Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" soll die tiefe Verwurzelung von Jüd*innen im geografischen Raum des heutigen Deutschland hervorheben. Ein ungebrochenes Narrativ kann jedoch für den Zeitraum zwischen den Jahren 321 und 2021 kaum konstruiert werden. Nicht nur im öffentlichen Gedächtnis ist jüdisches Leben in Deutschland vom tiefen Bruch der Shoah überschattet. Auch in den Biografien der heute in Deutschland lebenden Jüd*innen ist eine Kontinuität kaum erkennbar.
Jüdisches Leben in Deutschland nach der Shoah ist vor allem durch drei große Einwanderungswellen geprägt. Die erste bestand aus "Displaced Persons" aus Osteuropa und Remigrant*innen. Sie schlossen sich den wenigen deutschen Jüd*innen an, die im Versteck überlebt hatten oder aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern zurückkehrten. Die zweite und größte Welle begann mit der deutschen Vereinigung 1990 und endete mit dem Jahreswechsel 2004/05. Sie bestand aus den sogenannten Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion, die bundesweit verteilt wurden. Dadurch wurden viele jüdische Gemeinden wiederbelebt oder neu gegründet. So entstand erstmals seit der Shoah wieder jüdisches Leben fernab der Großstädte. Einige Jahre nach dem Ende der zweiten Welle begann eine dritte, noch andauernde Einwanderungswelle von Jüd*innen aus Israel, den Vereinigten Staaten, Kanada, Lateinamerika und anderen Ländern. Sie ließen sich primär in urbanen Ballungszentren – allen voran Berlin – nieder. Zur Zeit des Mauerfalls lebten etwa 30.000 Jüd*innen in der Bundesrepublik und ein paar Hundert in der DDR. Heute leben zwischen 118.000 und 275.000 Jüd*innen in Deutschland – je nach Definition von jüdisch.
Durch diese Einwanderungswellen ist die jüdische Bevölkerung Deutschlands sehr heterogen geworden. Jüdische Zuwanderung seit 1990 ist insofern besonders, als sie das deutsche Narrativ einer erfolgreichen Überwindung der Nazi-Vergangenheit zu stützen scheint. Trotz dieser Sonderstellung sollte jüdische Einwanderung im Rahmen einer übergeordneten Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik betrachtet werden. 2019 hatte mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund.
Eine neue Stimme
"Jalta" wurde 2017 von Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro und Lea Wohl von Haselberg gegründet und erschien bis 2020 in sieben halbjährlichen Ausgaben, die jeweils einem Thema jüdischer Selbstpositionierung gewidmet waren: Selbstermächtigung, Desintegration, Allianzen, Gegenwartsbewältigung, Exile, Veruneinigung und Übersetzbarkeit. Mit Ausnahme von Brumlik gehören alle Herausgeber*innen der jungen jüdischen Generation an, und bis auf die Künstlerin Schapiro haben alle wissenschaftliche Ausrichtungen, was den akademischen Stil von "Jalta" prägt. Nach einem Jahr ohne Veröffentlichung soll die Zeitschrift 2022 als Buchreihe fortgesetzt werden.
Ein wichtiges Anliegen von "Jalta" ist es, auf der Grundlage der Idee einer postmigrantischen Gesellschaft ein identitätsstiftendes Projekt für die junge jüdische Generation zu schaffen. Diese Generation wird dabei in erster Linie als wütend dargestellt: Junge Jüd*innen sind wütend über das Narrativ, dass Antisemitismus in Deutschland primär in Geschichtsbücher gehöre, während sie selbst im Alltag immer wieder antisemitische Diskriminierung erleben; sie sind wütend über die Instrumentalisierung von Antisemitismus, über feste Rollenzuschreibungen sowie über die normativen Vorstellungen von Jüd*innen und Judentum in jüdischen Gemeinden, in die sie sich reingezwängt fühlen. "Jalta" soll dieser wütenden Generation nicht nur eine Stimme verleihen, sondern ihr gleichermaßen die Perspektive bieten, dass ein besseres, postmigrantisches Deutschland denkbar und somit möglich ist.
In ihren Eröffnungsworten wandte sich die Redaktion mit dem Ruf "Lasst uns Allianzen bilden" an "alle Mitglieder der Post-Migrationsgesellschaft".
