Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, schien für viele Juden im Deutschen Kaiserreich der Moment gekommen, ihren Patriotismus unter Beweis zu stellen, ihre gelungene Integration in den Nationalstaat von 1871 zu dokumentieren und dem seit den 1880er Jahren wachsenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen. Gerade Juden sahen sich bei Kriegsausbruch in der Pflicht, ihre Loyalität zu ihrem jeweiligen Staat besonders hervorzuheben. Trotzdem blieben viele Repräsentanten des deutschen Judentums gegenüber dem offiziellen Bild allgemeiner Begeisterung über den Kriegsausbruch sehr zurückhaltend – sie wussten nur zu gut, wie schnell sich Loyalitätsprüfungen und Misstrauen gegen die Juden wenden konnten.
In der "Jüdischen Rundschau", die zwischen 1902 und 1938 in Berlin erschien und die auflagenstärkste und bedeutendste zionistische Wochenzeitung in Deutschland war, setzte man darauf, dass der Sieg der verbündeten Kaiserreiche die Geschichte in eine neue Epoche der Toleranz und des friedlichen Nebeneinanders der ethnischen und religiösen Vielfalt führen werde: "Schon mehren sich die Zeichen einer beginnenden Zeit der Eintracht, in der keine Nationalität andere Ziele als die ihrer kulturellen Blüte verfolgt und nirgends die stärkere die schwächere zu bedrücken oder zu assimilieren sucht, in der jede Nationalität sich freudig dem Staatsganzen eingliedert und andererseits der Staat auch den nationalen Minoritäten die Freiheit lässt, die ihre Treue verdient."
Doch innerhalb kurzer Zeit stieß die Hoffnung vieler Juden, ihre Position in der deutschen Gesellschaft mit einer besonderen Loyalität im Krieg zu beglaubigen, an Grenzen. Denn der Weltkrieg brachte unterschiedliche Varianten des Antisemitismus hervor, die zum Teil in Kontinuität zu früheren Entwicklungen standen, zum Teil aber auch neu waren.
Das Beispiel Walther Rathenau
Wie jüdische Deutsche den Krieg erlebten, mit welchen Erwartungen sie den Krieg wahrnahmen und was der Krieg an neuen antisemitischen Feindbildern hervorbrachte, zeigt sich exemplarisch an der Biografie des Industriellen Walther Rathenau, der schon wenige Tage nach Kriegsbeginn auf die durch die britische Blockade bevorstehende Krise der deutschen Rohstoffversorgung hinwies und am 13. August 1914 zum Leiter der neu gegründeten Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium bestellt wurde. Durch seine Herkunft war er in besonderer Weise für diese Funktion prädestiniert: 1867 als Sohn des deutsch-jüdischen Industriellen Emil Rathenau geboren, war er früh mit der Dynamik der deutschen Industrieentwicklung des späten 19. Jahrhunderts vertraut geworden. Sein Vater hatte 1883 die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft AEG gegründet. Walther Rathenau studierte trotz seiner literarischen und künstlerischen Interessen auf Wunsch des Vaters Chemie, Physik und Maschinenbau und begann seine Karriere in der Wirtschaft. Mit neuen wirtschaftlichen Organisationsformen wie Syndikaten, Kartellen und Unternehmensfusionen vertraut, repräsentierte er eine neue Generation von Wirtschaftsmanagern, die in der Mischung aus technologisch-wissenschaftlichem Fortschritt, effizienter Organisation, der Konzentration von Wirtschaftskraft und der weltweiten Verflechtung von Rohstoffen, Arbeitskraft, Wissen und Finanzen ganz neue Möglichkeiten erkannten. Den Krieg lehnte er zunächst ab, weil die Zukunft nicht imperialer Expansion, sondern "Fragen der Wirtschaft" gehöre.
Neben der wirtschaftlichen Expansion des Familienunternehmens und seiner besonderen intellektuellen Begabung war für Rathenau jedoch auch die Ambivalenz aus äußerem Erfolg und dem Gefühl, in der deutschen Gesellschaft Außenseiter zu bleiben, prägend. Da man ihn als Juden nach seiner Militärdienstzeit 1890/91 nicht zum Offiziersexamen zugelassen hatte, blickte er besonders kritisch auf die politischen Strukturen und die Kultur des wilhelminischen Deutschland. Seine ursprüngliche Hoffnung auf ein erneuertes Bürgertum in Politik, Wirtschaft und Kultur wurde durch den Beginn des Krieges zerstört. Gleichzeitig schuf der Krieg ihm neue Bewährungsfelder. So betonte Rathenau einerseits seine patriotische Haltung und dass der Krieg "innerlich notwendig" sei, um ein neues Bürgertum hervorzubringen: "Wie löst sich das Alte, unerträgliche in neuer Hoffnung."
