Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio verzichtete der Algerier Fethi Nourine in der ersten Runde der Judo-Wettkämpfe auf seinen Start, um einer möglichen Begegnung mit dem Israeli Tohar Butbul aus dem Weg zu gehen. Der Sudanese Mohamed Abdalrasool gab vor der zweiten Runde ebenfalls kampflos auf. Die beiden Judoka ergänzen eine Reihe von Sportler*innen, die internationale Wettkämpfe gegen israelische Athlet*innen verweigern. Schon einen Tag vor Beginn der Spiele wurde der Kreativdirektor der Eröffnungsfeier von seinen Aufgaben entbunden, da er in einer Fernsehshow einige Jahre zuvor Witze über die Shoah gemacht hatte. Zudem zeigte das Internationale Olympische Komitee zum wiederholten Mal einen verharmlosenden Umgang mit den dunklen Flecken der Sportgeschichte, als in einem zweiminütigen Werbevideo Ausschnitte des NS-Propagandafilms von Leni Riefenstahl zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin ohne jegliche historische Einordnung verwendet wurden.
Diese aktuellen Ereignisse – innerhalb weniger Tage auf der größten Bühne des Sports – verdeutlichen, dass antisemitische Vorkommnisse im Sport gleichermaßen eine historische und gegenwärtige Herausforderung sind. Das tatsächliche Ausmaß wird im öffentlichen Diskurs indes häufig unterschätzt oder allein auf die Verbrechen der NS-Zeit reduziert. Jedoch sollte die Thematisierung dieser Problematik nicht dazu führen, die positive Bedeutung des Sports für die jüdische Gemeinschaft und den Beitrag jüdischer Sportler*innen zum deutschen Sport zu vergessen.
Partizipation in der deutschen Turnbewegung
Bereits ab dem 19. Jahrhundert waren Jüdinnen und Juden in deutschen Turn- und Sportvereinen aktiv und engagiert; diesbezüglich können drei Phasen unterschieden werden:
In der zweiten Phase ab den 1840er Jahren wurden in der Turnbewegung demokratisch-liberale Haltungen präsenter, fortan stand jüdischen Personen ebenfalls die Möglichkeit zur Mitwirkung bei Vereinsgründungen oder die Ausübung von Vereinsämtern offen. Hinzu kam 1869 die (formale) rechtliche Gleichstellung in den Gebieten des Norddeutschen Bundes durch das "Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung".
Doch die scheinbare rechtliche und soziale Emanzipation erwies sich als trügerisch: Ab der dritten, spätestens auf das Ende des 19. Jahrhunderts zu datierenden Phase kamen auch im Vereinswesen wieder antisemitische Strömungen auf. Der seit Jahrhunderten bestehende und in erster Linie religiös begründete Antijudaismus wandelte sich zum modernen Antisemitismus, der dadurch gekennzeichnet ist, dass Jüdinnen und Juden in einem System aus Ressentiments und Verschwörungserzählungen für komplexe und ambivalente Aspekte einer modernen Gesellschaft verantwortlich gemacht werden.
Offener Judenhass in den Turnvereinen war zu dieser Zeit zunächst vor allem auf österreichischem Gebiet virulent. Im Turnkreis XV, der die Gesamtheit der österreichischen Turnvereine verwaltete, wurde 1901 ein "Arierparagraph" eingeführt, der jüdische Menschen von der Vereinsmitgliedschaft ausschloss.
Parallel zur in Deutschland dominanten Turnbewegung verbreiteten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts die englisch geprägten sports auch international. Bereits für diesen Zeitraum sind herausragende Leistungen jüdischer Athlet*innen dokumentiert, wie etwa von Daniel Mendoza, einem der "Väter des modernen Boxens",
Anfänge der jüdischen Turn- und Sportbewegung
Der immer stärker aufkeimende Antisemitismus hatte bereits 1895 in Konstantinopel und 1897 in Wien zur Gründung eigener jüdischer Turnvereine geführt.
Den Auftakt jüdischer Vereinsgründungen auf deutschem Boden machte 1898 Bar Kochba Berlin. Der Verein wurde in der Folge auch Mitglied der 1903 geschaffenen Jüdischen Turnerschaft, die jedoch zunächst vor allem Vereine aus Mittel- und Osteuropa sowie Palästina umfasste. Der Erfolg der Bewegung in Deutschland blieb zunächst überschaubar,
Dies galt insbesondere für den zum Massenphänomen aufsteigenden Fußball. Zweifellos eine der wichtigsten Persönlichkeiten aus der frühen Zeit des deutschen Fußballs war der jüdischstämmige Vereinspionier Walther Bensemann, der ab 1889 mehrere Fußballvereine in Süddeutschland mitgründete, 1898 die ersten internationalen Spiele deutscher Auswahlteams organisierte und 1900 als Delegierter an der Gründung des Deutschen Fußball-Bunds beteiligt war. Darüber hinaus schuf und leitete er das erste deutsche und bis heute bestehende Sportmagazin "Kicker", bis ihn die Politik der Nationalsozialisten 1933 zur Emigration in die Schweiz trieb.