Nach dem Willen ihrer Macher*innen soll die Zeitschrift einen Beitrag zur postmigrantischen Wissensproduktion leisten, indem sie übersehene Perspektiven innerhalb der deutschen Gesellschaft sichtbar macht. "Jaltas" Verknüpfung von wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Werken aus jüdischen und nicht-jüdischen Händen gehört zu den "neuen Verflechtungen", die Foroutan zufolge "Empathie erzeugen und politische Einstellungen hervorbringen [können], auf deren Grundlage sogenannte postmigrantische Allianzen entstehen. Diese definieren sich nicht mehr über migrantische Biografien, Nationalität oder Religionszugehörigkeit, sondern über eine geteilte Haltung, die auf Gleichheit, pluraler Demokratie und der aktiven Akzeptanz von Diversität und Vielfalt beruht."
Die Namenswahl
Der Name "Jalta" steht für die drei Beziehungsgefüge, denen die Zeitschrift eine neue Perspektive verleihen soll: Beziehungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, Beziehungen der jüdischen Gemeinschaft zur Mehrheitsgesellschaft sowie Beziehungen der jüdischen Minderheit zu anderen Minderheiten. Der Name speist sich sowohl aus der jüdischen als auch der europäischen Tradition. Zunächst zur jüdischen Tradition: Jalta war die prominenteste der wenigen Frauen, die im Babylonischen Talmud, also vor etwa 1700 Jahren, namentlich genannt wurden. Diese Frauen "sind Figuren des Widerstands gegen Autorität, des Protests und des kritischen Hinterfragens von Exklusionen".
In einer bekannten talmudischen Erzählung reagiert Jalta wütend auf die frauenfeindliche Verletzung eines reisenden Gelehrten. Nach der Mahlzeit an ihrem Tisch verweigert dieser ihr die Beteiligung am Weinsegen. Daraufhin geht Jalta in die Weinkammer, zerschlägt vierhundert Krüge Wein und beschimpft den Gelehrten.
In der europäischen Tradition ist Jalta zudem der Schauplatz jener berühmten Konferenz, auf der die Alliierten im Februar 1945 die Nachkriegszukunft Deutschlands aushandelten. Der Ortsname ist dadurch mit der Aufteilung Deutschlands assoziiert und deshalb ein Prisma für jüdische Perspektiven auf beiden Seiten der Mauer. Hinzu kommt der Siegesmythos dieses Ortes für aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderte Jüd*innen. Auf einer anderen Ebene steht Jalta für das nahende, aber zum Zeitpunkt der Konferenz noch nicht herbeigeführte Ende der Shoah. Dies spiegelt sich im Schwerpunkt der Zeitschrift wider, die fortdauernde Präsenz der Shoah und des Antisemitismus im postnationalsozialistischen Deutschland zu beleuchten.
Schließlich steht die Jalta-Konferenz für eine europäische Neuordnung. In diesem Sinn ist die Zeitschrift auch Ausdruck eines Bewusstseins für die zunehmende Bedeutung des deutschen Judentums für Europa. Denn auch wenn viele jüdischen Migrant*innen sich nicht unbedingt als deutsche, sondern als postsowjetische, israelische, amerikanische, britische oder andere Jüd*innen identifizieren, sind langfristige demografische Prozesse in Gang gesetzt worden, die Deutschland und besonders Berlin zu Orten einer bedeutenden jüdischen Diaspora werden lassen können, wenn die in den Migrationswellen Zugewanderten mit der Zeit Wurzeln schlagen.
Intergenerationelle Konflikte
Um sich den komplexen räumlichen, sozialen und zeitlichen Achsen anzunähern, die der Name der Zeitschrift aufwirft, lohnt es sich, zunächst darauf zu schauen, wie die intergenerationellen Beziehungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in "Jalta" dargestellt werden. So werden etwa Reibungen zwischen der zweiten und der dritten Generation nach der Shoah angesprochen: Während erstere dabei als eher konservativ und orthodox-nah beschrieben wird, erscheint letztere als eher progressiv beziehungsweise keiner Denomination angehörig. "[D]ie in Deutschland dominanten Figuren in Gemeinden und im öffentlichen Raum" stammen der Sozialanthropologin Dani Kranz zufolge "zum größten Teil aus der traumatisierten Zweiten Generation (…). Diese Generation ist im Gegensatz zur Dritten durchaus eine Erfahrungskohorte und viel weniger heterogen als die Alters-, aber nicht Erfahrungskohorte der Dritten Generation."
