"In jazz, identity is everything", schrieb der US-amerikanische Jazzkritiker Barry Ulanov 1979 in der musikwissenschaftlichen Fachzeitschrift "The Musical Quarterly". "As in almost no other art, individual identity shapes the structure of jazz. It obsesses the player or singer and haunts his or her audience."
Tatsächlich ist die Frage nach Identität im Jazzdiskurs – danach, wie Menschen sich verorten und verortet werden, wie sie sich einen Sinn zuschreiben und sich gegenseitig Bedeutung geben – omnipräsent. Dieser Aufsatz soll eine Einführung in Identitätskonstruktionen im Jazz geben. Dabei wird danach gefragt, welche Identitätszuschreibungen im Feld Jazz häufig vorzufinden sind, welche Besonderheiten sie aufweisen und inwiefern sie in Identitätsdiskurse eingebettet sind, die über jazzspezifische Kontexte hinausreichen.
In diesem Beitrag wird argumentiert, dass Darstellungen von Jazz und Jazzgeschichte daran beteiligt waren und sind, weitverbreitete identitätsbezogene Mythen und Narrative zu bekräftigen, zu adaptieren und infrage zu stellen. Drei dieser Mythen lassen sich gleich zu Beginn entkräften: Jazz ist nicht universell, und er ist per se weder demokratisch noch liberal. Auch Jazz ist ein Feld, in dem sämtliche Arten von Diskriminierung vorkommen, wo Menschen ausgegrenzt, erniedrigt und verletzt werden. Gleichzeitig ist Jazz jedoch auch eine musikalische Praxis, die sowohl in populären Kulturen als auch in pluralisierten Gesellschaften verwurzelt ist und deren Entstehung und Entwicklung ohne afrodiasporische Musiken nicht denkbar wäre. Im Laufe seiner Geschichte war Jazz immer wieder Ressource für und Produkt von sozialen Gleichheitsbestrebungen – insbesondere im Rahmen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, aber beispielsweise auch im Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika. Im Folgenden sollen daher Fragen nach Jazz und Identität aufgeworfen werden, ohne dabei Mythen und Narrative zu bekräftigen, die Jazz essenzialisieren.
Individuelle und kollektive Identitäten
Was ist Jazz? Die populäre Kultur hat in den vergangenen Jahren immer wieder filmische Antworten darauf angedeutet: Von "Whiplash" über "La La Land" bis zu Disney's "Soul": Die Figur des (meist männlichen) Jazzmusikers ist auch in der vergangenen Dekade Bestandteil des popkulturellen Mainstreams gewesen. Barry Ulanov gehörte in den 1940er Jahren zu den ersten Autoren, die sich für eine Lesart des Jazz stark machten, nach der Jazz sich dadurch auszeichnet, dass er von einzelnen, außergewöhnlichen Individuen gestaltet wird. Diese Lesart ist nach wie vor weit verbreitet, etwa in "Whiplash" oder "Soul", drückt sich aber auch im Genie-Diskurs aus, der beispielsweise den britischen Multiinstrumentalisten Jacob Collier umgibt. Jazz ist demnach eine oft als heroisch gerahmte künstlerische Praxis, die es individuell außergewöhnlich begabten (meist männlichen) Musikern ermöglicht, ihr herausragendes Talent zu entwickeln und zu entfalten.
Die Lesart des Jazz als primär durch autonome Individuen geprägte Musik läuft Auffassungen zuwider, die kollektive Identitäten betonen. Zurückzuführen sind solche Perspektiven zunächst insbesondere auf die Blueshistoriografie der 1920er Jahre, etwa bei W.C. Handy und Edward Abbe Niles, deren Ansätze sich in der Jazzrezeption der US-amerikanischen Linken während der 1930er und 1940er Jahre, etwa bei Charles Edward Smith, John Hammond oder Rudi Blesh, und in den Schriften fortsetzten, die aus den antirassistischen Protestbewegungen der 1940er, 50er und 60er Jahre hervorgingen, zum Beispiel in jenen von Sterling Brown oder LeRoi Jones aka Amiri
Baraka.
Jazz und race
Race ist seit der Entstehung des Diskurses um Jazz Mitte der 1910er Jahre eine zentrale Differenzebene. In dieser Hinsicht lässt sich eine Verbindung ziehen zwischen Jazz und dem, was der US-amerikanische Soziologe W.E.B. Du Bois – und im Rückgriff auf ihn der Soziologe Paul Gilroy – mit doppeltem Bewusstsein (double consciousness) bezeichnete.
Ausgehend von Du Bois' Konzept des doppelten Bewusstseins können auch Jazz, Jazzgeschichte und deren Vermittlung als Orte von Aushandlungsprozessen dieser Differenzebene betrachtet werden. Bis in die 1940er Jahre hinein wurde Jazzgeschichte noch primär als eine Musikgeschichte gedacht, deren Hauptvertreter weiße männliche Musiker waren. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich Narrative durchsetzen, die (ebenfalls meist männliche) schwarze Musiker als Hauptvertreter und Innovatoren ins Zentrum der Entwicklung des Jazz stellten.
