Geschlechtergerechtigkeit ist ein viel diskutiertes Thema. Schlagworte wie Gender, Diversity und die bedeutsame Rolle von Geschlecht als Identitätskategorie stehen unübersehbar im Rampenlicht und sind längst unüberhörbar im gesellschaftlichen Diskurs angekommen. Auch im Jazz ist etwas in Bewegung geraten: Gemächlich, aber unaufhaltsam dringen die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit in das Bewusstsein der Szene – teils mit breiter Unterstützung, teils Widerständen zum Trotz.
Wie kaum eine andere Musik oder Kunstform gilt Jazz gemeinhin als von "Offenheit, Toleranz und Integration geprägt".
Veränderung.
Diese dem Jazz und der Jazzimprovisation zugeschriebenen Charakteristika scheinen ideale Voraussetzungen zu sein für eine diverse, offene und gleichberechtigte Szene. Doch wie steht es heute tatsächlich um Geschlechtergerechtigkeit im Jazz? Welche Zugänge und Karrierechancen haben Mädchen und Frauen zum und im Jazz, und worin liegen geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen begründet?
Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse einschlägiger Studiengänge, die Leitungsfunktionen der Jazzfestivals in Deutschland oder auf die Besetzungen der Big Bands des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zeigt: die Geschlechterverhältnisse sind alles andere als ausgeglichen, und Frauen sind dort eine eher seltene Erscheinung. Man erinnere sich: Im Jahr 2018 wurde erstmals eine Frau als Instrumentalprofessorin an eine deutsche Musikhochschule berufen, seitdem sind erst zwei weitere dazugekommen. In den vier Big Bands des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind derzeit nur zwei von insgesamt 66 Musiker*innen Frauen.
Hier wird die Jazzszene trotz aller ihr (zu Recht oder zu Unrecht) zugeschriebenen Alleinstellungsmerkale zum Spiegel gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Denn die Frage, wer eigentlich sichtbar sein darf und in diesem Zusammenhang auch Gehör findet, spielt nicht nur im Bereich der Kultur, sondern auch in politischen Diskursen eine große Rolle.
Bestimmte Personengruppen sind einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, nicht gesehen zu werden, beispielweise aufgrund ihres Geschlechtes. Sichtbarkeit ist dabei kein neutraler oder unbeabsichtigter Prozess, sondern wird erst in einem Zusammenhang aus Macht und Wissen produziert und ist somit zutiefst politisch.
Die grundsätzliche Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Können herrschende Machtverhältnisse und Normen innerhalb eines gesellschaftlichen Teilbereichs wie der Jazzszene angefochten und partiell verändert werden, obwohl die beschriebenen Mechanismen auf übergeordneter Ebene weiterhin wirken? Und wenn ja, wie? Der Wille zur Veränderung scheint zumindest bei vielen Akteur*innen vorhanden zu sein. Wie aber sieht es aus, wenn es ernst wird? Ist der Wille stark genug, sich für die Gleichstellung aller Geschlechter einzusetzen, dafür konkrete Maßnahmen umzusetzen und eigene Beiträge zu leisten?
Die Jazzstudie 2022 der Deutschen Jazzunion, die unter anderem Diversität in der Jazzszene untersucht und nach möglichen Diskriminierungen und Privilegierungen fragt, kann hier einige Antworten geben. Die empirischen Ergebnisse zeichnen ein Bild der aktuellen Situation und bilden das momentane Geschlechterverhältnis ab. Außerdem sucht die Studie nach Gründen für ungleiche Verteilungen und Ungleichbehandlungen, und sie bezieht das Erleben sowohl von Frauen als auch von Männern innerhalb der Jazzszene mit ein.
Zahlen und Fakten
Vor sechs Jahren erschien mit der Jazzstudie 2016 die erste umfassende empirische Untersuchung der Arbeits- und Lebenssituation von Jazzmusiker*innen in Deutschland. Auf Basis einer großflächig angelegten Onlinebefragung mit circa 2.000 teilnehmenden Jazzmusiker*innen wurden die zentralen sozioökonomischen und berufspraktischen Rahmenbedingungen für Jazz als Berufsfeld untersucht.
Beide Studien belegen ein starkes Ungleichgewicht im Geschlechterverhältnis – es scheint jedoch ein Veränderungsprozess eingesetzt zu haben: Im Jahr 2016 lag der Anteil der Frauen unter den Befragten bei 20 Prozent, sechs Jahre später bereits bei 27 Prozent.
