altersgrenze" vor. So existieren unterschiedliche Mindestalter für Eheschließung oder strafrechtliche Verantwortlichkeit.

Daher gibt es auch regionale Kinderrechtsinstrumente, wie in Lateinamerika, im Pazifik, der EU und in Afrika, die sich an den Vorgaben der UN-KRK orientieren, diese aber ergänzen und an regionale Bedürfnisse und kinderrechtliche Herausforderungen anpassen. Die Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohl des Kindes von 1999 beispielsweise kam zustande, weil für viele afrikanische Staaten die UN-KRK afrikanische Werte und das afrikanische Erbe nicht widerspiegelt. Sie ist das rechtsverbindliche umfassende Instrument der Afrikanischen Union. Die Charta erweitert die Verpflichtungen aus der UN-KRK und greift neue Bestimmungen auf, die nicht explizit in der Konvention enthalten sind, wie etwa den Schutz von Kindern inhaftierter Mütter, von Kindern, die in der Apartheid leben, sowie den Schutz vor schädlichen soziokulturellen Praktiken wie etwa die Kinderehe. Gleichzeitig verweist sie auf die Pflichten von Kindern und jungen Menschen gegenüber der Familie, der Gesellschaft, dem Staat und der internationalen Gemeinschaft. Hier findet sich die Vorstellung von Kind und Kindheit im traditionellen Afrika, das auf dem Prinzip des Kommunalismus basiert, wieder, in der die Gemeinschaft Vorrang vor dem Individuum hat. So sieht Artikel 31 der afrikanischen Kinderrechtscharta im Gegensatz zu den Bestimmungen der UN-KRK eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und kommunalen Leben vor, einschließlich der Erfüllung von Pflichten.

Zur globalen Lage von Kindern

Die Lage auf dem Papier ist für Kinder heute so gut wie nie zuvor – doch wie sieht die Realität aus? 2020 gab es schätzungsweise weltweit etwa 2,35 Milliarden Kinder und Jugendliche bis 17 Jahren. Ein Großteil von ihnen wächst in Regionen auf, die ihnen schlechte bis sehr schlechte Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Seit 1990 bemüht sich die Staatengemeinschaft, mit den Millenniumsentwicklungszielen (2000–2015) und den globalen Entwicklungszielen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (2015–2030) die Rahmen- und Lebensbedingungen für benachteiligte Gesellschaften und Länder und somit auch für Kinder zu verbessern. Trotz einiger Erfolge verschärfen sich jedoch die Herausforderungen, denen Kinder und junge Menschen gegenüberstehen. Rund 690 Millionen Menschen lebten 2017 immer noch in extremer Armut, das heißt von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag, davon schätzungsweise 356 Millionen Kinder. Engpässe in der Nahrungsmittelversorgung wurden verschärft durch die Pandemie und den Klimawandel und haben erstmals seit 1998 einen Anstieg der extremen Armut verursacht. Mit Beginn der Pandemie fielen weltweit bis zu 124 Millionen Menschen in Armut und chronischen Hunger zurück.

Die globale Klimakrise ist auch eine Krise der Kinderrechte, weil sie gleichzeitig eine Wasser-, Ernährungs-, Bildungs-, Gesundheits- und Schutzkrise ist, die das Überleben von Kindern jetzt und in Zukunft gefährdet. Fortschritte im Bildungsbereich verlaufen schleppend, nicht zuletzt aufgrund von mangelnder Qualität in der Bildung und mangelnden Investitionen. 2018 waren 258 Millionen Kinder und Jugendliche gänzlich von Bildung ausgeschlossen. Die vollständigen oder teilweisen Schließungen von Schulen und Einrichtungen der frühkindlichen Bildung im Zuge der Pandemiebekämpfung haben erhebliche negative Folgen für die Gesundheit, den Schutz und die Bildungschancen von Kindern. Die Bildung von mehr als 1,6 Milliarden Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter wurde plötzlich unterbrochen, und mindestens 463 Millionen Schüler:innen in abgelegenen Gebieten konnten und können Fernunterrichtangebote (digital oder per Rundfunk) nicht wahrnehmen.