Dass er zu Beginn des Krieges nicht an ein besonderes deutsches "Recht zur endgültigen Weltbestimmung" glauben mochte, hinderte ihn nicht daran, später eine mitteleuropäische Zollunion mit Österreich-Ungarn und 1915 den Plan zu verfolgen, Russland militärisch in ein antibritisches Bündnis zu zwingen. Auch für eine rücksichtslose Mobilisierung der Heimatfront, unter Einsatz belgischer Zwangsarbeiter, setzte er sich ein. Aber ab 1917 wandte er sich gegen den unbeschränkten U-Boot-Krieg und wurde in der Endphase des Krieges zum Anhänger eines Verständigungsfriedens ohne Annexionen und einer konsequenten Parlamentarisierung Deutschlands.
Zugleich blieb seine politische Karriere von antisemitischen Erfahrungen geprägt. Als Rathenau Ende März 1915 die Leitung der Kriegsrohstoffabteilung abgab, hatte er sich den Ruf eines "wirtschaftlichen Generalstabschefs hinter der Front" erworben, doch der Wechsel hatte auch mit seiner Enttäuschung darüber zu tun, dass nicht er, sondern Karl Helfferich zum neuen Staatssekretär des Reichsschatzamtes berufen wurde. Mit seinem Rückzug reagierte er auf die zunehmenden Anfeindungen gegen seine Person und Vorwürfe, er würde von den Direktiven der Behörde in seinem eigenen Industrieunternehmen profitieren.
Ost-West-Spannungen
Auch auf anderen Ebenen wurden antisemitische Motive schon bald nach Kriegsbeginn greifbar. Harry Graf Kessler war einer der profiliertesten Kunstsammler, Mäzene und Kulturpublizisten des Kaiserreichs und hatte vor 1914 mit zahlreichen Künstlern und Schriftstellern zu tun gehabt, die aus dem jüdischen Bildungsbürgertum stammten. Doch seine Tagebuchaufzeichnungen zeigten, wie sich nach seiner Versetzung von der West- an die Ostfront die Wahrnehmung von Juden veränderte. Nunmehr im russischen Teil Polens eingesetzt, war nicht mehr viel übrig von seiner Bewunderung für die moderne Kultur Russlands vor 1914, von Igor Strawinskys Musik bis zu den Ballets Russes. Am 22. September vermerkte Kessler nach dem Grenzübertritt: "Sofort wurde die Chaussee löcherig, die Chausseebäume hörten auf, die Häuser in den Dörfern, meistens aus Holz und hellblau angestrichen, schienen niedriger und ärmlicher als bei uns." Im abschätzigen Blick des Eroberers auf eine ihm fremde Umwelt verschmolzen antipolnische und antijüdische Stereotype zur Vorstellung eines Zivilisationsgefälles zwischen West und Ost: "Die polnische und die jüdische Bevölkerung vegetieren hier in einem gemeinsamen Schmutz; sonst sind sie einander im Innersten fremd. Aber der Schmutz überkrustet sie mit einer gemeinsamen Nationalfarbe, unter deren Deckmantel der Jude den Polen ausnimmt."
Dieser Blick deutscher Militärs unterschied sich grundsätzlich von den Beschreibungen der Situation an der Westfront. In Osteuropa provozierten die erfolgreichen deutschen Offensiven im Frühjahr und Sommer 1915 Vorstellungen eines ethnoreligiösen Zivilisationsgefälles und expansiver Herrschaftsmodelle. Osteuropa avancierte zu einem Möglichkeitsraum für eine militärisch-bürokratische Ordnung, für einen Imperialstaat neuen Stils.
