Die Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Nordafrika und im Nahen Osten ist problematisch. Ihre Chancen auf faire Lebensbedingungen sind in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gesunken: Die Zugänge zu einer berufsqualifizierenden Ausbildung und zu einem bildungsäquivalenten Arbeitsplatz haben sich bereits durch die Privatisierungspolitik seit den 1980er Jahren dauerhaft verschlechtert. Der Alltag der Jugend ist nach den Massenprotesten von 2011, dem "Arabischen Frühling", vielfach durch die Zunahme von Ungleichheit, Restriktionen und Gewalt geprägt. Diese Situation hat sich durch massive "Immobilisierung" infolge der Covid-19-Pandemie nochmals massiv verschärft. Die Generation
Ich verstehe diese Entwicklung als eine Enteignung von Lebenschancen. Die Kluft zwischen dem, "was ist", und dem, "was hätte sein können", hat massiv zugenommen, meist ohne Einflussmöglichkeiten der jungen Erwachsenen; das Ausmaß der strukturellen Gewalt, die den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen innewohnt, vergrößert sich.
Prekarität und Widerstand 2011
In den vergangenen drei Jahrzehnten haben radikale Marktöffnungen und massive Sparmaßnahmen in der arabischen Welt nicht nur zu einem Abbau sozialer Schutzmechanismen geführt, sondern auch zu einer Vertiefung der sozialen Ungleichheiten beigetragen.
Als im Winter 2010/11 eine Welle von Demonstrationen, Protesten und Unruhen in Tunesien ihren Anfang nahm, sahen sich kurz darauf viele arabische Regierungen mit Aufständen und Umbrüchen konfrontiert, die in Europa häufig als "Arabischer Frühling" bezeichnet wurden – ein Auflehnen vor allem der Jugend gegen autoritäre Regime. Nach der ersten Euphorie zeigte sich allerdings, dass der Wandel nur in wenigen Ländern wie erhofft eintrat: In Tunesien und Ägypten stürzten langjährige Diktatoren; Syrien, Libyen und Jemen gerieten in anhaltende Bürgerkriege, während sich die Regime in Algerien, Marokko, Bahrain und Jordanien zunächst als widerstandsfähig erwiesen und vorübergehend an der Macht blieben.
Dennoch bewirkten die Revolutionen und Umbrüche den größten Wandel im Nahen Osten seit der Entkolonialisierung und lösten gleichzeitig eine Reihe von Protesten gegen Ungleichheit und Prekarität in Europa und anderswo aus. Die Proteste ab Mitte Mai 2011 in Spanien bezogen sich ausdrücklich auf die Vorfälle in der arabischen Welt. Kurz darauf begannen Anti-Austeritäts-Aktivisten in Griechenland zu demonstrieren. Globale Initiativen wie "Occupy Wall Street" folgten unmittelbar.
Die Protestbewegungen rund um das Mittelmeer wurden offensichtlich vor allem von jungen Menschen ins Rollen gebracht. Die Zusammensetzung der Protestgruppen, ihre Entstehungsgeschichten und ihre Beweggründe variierten dabei von Land zu Land.
Vor diesem Hintergrund – zehn Jahre nach dem Beginn der Umbrüche und inmitten einer andauernden Pandemie – wird im Folgenden der Blick auf die heutige Lage der Jugend in der MENA-Region gelenkt.
Fünf Jahre danach: Ungewissheit
Wie haben sich die vielschichtigen Unsicherheiten, die im Nachgang der Umbrüche von 2011 erkennbar wurden, auf junge Menschen in der MENA-Region ausgewirkt? Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir – ein internationales Forschungsteam und die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) – im Sommer 2016 rund 9000 junge Erwachsene im Alter von 16 bis 30 Jahren befragen und im Winter 2016/2017 mehr als 100 qualitative Tiefeninterviews führen können.