Stichproben zeigen, dass an Musikschulen insgesamt mehr Mädchen als Jungen Unterricht nehmen
Dieses Missverhältnis und die ungebrochene strukturelle Unterdrückung von Frauen sind ohne Zweifel tief in den patriarchalen, hegemonialen Strukturen unserer Gesellschaft verankert.
Einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Datenlage stellt die geschlechtsspezifische Sekundärauswertung der Daten der Jazzstudie 2016 im Rahmen der Publikation "Gender. Macht. Musik" dar.
Dass Frauen, die sich als professionelle Jazzmusikerinnen etablieren, nach wie vor sehr häufig Sängerinnen oder Pianistinnen sind, ist kein Zufall. Die historischen Hintergründe untersuchte die Musikwissenschaftlerin Freia Hoffmann bereits 1991. Mit ihrer Forschung lieferte sie eine wesentliche Grundlage für ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Instrumentenwahl von Frauen und Männern. Laut Hoffmann galten bereits im 18. und 19. Jahrhundert nur solche Musikinstrumente als angemessen für Frauen, die eine adäquate Präsentation des "schönen Körpers" ermöglichten, während expressive Körperbewegungen als unschicklich angesehen wurden. Frauen wurde hauptsächlich erlaubt, zu singen und Klavier zu spielen.
Die Jazzstudie 2022 lässt vermuten, dass sich daran nicht viel geändert hat: Musikinstrumente wie Bassgitarre oder Schlagzeug, die mit expressiveren Körperbewegungen assoziiert werden, werden deutlich seltener von Frauen als von Männern gespielt.
durchbrechen.
Anteilig sind mehr Frauen als Bandleader*innen aktiv als Männer. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Frauen sehr häufig Sängerinnen sind. Möglicherweise führt die Tätigkeit als Bandleaderin zwar zu einem etwas höheren Gagenniveau, das die Jazzstudie 2022 für Frauen ausweist.
Eine Unwucht gibt es unter professionellen Jazzmusiker*innen auch in puncto Kindererziehung: Während zwar etwas weniger Frauen als Männer für die Erziehung von Kindern zuständig sind, geben Frauen im Kunst- und Kulturbetrieb allgemein an, große Schwierigkeiten damit zu haben, Familie und Beruf zu vereinen.
Grundlegende Verbesserungen der Familienfreundlichkeit innerhalb der Jazzszene sind überdies längst überfällig. Konzerte finden meist abends statt, privater Musikunterricht in der Regel nachmittags oder abends. Auf Tour zu gehen ist mit Kindern oft gar nicht möglich, was den Beruf der Jazzmusiker*in zu einem eher familienunfreundlichen Beruf macht. Dass in unserer Gesellschaft die Kindererziehung immer noch in erster Linie Frauen zugeschrieben wird, führt dazu, dass viele Frauen mit Kindern oder Kinderwunsch sich gegen diesen Berufsweg entscheiden. Doch es gibt auch positive Entwicklungen: Seit 2022 besteht bei den Förderprogrammen der "Initiative Musik" erstmals die Möglichkeit, Kosten für Kinderbetreuung bei der Beantragung von Projektmitteln anzugeben.
Stimmen aus der Szene
Die Zahlen der hier zitierten Jazzstudien sprechen eine deutliche Sprache und zeigen, dass es bei der Gleichstellung der Geschlechter in Deutschlands Jazzszene noch erheblichen Verbesserungsbedarf gibt. Doch wie nehmen die Akteur*innen der Szene ihre Situation selbst wahr? Welche Erfahrungen haben sie mit Diskriminierungen gemacht, und sehen sie überhaupt Handlungsbedarf?
Auch hierzu können die aktuellen Studien Auskunft geben. In einer Mitgliederbefragung auf Initiative der Arbeitsgruppe "Geschlechtergerechtigkeit im Jazz" nahm die Deutsche Jazzunion im Jahr 2018 die Situation der Frauen in den Blick.
Dies überrascht grundsätzlich nicht: Männer sind in den meisten musikalischen Bereichen derzeit in der Mehrheit und erleben selten geschlechtsspezifische Diskriminierung.
Denkmuster.
Frauen hingegen berichten von unterschiedlichen Formen der Benachteiligung und benennen ein breites Spektrum von Ungleichbehandlungen. Viele geben an, häufiger unterschätzt und kritischer beäugt zu werden. Sie berichten von sexistischen Witzen und Kommentaren bis hin zu sexuellen Übergriffen im beruflichen Kontext. Auch wenn diese Diskriminierungen häufig als eher subtil und indirekt beschrieben werden, haben viele Frauen eindeutig das Gefühl, dass die Jazzszene zum großen Teil eine Männerwelt ist, der sie sich häufig nicht zugehörig fühlen und zu der sie nur erschwerten oder gar keinen Zugang haben.