Zum erfolgreichsten jüdischen Fußballteam im deutschsprachigen Raum entwickelte sich Hakoah Wien. Siege gegen europäische Spitzenvereine und das Erringen der österreichischen Meisterschaft 1925 wurden weit über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen.
Diesen "Vorzeigeathlet*innen" zum Trotz nahm nach dem Ende des Ersten Weltkriegs der Antisemitismus auch im Sport massiv zu – unter anderem genährt durch die "Dolchstoßlegende". Dabei hatten sich während des Kriegs selbst die zionistisch geprägten Vereine den Interessen des Kaiserreichs angeschlossen und eigene Abteilungen zur militärischen (Vor-)Erziehung für künftige Generationen geschaffen, während ihre Mitglieder an der Front kämpften. Die wachsende Bedrohung für Jüdinnen und Juden wurde unterschiedlich interpretiert, wie sich anhand der verschiedenen Verbandsgründungen nachvollziehen lässt.
Die nationaljüdisch orientierten Vereine der Jüdischen Turnerschaft konstituierten sich 1919 unter dem Namen "Deutscher Makkabi Kreis" neu und wurden zwei Jahre später Teil des Makkabi-Weltverbands mit Sitz in Berlin.
Die zweite große Strömung der jüdischen Turn- und Sportbewegung organisierte sich im 1933 gegründeten Sportbund Schild, der auf dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) von 1919 basierte. Der RjF verstand sich deutsch-national und antizionistisch und stand dementsprechend ideologisch in starker Konkurrenz zu Makkabi. Bereits Mitte der 1920er Jahre existierten RjF-Sportgruppen, teilweise auch unter dem Namen Schild, doch erst mit dem Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den allgemeinen Turn- und Sportvereinen stieg ihre Mitgliederzahl deutlich an. Ab 1933 bot der Sportbund Schild ein breites Spektrum an Sportarten an und organisierte beispielsweise eine eigene Fußball-Reichsmeisterschaft.
Neben Makkabi und Schild gab es in der Zeit vor 1933 außerdem jüdische Vereine der Arbeitersportbewegung und solche, die sich als neutral betrachteten. So hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in Westdeutschland der Verband jüdisch-neutraler Turn- und Sportvereine (VINTUS) gebildet. Nach 1933 schloss sich die Mehrheit der 18 VINTUS-Vereine der Makkabi-Bewegung an.
Insgesamt standen die jüdischen Turn- und Sportverbände "vom Beginn ihrer Gründung an im Spannungsfeld konkurrierender Sport- und Gesellschaftsmodelle, suchten sie ihren Weg zwischen antisemitischer Ausgrenzung, assimilatorischer Anpassung und zionistischer Utopie".
"Wenn die Olympiade vorbei, schlagen wir die Juden zu Brei"
Gretel Bergmann, 1934. (© Bildarchiv Pisarek / akg-images)
Gretel Bergmann, 1934. (© Bildarchiv Pisarek / akg-images)
Schon 1933 begannen deutsche Sportorganisationen in vorauseilendem Gehorsam, Jüdinnen und Juden auszuschließen. Trotz omnipräsenter Diskriminierungen und unberechenbarer Eingriffe in den Sportbetrieb im nationalsozialistischen Deutschland stiegen die Mitgliederzahlen in den jüdischen Sportvereinen auf fast 50.000 an.
Abseits des von der Reichssportführung propagierten Bilds eines toleranten Deutschlands wurde in den Reihen der SA bereits die Parole "Wenn die Olympiade vorbei, schlagen wir die Juden zu Brei!" skandiert.
Dem Sporthistoriker Henry Wahlig zufolge hatte die Sportbetätigung von Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit vor allem zwei Effekte: Zum einen stiftete der Sport in einer zerfallenden und unterdrückten jüdischen Bevölkerung Identität und Zusammenhalt, zum anderen bot er die Chance zur Entdeckung und Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins, indem der im Alltag erfahrenen Zuschreibung der auch körperlichen Minderwertigkeit entgegengewirkt und die Widerstandsfähigkeit gestärkt werden konnte.
Neuaufbau des jüdischen Sports
Nach Kriegsende lebten bis Beginn der 1950er Jahre etwa 250.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland als "Displaced Persons" in Kasernen, auf Bauernhöfen oder in ehemaligen Zwangsarbeiterlagern. Die übergroße Mehrheit von ihnen wartete auf die Möglichkeit zur Ausreise nach Israel/Palästina oder in andere Emigrationsländer. Insbesondere in der amerikanischen Besatzungszone wurde den Displaced Persons eine weitgehende politische und kulturelle Autonomie gestattet. Fernab der Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung bildete sich ein selbstverwaltetes Gemeindewesen mit Schulen, Ausbildungsstätten und Kultureinrichtungen.