Diese Entwicklungen in Osteuropa hatten nicht nur enorme Bedeutung für die Wahrnehmung von Juden im Weltkrieg, sondern auch für das Selbstbild assimilierter Juden in Deutschland. Gerade osteuropäische Juden waren von den Veränderungen betroffen, die der Bewegungskrieg in Osteuropa mit sich brachte. Die russischen Erfolge gegen Österreich-Ungarn führten zu Beginn des Krieges dazu, dass weite Gebiete Galiziens evakuiert werden mussten. Allein aus dieser Region flüchteten über 350.000 Juden, und in Wien hielten sich bald über 77.000 galizische Juden auf.
Viele deutsche Soldaten und Offiziere trafen ab 1915 in Osteuropa auf eine ihnen bisher unbekannte Welt, eine multiethnische Bevölkerung mit einem besonders hohen Anteil von Juden, die sich stark von den assimilierten Juden in Deutschland unterschieden. Die intensivierte Konfrontation mit der "Ostjudenfrage" wirkte bald auf die deutsche Kriegsgesellschaft zurück.
Der Breslauer Lehrer Willy Cohn brachte die innerjüdischen Unterschiede und damit auch die Spannung zwischen jüdischer Solidarität und deutsch-jüdischem Patriotismus im November 1915 zum Ausdruck: "Die ungeheuren Menschenreservoire des Ostens gießen, falls sie nicht daran gehindert werden, Jahr für Jahr ihre Massen nach dem Westen aus. Wir wollen unsere jüdischen Glaubensgenossen des Ostens, die vielleicht durch diesen Krieg zu Deutschland in engere Beziehungen treten, in jeder Weise zu heben suchen (…) aber wir wollen und müssen auch zwischen ihnen und uns eine Scheidelinie errichten (…) Sie in die Gemeinschaft des deutschen Judentums aufnehmen, hieße das Judentum zu einem undeutschen zu machen, und auf ‚deutsch‘ liegt der Schwerpunkt und soll er liegen."
Der Krieg ließ Juden in besonderer Weise die Ambivalenz zwischen Loyalität gegenüber dem Kriegsstaat und eigener Identität erleben. In der Habsburgermonarchie war ihre Situation von drei Bezugspunkten geprägt: durch das Verhältnis zur Gesamtmonarchie als Garant staatsbürgerlicher Rechte, die aber mit zunehmender Dauer des Krieges und angesichts der Flüchtlingsproblematik vor allem für die Juden aus Osteuropa immer offener missachtet wurden, sodann durch die Integration in die jeweiligen nationalen Kulturen, also in Prag etwa der deutschen und tschechischen Kultur, und schließlich durch ihr Verhältnis zum eigenen Jüdischsein. Diese Bezugspunkte schlossen sich keinesfalls gegenseitig aus, sondern konnten sich überlagern.
Am 4. April 1915 bekannte der Prager Schriftsteller Franz Kafka in seinem Tagebuch, "am Krieg" vor allem dadurch zu leiden, "dass ich selbst nicht dort bin". Für jüdische Flüchtlinge aus Galizien und psychisch verwundete Soldaten setzte er sich persönlich ein.
Formwandel des Antisemitismus
Der Krieg konfrontierte viele Juden mit dem eigenen Selbstbild, der Definition des Jüdischseins in einer zusehends feindlichen Umwelt – sei es im Blick vieler liberaler und assimilierter Juden auf die ganz andere Lebenswirklichkeit orthodoxer Juden aus Osteuropa oder in der Entwicklung des Zionismus. Letzterer erfuhr insbesondere durch die Balfour-Deklaration der britischen Regierung von 1917 und das darin gegebene Versprechen einer "nationalen Heimstätte" für die Juden in Palästina Auftrieb.
Im Jahr zuvor beschrieb der Soldat Hugo Bergmann, wie seine Kriegserfahrung die überkommene Passivität der Juden herausfordere und ein neues Selbstbewusstsein erzwinge, das über die üblichen religiösen Zeremonien und Rituale an den Feiertagen hinausweise. Bergmann war sich sicher, dass man aufhören müsse zu glauben, "dass dieses Feiertagsjudentum, dieses Judentum daheim noch irgend etwas ist. Gerade hier musste uns der Krieg zu Wirklichkeitssinn und kritischer Stellung gegenüber allem Eingebildeten, Leeren erzogen haben. Jenes nicht mehr ins Leben verankerte Judentum ist nur noch ein Wort (…) für uns hängt alles davon ab, ob wir durch den Krieg gelernt haben, Schein von Sein zu unterscheiden, und ob wir die Kraft haben werden, eine wirkliche jüdische Volksbewegung zu schaffen."