Die Tatsache, dass Jazzgeschichte heute meist als lineare Geschichte einer primär afroamerikanischen Musiktradition erzählt wird, löst historisch gewachsene und sozial bedingte rassifizierte Ungleichheiten in dem Feld nicht auf. Jazzkritik und Jazzgeschichte werden nach wie vor von Autor*innen verfasst, die in sehr großen Teilen weiß und männlich sind – auch wenn die Jazzforschung inzwischen diverser ist als noch vor 20 Jahren.
Jazz, Gender und Sexualität
Verschränkt mit der Kategorie race prägt die Ebene Gender den Jazzdiskurs ebenfalls seit seinen Anfängen. Jazz wurde im Laufe seiner Geschichte unter anderem verglichen mit Cinderella (eine im Ursprung rohe Musik des Proletariats, die von weißen Arrangeuren scheinbar veredelt wurde), der Lorelei (Jazz als Verführung der Massen), Casanova im Bett (Jazz als hypermaskuline Potenz), Napoleon im Krieg und Hannibals Armee im Kampf (Jazz als männlich konnotierte Gewalt). Als wirkmächtige Differenzebene wurde Gender im Jazzdiskurs aber erst spät hinterfragt – mit dem Aufkommen der feministischen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre. Das Feld Jazz ist zum einen durch patriarchale Strukturen und Dynamiken geprägt, die auch andere kulturelle Felder charakterisieren, beispielsweise extreme genderbedingte ökonomische und soziale Ungleichheit, sexualisierte Gewalt, Stereotypisierungen sowie patriarchale Narrative und Mythen, um nur einige zu nennen. Zum anderen existieren aber auch jazzspezifische geschlechtsbezogene Ungleichheitsdynamiken, die in anderen Feldern weniger prägend sind.
Bereits die Anfänge der Jazzrezeption zeugen davon, dass Jazz – insbesondere dem damit verbundenen Rhythmus – männliche Eigenschaften zugeschrieben werden. In Frankreich wird er unter anderem von Jean Cocteau als Erneuerer einer durch den Debussyismus geprägten und als effeminiert-dekadent wahrgenommenen französischen Musikkultur gedeutet.
Genderstereotype begleiten den Jazz ebenfalls seit seinen Anfängen. Der frühe Jazzkomponist und -pianist Jelly Roll Morton, dessen Klavierspiel maßgeblich von der Pianistin und Komponistin Mamie Desdunes geprägt wurde, rechtfertigte sich wiederholt dafür, dass er Pianist war, da das Klavier (nicht nur) in seiner Heimatstadt New Orleans Anfang des 20. Jahrhunderts als ein feminines Instrument galt. Morton trug auch durch seine sexistischen Äußerungen und Liedtexte zu einer Umdeutung des Klaviers im Jazz als Symbol heterosexueller Männlichkeit bei.
Zusätzlich zu diesen offen artikulierten Zuschreibungen wurden Frauen, die in der populären Musik berufstätig waren, in der Presse tendenziell sexualisiert und auf visuelle Aspekte, gegebenenfalls auf ihre Stimme, reduziert. Diese Darstellungen kennzeichneten auch noch Mitte des 20. Jahrhunderts einen Jazzdiskurs, der bezüglich der Differenzebene race gleichzeitig bereits sehr stark durch das Narrativ der kollektiven Befreiung von Knechtschaft geprägt war. Erst mit dem Aufkommen feministischer Perspektiven auf Jazz, unter anderem von Sally Placksin, Linda Dahl, Sherrie Tucker oder Ursel Schlicht, entsteht eine Sensibilität für genderbezogene Ungleichheit und ihre intersektionalen Verschränkungen mit Fragen von race, Klasse, Nation und weiteren Differenzebenen. Aufmerksamkeit für Genderfluidität und die Differenzebene Sexualität gerät dabei erst relativ spät, in den 1990er Jahren, in den Blick, als feministische Perspektiven durch queer-feministische Stimmen ergänzt werden, die auch danach fragen, inwiefern hegemoniale, heteronormative Ästhetiken dazu beigetragen haben und weiterhin beitragen, dass homosexuelle Musiker*innen ausgeschlossen, diskriminiert und misrepräsentiert werden, und auf welche Weise dominante Musizier- und Hörpraktiken heteronormativ geprägt sind und irritiert, aufgebrochen, ergänzt und transformiert werden können.