Es zeigte sich, dass die Mehrheit der befragten Jugendlichen noch bei den Eltern lebte und nur knapp ein Drittel bereits einen eigenen Haushalt gegründet hatte. Letzteres gilt insbesondere für Frauen, die tendenziell jünger heiraten als Männer. Fast alle von ihnen bezeichneten sich selbst als "Jugendliche" (91 Prozent der Frauen, 93 Prozent der Männer) und nicht als "Erwachsene". Insgesamt lebten sie in einer Situation, die sich, je nach Gruppe, als "zwischen Ungewissheit und Zuversicht" beschreiben lässt.
Erstens, die Jugendgeneration steht einem anderen, sehr viel unsichereren Arbeitsmarkt gegenüber als ihre Eltern. Der Verlust von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor, der bereits in den 1980er Jahren einsetzte, hat sich durch die Privatisierung von Staatsbetrieben und dem Wegfall öffentlicher Unterstützungen weiter verschärft. Prekäre Arbeitsverhältnisse haben trotz einer Zunahme von Hochschulabsolventen zugenommen, was umso gravierender ist, als öffentliche Sicherungssysteme kaum vorhanden sind. Infolgedessen hat die Familie als soziales und wirtschaftliches Sicherungssystem weiter an Bedeutung gewonnen.
Zweitens ging damit eine neue Abhängigkeit der jungen Erwachsenen von ihren Eltern einher. Da sie sich ökonomisch kaum von ihnen lösen können, werden sie versorgungsabhängig und zunehmend chancenlos auf dem Arbeitsmarkt; es handelt sich daher um eine "gefangene Jugend".
Drittens ist diese Generation einer Reihe von neuen sozialen Erosionen ausgesetzt. Langfristig sind grundlegende ökonomische Sicherheiten durch die Zunahme prekärer Lohnarbeit verloren gegangen; mittelfristig haben sich seit den arabischen Revolutionen Krieg, bewaffnete Konflikte und direkte Gewalt ausgeweitet, die die soziale Sicherheit weiter untergraben, besonders in Syrien, Libyen, dem Jemen und im Irak. Während die Existenzsicherung gerade junger Familien bedroht ist, garantieren auch bisherige Routinen und Strategien keinen Erfolg mehr. Eine ganze Generation gerät so, zeitlich verzögert, in die soziale Marginalisierung. Dies geht einher mit der Zersplitterung der Mittelschicht, die in unterschiedlichen Graden ebenfalls von Unsicherheit betroffen ist.
Wie nehmen die jungen Erwachsenen vor diesem Hintergrund die Ereignisse des Jahres 2011 und deren Folgen im Rückblick wahr? Auf die Frage nach den Konsequenzen gaben 2016 etwa drei Viertel der Jugendlichen an, dass "die Ereignisse weitergehen", mit Ausnahme der Jugendlichen in Ägypten, Marokko und Tunesien, wo die Zustimmung etwas geringer war.
Ebenso häufig wurde der Aussage zugestimmt, dass "die USA die ganze Region aufhetzen" wollten. Die Wahrnehmung einer direkten Einmischung der USA in die Politik des Nahen Ostens, insbesondere in Bahrain, Palästina und im Jemen, beruhte dabei auf Alltagserfahrungen der Jugendlichen: Dazu gehören die Unterstützung Israels durch die USA, im Zweifelsfall gegen die Interessen der Palästinenser, der US-geführte Drohnenkrieg im Jemen sowie der Sitz der US-Marine in Bahrain. Das Muster dieser Reaktionen entspricht der in diesen Ländern besonders hohen Zustimmung zur Aussage, dass "externe Akteure die Ereignisse ausgelöst" haben und "internationale Akteure seit langem auf den Sturz arabischer Regime hinarbeiten". Obwohl in Marokko und Ägypten nur eine kleinere Gruppe diese Ansichten teilt, scheinen viele Jugendliche derartige Erzählungen durchaus plausibel zu finden. Solche imaginierten Ursachen können sich, unabhängig davon, ob sie reale Kräfte und Entwicklungen repräsentieren oder nicht, in politischen Absichten und Mobilisierung niederschlagen.