Auch wenn es Zweifel gibt, ob angesichts der Diversität junger Jüd*innen überhaupt von einer Generation im soziologischen Sinne zu sprechen ist: Lässt sich die jüngere Generation nicht trotzdem als Erfahrungskohorte betrachten, die in den drei oben erörterten Beziehungsgefügen vergleichbare Erfahrungen macht und diese über geeignete Medien und Foren teilt? "Jalta" ist eines dieser Medien und als Avantgarde-Zeitschrift besonders geeignet, diese Erfahrungen zu erfassen, da "eine Generation am ehesten dort zu greifen ist, wo sie sich deutlich (theoretisch oder künstlerisch) artikuliert".
2017 hatten etwa 80 Prozent der Jüd*innen in Deutschland einen Migrationshintergrund.
So herrsche eine große Diskrepanz zwischen der Geborgenheit, die junge Jüd*innen in jüdischen Gemeinden finden möchten, und ihrem Gefühl, gesellschaftsrelevante Themen, die sie für sich persönlich und für die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland für wichtig erachten, nicht in den innerjüdischen Diskurs einbringen zu dürfen, schreibt etwa Laura Cazés von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
Um diese Themen anzugehen, bedient sich "Jalta" einer Strategie, die der Soziologe Erol Yıldız als "Erinnerungsarchäologie" bezeichnet. Dabei werden Narrative geschaffen, die hybride Identitäten widerspiegeln, indem "Geschichten, die bisher nicht erzählt wurden, in das öffentliche Gedächtnis geholt" werden".
Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft
Eine weitere Besonderheit von "Jalta" ist, dass mit ihr bewusst die Öffentlichkeit gesucht wird, um Wandel zu bewirken. In anderen jüdischen Foren wird die nicht-jüdische Öffentlichkeit oft aus der Befürchtung heraus vermieden, Streitigkeiten unter Jüd*innen könnten Antisemit*innen in die Hände spielen.
Die Hinwendung zur nicht-jüdischen Öffentlichkeit folgt aber auch aus dem Kernanliegen jünger Jüd*innen, nicht mehr so starr zwischen ihren jüdischen und anderen Identitäten zu trennen. Auseinandersetzungen um wichtige Themen, die jüdisches Leben in Deutschland betreffen, sollten in Wechselwirkung mit gesamtgesellschaftlichen Prozessen ausgehandelt werden, so das Credo. Beispiele dafür sind die öffentliche Distanzierung der Zeitschrift von "Juden in der AfD"
Ein weiteres Ziel der Sichtbarmachung jüdischer Diversität ist die Herausforderung mehrheitsgesellschaftlicher Stereotype und der medialen Repräsentationen davon, was als jüdisch konstruiert wird und wer Jüd*innen repräsentiert.
Ferner wird nicht nur die Konstruktion des Jüdischen, sondern auch des Deutschen deutlich vernehmbar infrage gestellt. So beschreibt Dani Kranz gegenwärtiges jüdisches Leben in Deutschland als "ein sehr lebhaftes, heterogenes ‚Biotop‘, in dem Juden ihr Recht auf Mitsprache in lautstarker Kakophonie einfordern (…) Sie fordern auch eine Diskussion darüber, was als Deutsch konstruiert wird, und verlangen (…) die politische Mitsprache in diesem Land."
Die zweite Generation war im Alltag noch häufig mit lebenden Täter*innen und ihrer Vorstellungswelt konfrontiert. In ihren Beiträgen in "Jalta" beschäftigten sich Vertreter*innen dieser Generation damit, warum sich ihre Eltern so kurz nach der Shoah unter den Täter*innen niedergelassen hatten oder ob sie als Kinder von Exilant*innen nach Deutschland zurückkehren durften. Sie suchten nach geeigneten Gesprächspartner*innen in der deutschen Gesellschaft, um ihre Rückkehr und ihren Verbleib in Deutschland zu legitimeren. Viele glaubten, Verbündete in ihren Altersgenossen*innen der 68er-Generation zu finden.