Anhand dieser Diskrepanz in der Wahrnehmung von Diskriminierung und Ungleichheiten zeigt sich deutlich, dass eine gezielte Aufklärungsarbeit, ein Sichtbarmachen von Diskriminierung sowie ein Austausch über Erfahrungen unbedingt notwendig ist, damit Gleichstellungsmaßnahmen überhaupt greifen können.
Wie aber lassen sich in einer Szene, die überwiegend männlich geprägt ist, politische Forderungen und Maßnahmen für mehr Geschlechtergerechtigkeit umsetzen? Was kann getan werden, um trotz der beschriebenen Abwehrreaktionen schrittweise mehr Geschlechtergerechtigkeit innerhalb der Jazzszene zu erreichen?
Mögliche Maßnahmen
Wie in den meisten anderen Bereichen in unserer Gesellschaft ist es auch im Jazz noch ein weiter Weg zu einer geschlechtergerechten Verteilung von Sichtbarkeit, Verantwortung, Anerkennung und Teilhabe. Da sich insbesondere die jüngere Generation der Jazzmusiker*innen zunehmend für notwendige und zum Teil bereits eingeleitete Veränderungsprozesse öffnet, lässt dies einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft zu.
Die Deutsche Jazzunion ist in jüngerer Vergangenheit mit einer Reihe von Maßnahmen und Initiativen in Erscheinung getreten, die auch von benachbarten Kulturverbänden als politische Signale aufmerksam beobachtet und anerkannt wurden.
Als wichtige Grundlage für Veränderung benennen die Autor*innen der Erklärung eine Sensibilisierung dafür, dass Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern überhaupt bestehen und dass strukturelle Diskriminierung in der Jazzszene Realität ist. Eine gesellschaftliche und politische Begleitung dieser Prozesse sowie ein Ausbau von Forschungs- und Weiterbildungsmaßnahmen werden dabei als grundlegende Voraussetzungen für Verbesserungen genannt. Notwendig hierfür wäre, bereits vorhandene Forschung auszubauen und in genreübergreifende, spartenvergleichende und internationale Betrachtungen zu überführen.
Durch eine Pädagogik der Vielfalt soll eine geschlechterneutrale Instrumentenwahl gefördert und Geschlechterstereotypen aktiv entgegengewirkt werden. Denkbar sind hier konkrete Angebote für Mädchen, verschiedene Instrumente auszuprobieren, und vor allem auch die Stärkung von weiblichen Vorbildern im Instrumentalbereich.
Die Implementierung von geschlechtergerechter Sprache soll dafür sorgen, dass sich alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen, und dadurch mehr Sichtbarkeit und mehr Identifikation für nicht-männliche Personen schaffen. Außerdem fördert sie "die gedankliche Überwindung von stereotypen Rollenbildern und kann dadurch einen Beitrag zur Veränderung bestehender Geschlechterverhältnisse leisten."
Wegen der generellen gesellschaftlichen Ungleichbehandlung sowie der häufig fehlenden Vorbilder sind gezielte und kontinuierlich finanzierte Förderprogramme für Frauen besonders wichtig. Coaching- und Mentoring-Programme, wie sie beispielsweise vom Deutschen Kulturrat erfolgreich durchgeführt werden, können auch im Jazzbereich dazu beitragen, mehr weibliche Vorbilder und Verantwortungsträgerinnen herauszubilden. Wie auch in anderen Branchen werden im Jazzbereich viele berufliche Kontakte über informelle Netzwerke etabliert, die auf diese Weise entstehen und ausgebaut werden können.
Zusätzlich müssen bestehende Förderinstrumente auf Geschlechterdiskriminierung hin untersucht und diese gegebenenfalls adressiert werden. Für mehr Sichtbarkeit von Frauen in der Jazzszene müssen entscheidungsrelevante Gremien wie Kommissionen oder Jurys gleichmäßig mit Frauen und Männern besetzt werden. In paritätisch besetzten Gremien werden Entscheidungen unabhängiger vom Geschlecht getroffen und es können mehr unterschiedliche Perspektiven eingebracht werden. Zudem müssen Frauen bei der Besetzung entscheidungsrelevanter Positionen und Führungspositionen, aber auch bei der Besetzung von Professuren, Lehraufträgen, Ensembles, der Vergabe von Preisen sowie der Auswahl von Kurator*innen für Festivals und Veranstaltungen mehr Berücksichtigung finden.