Jazz und Nationalität
Neben den bereits genannten Kategorien wird auch die Differenzebene Nationalität im Feld Jazz an verschiedenen Stellen wirkmächtig. Seit seinen Anfängen wurde Jazz als ein Phänomen wahrgenommen, das eng verbunden ist mit dem mutmaßlichen "Wesen" der USA. Ignoriert wurde dabei, dass Jazz bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine transnationale Musik verstanden werden muss. Zum Beispiel waren die Musikkulturen in New Orleans eng verknüpft mit denen der Karibik sowie Zentral- und Südamerikas.
Die Bedeutung von Nationalität für den Jazzdiskurs gipfelte während des Kalten Krieges, als Jazz unter anderem im Rahmen der US-amerikanischen Kulturpolitik eingesetzt wurde. Von den Pionieren der "Jazzdiplomatie" wird Jazz in dieser Zeit als "gute Propaganda"
Es darf allerdings nicht außer Acht geraten, dass Darstellungen des Jazz auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich wirken konnten. Während sie etwa auf der Ebene race insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu beitrugen, dass afroamerikanische Musik und Musiker*innen im öffentlichen Diskurs vermehrt Wertschätzung erhielten und sichtbarer wurden, war es gleichzeitig möglich, dass dabei Leistungen von FLINTA*-Personen
Identitätspolitiken und Positionalität
Die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen im Jazz ist auch im Hinblick auf aktuelle Debatten über Identitätspolitik aufschlussreich. Im Jazz findet bereits in den 1920er Jahren ein intensiver identitätspolitischer Diskurs darüber statt, wie sich Jazzgeschichte beschreiben lässt. Exemplarisch ist hier eine Korrespondenz zwischen dem weißen Blueskritiker und Anwalt Edward Abbe Niles und dem afroamerikanischen Blueskomponisten und Verleger W.C. Handy. 1926 unterstützte Niles Handy dabei, die erste Blues-Anthologie herauszugeben, die später unter dem Titel "Blues. An Anthology" erscheinen sollte und für die Niles das Vorwort verfasste. Im Vorfeld der Veröffentlichung kommentierte Handy Niles' Entwürfe. In seinen Briefen bat er Niles unter anderem darum, unbewusst verwendete rassistische Begriffe zu streichen und das Wort "Negro" – das in dieser Zeit als positiv konnotierte Kollektivbezeichnung, unter anderem von Intellektuellen der Harlem-Renaissance-Bewegung, verwendet wurde – groß zu schreiben.
Neben diesen Unterscheidungen von individuellen und kollektiven Identitäten im Feld Jazz müssen schließlich auch die Identitäten derjenigen in den Blick genommen werden, die den Jazz heute repräsentieren. Dazu zählen insbesondere auch Jazzforschende und die Jazzkritik. Im deutschsprachigen Raum werden Jazz und Jazzgeschichte nach wie vor von mehrheitlich weißen männlichen Autoren beschrieben und dargestellt. Neben dem aktiven Einsatz für Diversität ist es daher wichtig, dass die Jazzforschung und -kritik ihre eigene machtvolle Position – und ihre dadurch bedingten Perspektiven – reflektieren. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass versucht wird, Zusammenhänge zwischen der eigenen Soziobiografie,
Der US-amerikanische Philosoph Olúfẹ́mi O. Táíwò hat ein Konzept geprägt, das in diesem Zusammenhang hilfreich sein kann. In seinem Buch "Elite Capture" arbeitet er mit einem Raumbegriff, der sich auf den Jazz übertragen lässt: Stellt man sich Jazzgeschichte als einen mehr oder weniger geschlossenen Raum vor, wie konstituiert sich dann ein solcher Raum – auch in Abgrenzung zu anderen Räumen? Wer ist aus welchen Gründen in der Position, diesen Raum zu betreten? Und welche Funktionen haben diejenigen, die Teil dieses Raumes sind? Dabei weist Táíwò darauf hin, dass die Bewohner*innen eines Raumes oftmals nicht repräsentativ für kollektive Identitäten sein können oder möchten. So repräsentiert etwa ein afroamerikanischer Musiker im Raum "Jazz" beispielsweise nicht "Afroamerikaner im Jazz", sondern es gibt bestimmte Verflechtungen und Mechanismen, die dazu beigetragen haben, dass dieser Musiker – und nicht etwa andere als afroamerikanisch gelesene Musiker*innen – Teil des Raumes wurde. Laut Táíwò gibt es eine Tendenz, Personen in einem Raum größere, kollektive Identitäten aufgrund einzelner Differenzmerkmale zuzuschreiben. Dabei kann außer Acht geraten, dass Identitäten mehrdimensional sind, und dass die Gründe, weshalb ein Mensch Zutritt zu einem Raum erlangt – und warum ihm bestimmte Funktionen in diesem Raum zuteilwerden –, oft das Resultat komplexer Prozesse sind, die sich im Einzelnen nur mit der entsprechenden Aufmerksamkeit für Nuancen nachvollziehen lassen.