Mit immer längerer Dauer und immer höheren Opfern zeichnete sich ab 1916 eine innere Krise der Kriegsgesellschaften ab, die sich unmittelbar auf antisemitische Unterstellungen auswirkte. So kam es gerade in Deutschland zu einem Formwandel des Antisemitismus, der die Vorstellung eines "Burgfriedens", eines Zusammenhalts aller Deutscher unabhängig von Religion und Klasse, endgültig entlarvte. Völkische Antisemiten hatten schon seit Kriegsbeginn immer wieder auf angebliche Vorteile verwiesen, die den Juden aus dem Krieg erwachsen seien, und der Reichshammerbund trug angebliche "Kriegsermittlungen" über militärische und zivile Aktivitäten von deutschen Juden zusammen. Da Juden im Verlauf des Krieges in höhere Verwaltungs- und Offiziersstellen befördert wurden, fürchteten viele Antisemiten, dass diese Statusveränderungen nach dem Krieg fortbestehen könnten, und suchten die Rolle der Juden im Krieg pauschal zu diskreditieren.
Ihnen kam nach der Erfahrung der großen Materialschlachten bei Verdun und an der Somme im Herbst 1916 ein politischer Stimmungsumschwung entgegen. So forderte der katholische Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im Oktober 1916 vom Haushaltsausschuss des Reichstages eine Aufstellung der in den deutschen Kriegsgesellschaften Beschäftigten nach Alter, Geschlecht, Einkommen und Religion. Während die Berliner Regierung dies ablehnte, kam es in der Armee zur "Judenzählung": Das preußische Kriegsministerium ordnete eine Erhebung über die Juden in der deutschen Armee an. Als Begründung hieß es, dass sich Beschwerden häuften, nach denen sich Juden besonders häufig der Wehrpflicht zu entziehen suchten. Dass die "Judenzählung" Verrat und fehlende Loyalität unterstellte, löste Schockwellen an der Front und in der Heimatgesellschaft aus. Ihm sei, "als hätte ich eben eine furchtbare Ohrfeige erhalten", meinte der jüdische Soldat Georg Meyer, bevor er zwei Monate später fiel. Der Polizeipräsident in Frankfurt am Main vermerkte, die dortigen Juden seien "verprellt und verhalten sich sehr reserviert bei meinen Bemühungen um eine Nationalspende".
Obwohl während des Krieges keine Ergebnisse publiziert wurden, markierte die "Judenzählung" von 1916 eine Wegscheide. Der Vorwurf der Drückebergerei angesichts der hohen Verlustraten war an sich nicht neu. Aber zum ersten Mal machte sich der Staat dieses Argument der völkischen Antisemiten zu eigen. Für die Juden bedeutete dies eine neue Qualität der Klassifizierung und Exklusion, und viele von ihnen setzten sich jetzt zum ersten Mal intensiver mit ihrem eigenen Jüdischsein auseinander. Doch blieb es nicht bei dieser psychologischen Wirkung. In der Judenstatistik in einer Kraftfahrzeug-Einheit vom April 1916 hieß es über jüdische Soldaten: "Die gemäss obiger Verfügung namhaft gemachten kv. [kriegsverwendungsfähigen, J.L.] Unteroffiziere und Mannschaften sind, wenn ausgebildet, umgehend ins Feld zu senden und zwar an Stellen, wo sie dem feindlichen Feuer unrettbar ausgesetzt sind."
In der Endphase des Krieges ab 1917 entwickelten sich noch einmal neue Akzente des Antisemitismus, der noch stärker als zuvor mit der Exklusion angeblicher Defätisten und Verräter einherging. Als im Sommer 1917 eine Mehrheit von Abgeordneten im Reichstag eine Friedensresolution verabschiedete und die mit der Machtübernahme der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 und dem militärischen Erfolg der deutschen Truppen bevorstehenden Friedensverhandlungen für einen progressiven Friedensschluss nutzen wollten, provozierte dies den entschiedenen Widerstand der Konservativen und der militärischen Führung. Als diese sich gegen politische Zugeständnisse und die Demokratisierung des Kaiserreichs wandten, griffen sie bewusst ein neuartiges, gegen Juden und Bolschewiken gewandtes Feindbild auf. Oberst Max Bauer, ein enger Vertrauter Erich Ludendorffs, der zusammen mit Paul von Hindenburg seit 1916 die Dritte Oberste Heeresleitung bildete, fragte lakonisch, wozu man überhaupt Opfer im Krieg erbringe, wenn man am Ende "schließlich im Juden- und Proletentum" ersticke.