Armut bleibt die Hauptursache dafür, dass Kindheit für einen großen Teil der Kinder abrupt ein Ende findet. Viele Kinder müssen ihren Schulbesuch abbrechen und sind bedroht durch verschiedene Phänomene der gefährlichen Kinderarbeit, der Zwangsarbeit, moderner Sklaverei und Kinderhandel. 160 Millionen Kinder gehen Kinderarbeit nach, die meisten von ihnen in Afrika südlich der Sahara, und fast die Hälfte von ihnen, 79 Millionen, verrichten dabei gefährliche und ausbeuterische Arbeit. Erstmals seit zwei Jahrzehnten ist damit die Zahl ausgebeuteter Kinder gewachsen, und es wird befürchtet, dass durch die Pandemie neun Millionen Kinder dazu kommen könnten. Zu den 100 Millionen Mädchen, denen schon vor der Pandemie Kinderheirat drohte, kommen bis zu 10 Millionen hinzu. Klimawandel, Armut, politische Unruhen und Kriege zwingen Menschen und Familien, ihr Zuhause aufzugeben: 2020 gab es weltweit 281 Millionen Migrant:innen, davon 36 Millionen Kinder. Unter den rund 26,4 Millionen Flüchtlingen weltweit ist etwa die Hälfte unter 18 Jahre alt. Besorgniserregend ist auch die Verschlechterung der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, unter anderem verursacht durch die Pandemie. Es wird geschätzt, dass 13 Prozent der Jugendlichen im Alter von 10 bis 19 Jahren mit einer diagnostizierten psychischen Störung leben.

Globale Kinderpolitik – Quo Vadis?

Unbestritten ist heute, dass (globale) Kinderpolitik sich an den Kinderrechten, wie sie in der UN-KRK verankert sind, orientieren und zu ihrer Verwirklichung beitragen muss. Veraltete Kinder(schutz)gesetze wurden und werden von der UN-KRK inspiriert, novelliert und gegebenen gesellschaftlichen und religiösen Vorstellungen angepasst, wie beispielsweise beim Sansibarischen Kindergesetz von 2011. In den Gesetzesverhandlungen fanden Konsultationen mit Kindern statt, in denen sie Einfluss auf das neue Gesetz nehmen konnten. Das Besondere ist, dass die Wünsche der Kinder tatsächlich berücksichtigt wurden. Was das Gesetz daneben auszeichnet, ist der Aufbau von Strukturen, in denen das Nebeneinander von Kinderrechten, Islamischem Recht und traditionellem Recht diskutiert und Lösungen gefunden werden sollen.

Krieg und Flucht, Armut und Ungleichheit bleiben die Ursachen für viele der Probleme und Herausforderungen, die Mädchen, Jungen und junge Menschen daran hindern, gesund und frei von Gewalt und Ausbeutung aufzuwachsen und ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Die weltweit getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie seit Anfang 2020 haben viele erreichte Fortschritte um Jahrzehnte zurückgeworfen und Ungleichheiten verschärft. Hier muss die internationale Gemeinschaft gegensteuern. Angesichts der Klimakrise und der Umweltverschmutzung ist jedoch die größte Herausforderung für eine globale Kinderpolitik, effektive und ernstgemeinte Maßnahmen zu ergreifen, damit Kinder und zukünftige Generationen in Würde aufwachsen können. Das geht nicht, ohne ihre Partizipation zu stärken. Globale Kinderpolitik heißt, die Anstrengungen zu erhöhen, um die Rechte von Kindern und jungen Menschen, wie in der UN-KRK verbrieft, tatsächlich zu realisieren.

leitet das Programm "Die Rechte von Kindern und Jugendlichen" beim World Future Council und sitzt im Beirat des Masterstudiengangs "Master of Arts in Childhood Studies and Children’s Rights" an der Fachhochschule Potsdam.
E-Mail Link: samia.kassid@worldfuturecouncil.org