Um die Motive dieser Einschätzungen besser zu verstehen, erkundigten wir uns zudem nach den sozialen Zielen und Werten im Leben der jungen Erwachsenen, indem wir folgende Frage stellten: "Als Individuen haben wir Ideen und Visionen über unser persönliches Leben, unsere Einstellungen und unser Verhalten. Wenn Sie über mögliche Errungenschaften in Ihrem Leben nachdenken, wie wichtig sind die folgenden Punkte für Sie?"
Politik hingegen genießt kein großes Ansehen; sie werde von Privatinteressen und Vetternwirtschaft bestimmt. Die folgenden Aussagen aus den Befragungen verdeutlichen dies beispielhaft: Mohammad, ein 26-Jähriger aus dem Libanon, meint: "Politiker sind Lügner. (…) Sie laufen den Menschen hinterher, damit diese sie wählen." Buraq, ein 19-Jähriger aus Abyan im Jemen, fügt hinzu: "Wir bekommen nichts als Kopfschmerzen von der Politik; es geht nur darum, wie man lügt und lügt." Und Said aus Marokko ergänzt: "Die Politik in Marokko ist größtenteils eine Farce. (…) Die Programme aller Parteien sind identisch."
Dies korrespondiert mit dem (mangelnden) Vertrauen junger Erwachsener in verschiedene Institutionen: In Krisenzeiten ist die Familie die vertrauenswürdigste Institution, während Gewerkschaften und politische Parteien einen sehr niedrigen Stellenwert besitzen. Entsprechend sind Mitgliedschaften in Parteien und Verbänden eher selten, und das Interesse, über das Internet über Politik zu diskutieren, hält sich in Grenzen. Neue mediale Netzwerke werden in erster Linie genutzt, um mit Familie und Freunden in Kontakt zu treten, nur selten dienen sie der politischen oder religiösen Mobilisierung. Doch obwohl "Politik" im engeren Sinne von jungen Menschen und anderen Gruppen nicht unterstützt wird, engagieren sich Jugendliche dennoch sozial, insbesondere wenn dies mit Bedarfen im lokalen Kontext zusammenhängt.
Zehn Jahre danach: Unsicherheit
Einen Einblick in die Situation der MENA-Region im ersten Jahr der Pandemie liefert die von mir mitverfasste Young-Leaders-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Die Covid-19-Pandemie war zwar nicht die einzige und auch nicht in jedem Fall die schwerwiegendste Krise, die das tägliche Leben der jungen Leute in der MENA-Region 2020 beeinträchtigte, aber die negativen Auswirkungen waren dennoch immens. Die Krankheit bedrohte direkt das Leben von Freunden und Familienangehörigen und kostete sie manchmal das Leben; indirekt zerstörten die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die Bildungswege und die psychische Stabilität vieler junger Menschen. Die Studie zeigt, dass auch der Tagesablauf tiefgreifend verändert wurde, da die meisten Familien zeitweise komplett zu Hause bleiben mussten. Die Prioritäten bei den Ausgaben verlagerten sich von den Freizeitaktivitäten auf die Grundbedürfnisse. Die zwei folgenden Aussagen aus der Befragung zeigen dies exemplarisch:
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"Es war ein Jahr voller Hindernisse. Jedes Mal, wenn ich einen oder zwei Schritte vorwärts machte, folgten zehn Schritte zurück. Ich litt während des Jahres unter schweren Depressionen, aber ich bin stolz darauf, dass ich es heil überstanden habe. Vor Corona standen wir vor gewaltigen Herausforderungen wie der Arbeitslosigkeit – sie werden nicht verschwinden, wenn die Pandemie vorbei ist. Ich hoffe, dass wir alle finden werden, was wir uns wünschen."
"2020 war ein ereignisreiches Jahr, das viele Selbstverständlichkeiten infrage gestellt hat (Reisen, Begegnungen, Partys), uns aber auch mehr Zeit zum Nachdenken und zur Stärkung der Solidarität unter den Menschen gegeben hat. Die Überwindung der Krise im Jahr 2021 wird schwierig sein, kann aber Chancen für Veränderungen eröffnen."