Nur wenn alle Geschlechter entscheidend mitgestalten und politische Macht gerechter verteilt ist, kann Chancengleichheit im Jazz erreicht werden. Ein wirkungsvolles Instrument für eine gerechte Verteilung von politischer Macht und Entscheidungsgewalt könnte in manchen Fällen auch eine Quotenregelung sein.
Um mehr Sichtbarkeit von Frauen sowie eine stärkere Sichtbarmachung von weiblichen Vorbildern im Jazz zu erreichen, ist schließlich auch eine "qualitativ ausgewogene, unvoreingenommene und stereotypfreie mediale Darstellung von Frauen und Männern im Jazz" wichtig.
Intersektionaler Ausblick
Es gibt viele Forderungen, Empfehlungen und konkrete Handlungsansätze, deren Umsetzung teils bereits begonnen hat. Manche der Veränderungen sind schon im Gange, erste Verbesserungen hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit im Jazz erkennbar. Doch für einen umfassenden Wandel hin zu Chancengleichheit und Teilhabe jenseits von Privilegien, Zugangsbarrieren und Diskriminierungen in der Jazzszene ist es nicht ausreichend, lediglich die Kategorie Geschlecht zu betrachten. Geschlechtergerechtigkeit ist nur ein Baustein von vielen, um diesen Wandel zu vollziehen. Eine intersektionale Perspektive, die Überschneidungen und Wechselwirkungen verschiedener Diskriminierungsformen fokussiert, ist deshalb unverzichtbar und notwendig. Denn in der Realität sind viele soziale Kategorien wie zum Beispiel gender, race oder class miteinander verwoben, beeinflussen sich gegenseitig und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden.
Eine solche intersektionale Perspektive ermöglicht es, die Wechselbeziehungen von sozialen Ungleichheiten und Machtverhältnissen besser in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Sie kann dabei helfen, Diskriminierungen differenzierter zu betrachten und sie somit auch effektiver zu bekämpfen. Jazzmusiker*innen kommen oft aus einem gehobenen sozioökonomischen Umfeld mit hohem Bildungsniveau und haben zum Großteil an Hochschulen studiert.
Beim Thema Geschlechtergerechtigkeit sollte zudem auch die Perspektive erweitert und der Fokus nicht allein auf Frauen, sondern auf alle FLINTA*-Personen
Die aktuellen Aktivitäten der Deutschen Jazzunion und anderer Akteur*innen in der Jazzszene zeigen, dass auch in dieser Hinsicht bereits ein Umdenken stattfindet: In Projekten wie der Digitalen Akademie "Insight Out" oder im Rahmen der Konferenz "Jazz Now! 2022" wird nicht nur über Frauen im Jazz diskutiert, sondern auch über Klassismus, Rassismus oder Behinderung im Jazz.
Eine (geschlechter-)gerechte Jazzszene in Deutschland ist nur im Schulterschluss aller Akteur*innen zu verwirklichen. Mit der "Gemeinsamen Erklärung zur Gleichstellung von Frauen im Jazz" wurde bereits ein wichtiger Schritt getan, um Kräfte und Ressourcen zu bündeln und das Problem sichtbar zu machen. Darüber hinaus wurden in den vergangenen Jahren eine Reihe neuer, auch intersektionaler Initiativen von und für FLINTA*-Personen im Jazz gegründet. Mit Music Women* Germany entstand 2017 beispielsweise ein bundesweiter Dachverband für alle weiblichen und nicht-binären Musiker*innen sowie deren Netzwerke.
Ein weiteres richtungweisendes Beispiel ist das Peng Festival, das zum Ziel hat, einen Rahmen zu schaffen, der frei von Diskriminierung und Unterdrückung ist, und sich insbesondere die Förderung von Frauen zur Aufgabe gemacht hat.
All diese Akteur*innen und Projekte sind vielversprechende Hinweise darauf, dass die Veränderungsprozesse in der Jazz- und Musikszene in Deutschland Fahrt aufgenommen haben – und hoffentlich nicht mehr zu stoppen sind. Klar ist aber auch, dass nach wie vor großer Handlungsbedarf besteht und es weiterhin Forderungen, Maßnahmen, Forschung, Weiterdenken und Vernetzen braucht, um die Utopie einer Jazzszene zu realisieren, der sich alle Menschen gleichermaßen zugehörig fühlen können.