Titelblatt der „Süddeutschen Monatshefte“, 1924. (© akg-images)
Titelblatt der „Süddeutschen Monatshefte“, 1924. (© akg-images)
Angesichts der Niederlage, des Waffenstillstands und der Revolution im November 1918 bildete der den Juden unterstellte Internationalismus und ihr angeblicher Verrat im langen deutschen Nachkrieg bis in die Krisenjahre der frühen Weimarer Republik entscheidende Leitmotive der sogenannten Dolchstoßlegende, nach deren populärer Version das deutsche Heer nicht von äußeren Gegnern geschlagen, sondern von Defätisten und Bolschewiken gleichsam von hinten erdolcht worden sei.
Gewalt nach dem Krieg
Die Wendung gegen Juden wurde vor diesem Hintergrund zu einem besonders augenfälligen Kennzeichen der Gewalt im Übergang vom Krieg zum Frieden. Sie hatte sich während des Krieges abgezeichnet, in der "Judenzählung" genauso wie im aggressiven Antisemitismus der 1917 gegründeten Deutschen Vaterlandspartei oder in der täglichen Gewalt gegen ostjüdische Flüchtlinge in Wien, Prag oder Budapest seit 1916. Im galizischen Lemberg kam es bereits im November 1918 zu einem dreitägigen Pogrom, nachdem polnische Truppen ihre ukrainischen Gegner ausgeschaltet hatten und die Juden verdächtigten, den Feind unterstützt zu haben. In Polen schlugen sich Antibolschewismus und Nationalismus sowie das verbreitete Gefühl einer permanenten Bedrohung des neu gewonnenen Staates immer wieder in Gewalt gegen die jüdische Minderheit nieder.
Der baltendeutsche Flüchtling Alfred Rosenberg, als glühender Nationalsozialist und Reichsminister später für die besetzten Ostgebiete zuständig, diagnostizierte im Mai 1919 eine "russisch-jüdische Revolution". Lenin sei der einzige Nichtjude unter den Volkskommissaren in Russland, und überall konzentriere sich der Hass auf die Juden, der zugleich eine Antwort auf den roten Terror darstelle. Die Legitimation der Gewalt als angebliche Notwehr gegen die Revolution nach dem Muster der Bolschewiki rekurrierte immer wieder auf diese Gleichsetzung von Bolschewismus und Judentum, ob bei Rosa Luxemburg in Berlin, Kurt Eisner in München, Béla Kun in Budapest oder Victor Adler in Wien. Der seit 1919 einsetzende Publikationserfolg der "Protokolle der Weisen von Zion", die eine angebliche Weltverschwörung der Juden schilderten, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.
Brennpunkte der Gewalt waren seit 1918 nicht zufällig häufig Zentren eines besonders aggressiven Antisemitismus. In München entwickelte sich aus dem Zusammenhang von Niederlage, Revolution und der Wahrnehmung des "roten Terrors" im Zusammenhang mit der im April 1919 proklamierten Räterepublik eine kollektive Erregung. Bedrohungsgefühle wurden durch die in München anwesenden Flüchtlinge und Emigranten aus Osteuropa noch verstärkt. Exemplarisch für die enthemmende Wirkung des Antisemitismus in dieser Situation war die Thule-Gesellschaft und der aus ihr gebildete Kampfbund Thule in München. Bereits im Dezember 1918 waren seine Mitglieder an Vorbereitungen zu einem Staatsstreich und an verschiedenen Attentatsplänen und Terrorakten beteiligt gewesen. Auch in die Ermordung des nach der Revolution zur Macht gelangten sozialistischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner im Februar 1919 war der Kampfbund verwickelt: Eisners Mörder, Anton Graf von Arco auf Valley, war zeitweilig Mitglied der Thule-Gesellschaft gewesen und wegen seiner jüdischen Mutter ausgeschlossen worden. Durch den Mord an Eisner wollte er seine nationale Gesinnung unter Beweis stellen und zugleich Eisners angeblichen Verrat rächen. In seiner handschriftlichen Begründung für das Attentat schrieb Arco: "Eisner (…) strebt verdeckt nach Anarchie, um seine u. der Räte Bleiben zu erreichen (…) ist Bolschewist (…) ist Jude (…) ist kein Deutscher (…) fühlt nicht Deutsch (…) untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen (…) ist ein Landesverräter".