Dabei ist eine Entwicklung besonders herauszustellen, da sie Aufschluss über die gravierenden Auswirkungen fortschreitender Marginalisierungen gibt: Selbst bei den Young Leaders, die als eher abgesichert gelten können, kam es durch die Pandemie zu ökonomischen Einbrüchen. Bei vielen hatte sich bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2020 die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Dies zeigt sich in der veränderten Verteilung von vier Möglichkeiten der Selbsteinschätzung: Der Anteil der Befragten, die die wirtschaftliche Lage ihrer Familien als "sehr gut" bewerten, sank von 23 Prozent vor der Pandemie auf nur noch 6 Prozent im Sommer 2020; und der Anteil derjenigen, die die Lage als "eher gut" einschätzt, fiel von 64 auf 53 Prozent. Deutlicher noch: Diejenigen, die die Lage als "eher schlecht" beurteilen, haben sich von 13 auf 31 Prozent mehr als verdoppelt; und der Anteil derjenigen, die die Lage gar als "schlecht" beschreiben, stieg von 0 auf 11 Prozent an. Alle Gruppen sind somit von Verlusten betroffen – insgesamt zwei Drittel der Familien der Young Leaders.
Der Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Status und der Lebenszufriedenheit lässt zudem auch Rückschlüsse auf weniger privilegierte Gruppen zu: Je besser die jungen Erwachsenen die aktuelle wirtschaftliche Situation ihrer Familie einschätzen, desto höher ist ihre Zufriedenheit mit dem Leben im Allgemeinen. Zwar schätzen alle Befragten, mit Ausnahme der wirtschaftlich Unsichersten, ihre eigene Zufriedenheit höher ein als die der Gesellschaft im Allgemeinen, doch die durchschnittliche Lebenszufriedenheit der Young Leaders ist mit 4,5 von 10 Punkten bemerkenswert niedrig. Es ist somit anzunehmen, dass die Konsequenzen der geschilderten Entwicklungen für benachteiligte Gesellschaftsschichten weitaus einschneidender sind.
Schluss
Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte in der MENA-Region haben die jungen Erwachsenen der Generation "Arabischer Frühling" fairer Lebens- und Zukunftschancen beraubt. Obwohl sich diese Gruppe mobilisierte und seit zehn Jahren immer wieder Proteste angeschoben und Widerstand geleistet hat, waren und sind diese kaum erfolgreich: Marginalisierung und Enteignung von Lebenschancen schreiten voran, während es gleichzeitig auch Gewinner dieser Entwicklungen gibt – innerhalb und außerhalb der betreffenden Länder (etwa international agierende Getreide- oder Waffenhändler).
Für die Jugendlichen hingegen ist das, "was möglich gewesen wäre", in weite Ferne gerückt. Soziale Mobilität scheint nur noch in eine Richtung zu funktionieren, Sicherheit wird kaum mehr mit staatlichen Institutionen verbunden, und ausländische Bildungsangebote und Arbeitsplätze werden de facto unzugänglich. Die Prekarität unter jungen Erwachsenen hat massiv zugenommen, doch noch immer sind es die Marginalisierten, die ökonomischen Krisen und Krankheiten besonders ausgesetzt sind. Wenn Ressourcen zu knapp werden, um die Gegenwart zu meistern, nimmt nicht nur die Unsicherheit zu – die Ungewissheit der Zukunft wird anders eingehegt: Wissen und Glauben stehen auf dem Prüfstand, und Ambitionen verändern sich.
Ob dies ein Jahrzehnt nach dem "Arabischen Frühling" erneut zu breiten Aufständen gegen die Enteignung von Lebenschancen führt, ist ungewiss. Die jüngeren Entwicklungen in Tunesien, wo Präsident Kais Saied im Juli 2021 nach Protesten gegen die mangelhafte Pandemie-Eindämmungspolitik den Regierungschef Hichem Mechichi absetzte und das demokratisch gewählte Parlament entmachtete, zeigen jedoch, dass manche Errungenschaft von 2011 angesichts mangelnder Zukunftschancen der Jugend auf tönernen Füßen steht.