Die türkische und die deutsche Basketballmannschaft bei den European Maccabi Games 2015 in Berlin. (© picture-alliance, dpa | Rainer Jensen)
Die türkische und die deutsche Basketballmannschaft bei den European Maccabi Games 2015 in Berlin. (© picture-alliance, dpa | Rainer Jensen)
Entgegen dieser Erwartung entstanden jedoch wieder jüdische Gemeinden, und eineinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende wurden auch wieder jüdische Sportvereine gegründet. Der TuS Maccabi Düsseldorf (ehemals SC) bildete 1961 den Auftakt, weitere Vereine in Münster und Köln folgten, bis es 1965, wenige Tage nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik, schließlich zur Gründung der Dachorganisation Turn- und Sportverband Makkabi Deutschland kam. Nach anfänglichem Widerstand von internationaler Seite wurde der Verband Mitglied der Makkabi-Weltunion, ein weiterer Meilenstein war die Teilnahme an der 8. Maccabiah 1969 in Israel unter schwarz-rot-goldener Flagge.
Insbesondere in den ersten Jahrzehnten nach ihrer (Neu-)Gründung erfüllten die deutschen Makkabi-Vereine neben der bloßen Bereitstellung eines Sportangebots zwei wesentliche Funktionen: Die Schaffung eines Ankerpunkts und sicheren Rückzugsorts für ihre Mitglieder, sowie die Sichtbarmachung des Lebens der – mit weniger als 30.000 Angehörigen bis in die 1990er Jahre noch sehr kleinen – jüdischen Gemeinde. Heute hat Makkabi Deutschland mehr als 5.000 Mitglieder, von denen etwa 40 Prozent jüdisch sind.
Antisemitismus im Sport der Gegenwart
Häufigkeit erlebter antisemitischer Vorfälle von Mitgliedern deutscher Makkabi-Sportvereine, in Prozent. (© Lasse Müller)
Häufigkeit erlebter antisemitischer Vorfälle von Mitgliedern deutscher Makkabi-Sportvereine, in Prozent. (© Lasse Müller)
Die Konfrontation mit subtilem und offen bekundetem Antisemitismus ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland auch heute ein Teil ihrer Lebensrealität. Dies offenbaren die dokumentierten Vorkommnisse auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen ebenso wie Erhebungen antisemitischer Einstellungsmuster in der deutschen Bevölkerung, etwa im Rahmen der "Mitte-Studien".
Einen Überblick über die gegenwärtige Verbreitung antisemitischer Vorfälle gegenüber Mitgliedern der deutschen Makkabi-Sportvereine liefert eine aktuelle quantitative Erhebung des von Makkabi Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland getragenen Projekts "Zusammen1 – Für das, was uns verbindet".
Die von den Teilnehmer*innen der Studie geschilderten Erfahrungen offenbaren darüber hinaus die inhaltliche Bandbreite antisemitischer Vorfälle: Verzeichnet wurden unter anderem Äußerungen im Kontext von Verschwörungsmythen ("Ihr Juden habt das mit dem Corona gemacht!") wie auch verschiedene Diskriminierungen mit Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus (Post-Shoah-Antisemitismus). Zum Beispiel beschrieb ein Teilnehmer, wie die gegnerische Mannschaft in der Umkleidekabine lachend fragte, warum kein Gas aus den Duschen käme. Als ebenfalls präsentes Phänomen konnte der israelbezogene Antisemitismus identifiziert werden, bei dem als jüdisch wahrgenommene Personen kollektiv für die Handlungen des Staates Israel verantwortlich gemacht werden, wie es die Vorfallsbeschreibung eines Fußballers aufzeigt: "Nach einer Niederlage wurden wir von Spielern der gegnerischen Mannschaft als ‚Scheiß Juden‘ beschimpft – zudem zeigten sie uns T-Shirts unter ihren Trikots, auf denen Free Palestine stand!" Die Regelmäßigkeit und Intensität der Vorfälle hat Auswirkungen auf das Sicherheitsempfinden der Sportler*innen: So gaben 38 Prozent an, sich beim Tragen von Makkabi-Kleidung außerhalb der Sportanlagen unsicher zu fühlen.
Aktivitäten zur Bekämpfung von Antisemitismus durch den organisierten Sport in Deutschland werden von den Befragten gemischt bewertet: 51 Prozent sind (eher) der Meinung, dass das Thema von den Verbänden ignoriert werde. Diese Wahrnehmung könnte auch eine Ursache für ein "Underreporting" hinsichtlich der Meldung erlebter Vorfälle durch die Betroffenen sein. Lediglich 38 Prozent der Befragten gaben selbst im Rückblick auf besonders eindrückliche Vorfälle an, auf eine Meldung an eine Stelle des organisierten Sports hingewirkt zu haben. Doch ohne die Sichtbarmachung der Häufigkeit und Intensität der Vorkommnisse bleibt Handlungsdruck für die Verantwortlichen in Politik und Sport aus, die Folge sind Bagatellisierungsstrategien unter Sportfunktionär*innen.
Der Sport präsentiert sich somit als ein historisch wie aktuell ambivalentes Feld jüdischen Lebens in Deutschland. Auf der einen Seite war und ist er immer wieder Schauplatz antisemitischer Diskriminierung und Ausgrenzung, auf der anderen Seite erweist er sich aber regelmäßig auch als ein Paradebeispiel für gelingendes Zusammenleben und wechselseitige, gesellschaftliche Anerkennung – und nicht zuletzt als ein Stück Normalität und Lebensfreude.