Im "Münchner Beobachter", dem Vorgängerblatt des "Völkischen Beobachters", erschien bereits am 4. Oktober 1919 ein Artikel, der den Gegensatz zwischen Juden und Christen mit dem Konflikt zwischen Revolution und Gegenrevolution überblendete. Das Ergebnis war ein apokalyptisches Panorama unterstellter Verschwörungen in nahezu allen europäischen Nachkriegsgesellschaften, das jede Gegengewalt rechtfertige: "Traurige Zeiten, wo christenhasserische, beschnittene Asiaten überall ihre bluttriefenden Hände erheben, um uns herdenweise abwürgen zu lassen! Die Christenschlächtereien des Juden Isschar Zederblum alias Lenin würden selbst einen Dschingis-Khan zum Erröten bewogen haben. In Ungarn durchzog sein Zögling Cohn, alias Bela Kun, mit einer auf Mord und Raub dressierten jüdischen Terrorherde das unglückliche Land, um, zwischen wüsten Galgen, auf einer ambulanten Galgenmaschine, Bürger und Bauern zu schlachten. Ein prächtig ausgestatteter Harem diente ihm in seinem gestohlenen Hofzuge zur dutzendweisen Vergewaltigung und Schändung ehrbarer christlicher Jungfrauen (…) Von acht ermordeten Geistlichen ist festgestellt, dass man sie vorher an den eigenen Kirchtüren gekreuzigt hatte! Aus München werden jetzt (…) genau dieselben Greuelszenen bekannt."
Weit über solche Motive hinaus, an die der aggressive Antisemitismus der rechtsnationalistischen Extremisten in den 1920er und 1930er Jahren anknüpfen konnte, ergaben sich für Juden nach dem Weltkrieg vielerorts denkbar schwierige Bedingungen. So entschieden nach dem Untergang der Habsburgermonarchie die politischen Eliten der Nachfolgestaaten über nationale Zugehörigkeit häufig sehr restriktiv. Der vor 1914 weitgefasste Anspruch früherer k.u.k.-Untertanen auf Staatsbürgerschaft verschwand, und den über 75.000 deutschsprachigen Juden aus den Nachfolgestaaten, vor allem Polen, verwehrte man die österreichische Staatsbürgerschaft, da sie nicht als deutsch galten.
Auch in der neuen deutschen Republik entwickelte sich der Umgang mit ost- und ostmitteleuropäischen Juden auffallend restriktiv. Als Anfang der 1920er Jahre angesichts vieler Pogrome über 70.000 Juden in Deutschland Asyl suchten, löste dies eine Welle antisemitischer Reaktionen aus. In Bayern verfolgte die Regierung nach der Niederschlagung der Räterepublik zu Beginn der 1920er Jahre eine offen antisemitische Praxis, welche die Internierung und Ausweisung ausländischer Juden erlaubte. Auch in Preußen wurde die 1919 zunächst noch großzügige Praxis zunehmend eingeschränkt.
Ohne die Umbrüche und Erfahrungen des Weltkriegs sind diese Entwicklungen nicht zu erklären. Auch wenn der Weg in die enthemmte nationalsozialistische Gewalt gegen die Juden nicht durch den Ersten Weltkrieg allein festgelegt war, markiert er eine wichtige Erfahrungsschwelle. Ob in der Enttäuschung über die Erosion des "Burgfriedens", in der Auseinandersetzung mit der sogenannten Ostjudenfrage, in der Erfahrung der "Judenzählung" oder dem seit 1917 zugespitzten antijüdischen und antibolschewikischen Feindbild: Wie jüdische Deutsche ihr Jüdischsein begriffen, wie sie Ausgrenzung empfanden und wie aus neuen Feindbildern neuartige Gewaltenthemmungen entstanden, hatte sich seit August 1914 tiefgreifend verändert.