Mit den Erfolgen der AfD ist Antisemitismus vielerorts wieder salonfähig geworden, was eine riesige Herausforderung für jüdisches Leben in Deutschland ist. "Jalta" zeigt, wie die dadurch vertieften Risse im Versprechen eines "neuen" Deutschlands junge Jüd*innen verstört und erzürnt. Und wie die talmudische Jalta möchten sie ihre Wut nicht zügeln, sondern zur Mobilisierung nutzen. "Jalta" bricht mit der Bereitschaft der vorigen Generation, sich versöhnlich zu zeigen. Stattdessen deckt die Zeitschrift Kontinuitäten von antisemitischen Einstellungen in allen postnationalsozialistischen Staaten auf und setzt sie dem Kernethos des wiedervereinigten Deutschlands entgegen, "Aufarbeitungsweltmeister" zu sein. Wie im Begriff "postmigrantisch" bedeutet das Präfix "post-" in "postnationalsozialistisch" keine Abgeschlossenheit und kein Überwundenhaben, sondern es wird damit eine Gesellschaft beschrieben, in der das nationalsozialistische Erbe gegenwärtig bleibt.
"Jalta" zeigt dies im Umgang der Bundesrepublik mit der Wiederverleihung entzogener Staatsbürgerschaften;
Minderheit unter Minderheiten
Bei den Themen, die Jüd*innen in der deutschen Gesellschaft zugewiesen werden – Antisemitismus, Shoah, Israel – möchten die "Jalta"-Verantwortlichen eigene Töne setzen, um nicht "als fremdernannte Juden* in irgendwelchen kleinen Metropolen zwischen AfD-Mandat und Salafistenhochburg das Land zu retten", so der Regisseur Arkadij Khaet.
Geteilte Migrationserfahrungen sind eine mögliche Grundlage für neue Gesprächskonstellationen: Die Geschichten anderer Migrant*innen können inspirieren und ermutigen, in Deutschland trotz Diskriminierung eine Heimat zu finden. So betonen einige der "Jalta"-Autor*innen, dass Allianzen nicht über Identitäten, sondern vielmehr über gemeinsame politische Ziele und Solidarität gebildet werden sollten.
Auch der Israel-Palästina-Konflikt erschwert die Allianzbildung zwischen Jüd*innen und Muslim*innen. Muslim*innen wird vorgeworfen, sie täten nicht genug, um Antisemitismus in den eignen Reihen zu bekämpfen, während Jüd*innen vorgeworfen wird, sie ließen sich für antimuslimische Stimmungsmachung von rechts und links instrumentalisieren.
Es gibt auch Hürden zur Bildung von Allianzen mit anderen Minderheiten und diskriminierten Gruppen. Einige Autor*innen berichten von Antisemitismus in LGBTQI*-Szenen und schildern Versuche der Selbstbehauptung jüdischer LGBTQI*-Initiativen.
Fazit
Seit 1990 hat jüdisches Leben in Deutschland durch Migration stark zugenommen und ist zugleich sehr vielfältig geworden. Die deutsche Gesellschaft ist in der Zeit insgesamt heterogener geworden. Diese beiden Faktoren tragen zu veränderten Selbstpositionierungen junger Jüd*innen in Deutschland bei. Nach dem Willen ihrer Gründer*innen soll die Zeitschrift "Jalta" Anerkennung für diese Diversitäten in der jüdischen Gemeinschaft sowie der Allgemeingesellschaft schaffen. Denn junge Jüd*innen wollen nicht länger von oben und von außen definiert werden. In wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Beiträgen setzt "Jalta" Themen, die die junge jüdische Generation bewegen und die Führungsriege der jüdischen Gemeinden herausfordern. Wütend prangern sie auch die vermeintlich erfolgreiche deutsche Vergangenheitsbewältigung an, da das Selbstlob die Auseinandersetzung mit anhaltenden Diskriminierungen verhindert. Um diese zu thematisieren und bekämpfen, werden in "Jalta" Allianzen mit anderen diskriminierten Minderheiten und Gruppierungen propagiert. Gemeinsam sollen Gegendiskurs und Handlungsansätze entworfen werden, die postmigrantische Perspektiven sichtbar machen und die Trennlinien innerhalb der deutschen Gesellschaft nicht über Herkunft oder Religion, sondern über demokratische Werte und die Anerkennung von Diversität definieren. Es bleibt zu hoffen, dass "Jalta" das auch als Buchreihe weiterhin gelingen wird.