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"We Insist!" | Jazz | bpb.de

Jazz Editorial "Wir haben grundsätzlich die Tendenz zur Nabelschau im Elfenbeinturm". Ein Gespräch über die Vision und die gesellschaftliche Aufgabe von Jazz, was Kulturpolitik leisten muss und welche Strukturen die Freie Szene braucht "We Insist!". Eine Sozialgeschichte des Jazz in den USA "Schön, aber nicht beruhigend". Jazz im Spannungsfeld deutscher Gesellschaft und Politik 1919–2022 Jazz und Identität (Geschlechter-)Gerechtigkeit im Jazz. Soundtrack der Szene oder Zukunftsmusik? "Let my Children Hear Music". Sprachlosigkeit, Abwertung und Politisierung in deutscher Jazzpublizistik am Beispiel von Charles Mingus

"We Insist!" Eine Sozialgeschichte des Jazz in den USA

Wolf Kampmann

/ 23 Minuten zu lesen

In seiner stilistischen Ausdifferenzierung – von seinen Anfängen in New Orleans über die Migration nach Chicago bis hin zu Stilentwicklungen wie Swing, Bebop oder Free Jazz – steht Jazz wie kein anderer Musikstil im Spiegel der US-Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Warum wirkt der Jazz früherer Zeiten so anders auf uns als der Jazz der Gegenwart? Wieso werden Jazz-Protagonisten vergangener Epochen wie Louis Armstrong, Benny Goodman oder Billie Holiday auch von Nicht-Jazzkennern als allgemeines Kulturgut wahrgenommen, während selbst die renommiertesten Stars unserer Tage nur Insidern bekannt sind? Nach einer Antwort muss man nicht lange suchen. Lange Zeit war Jazz eine Massenbewegung, die nicht nur soziale Bedürfnisse und ökonomische Zwänge großer Teile der Bevölkerung reflektierte, sondern nach dem – sicher nicht bewusst gewählten – Motto educating by entertaining auch Trost und Ablenkung spendete. Aus dem sozialen Untergrund kommend, waren Jazz und Popmusik von den frühen 1920er Jahren bis nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu identisch. Bis etwa 1975 war Jazz immerhin noch eine gewichtige Stimme der Gegenkultur. Über Jahrzehnte seiner Existenz diente er als Ersatzreligion und war mehr als alles andere eine soziale Bewegung. Doch wie erlangte der Jazz diese Kompetenz, und wie ging sie ihm wieder verloren?

Im Urschlamm von New Orleans

Eine belastbare Aussage zur Herkunft des Jazz zu treffen, ist unmöglich, da sie als Kultur unterprivilegierter Schichten der USA weitgehend undokumentiert ist. Wir können uns bestenfalls auf Vermutungen, Annäherungen und Schlussfolgerungen aus kulturellen und sozialen Parallelerscheinungen stützen. Im Jazz-Kanon hat man sich darauf geeinigt, dass die Wiege des Jazz in New Orleans steht, doch jüngere Forschungen legen nahe, dass er sich als lokales Phänomen an mehreren, teilweise sehr weit auseinanderliegenden Brennpunkten wie New Orleans, Chicago, New York oder Detroit gleichzeitig herausbildete. All diese und sicher noch einige andere Städte hatten bereits auf dem Scheitel vom 19. zum 20. Jahrhundert ein reges, aus den jeweiligen sozialen Biotopen heraus entstandenes Musikleben, das man retrospektiv als Jazz bezeichnen kann, auch wenn sich der Begriff Jazz, je nach Schreibweise auch Jass oder Yass, erst um 1913 zu etablieren begann.

New Orleans sollte aber mehr als andere Standorte stilbildend für den Jazz späterer Jahrzehnte sein. Die Strahlkraft des Jazz in der Metropole am Mississippi ruht auf mehreren historischen Säulen. Schon im 18. Jahrhundert galt der Congo Square als einziger Ort in Nordamerika, an dem Schwarze öffentlich musizieren konnten. Kulturell offene Touristen aus dem ganzen Subkontinent strömten nach New Orleans, um diesem allsonntäglichen Schauspiel beizuwohnen. Hier vermischten sich ab 1840 die musikalischen Traditionen einzelner afrikanischer Stämme, vornehmlich der Minahs, Mandigos, Congos und Gangas, zu einer ersten Escheinungsform afroamerikanischer Musik.

"Im frühen 20. Jahrhundert war New Orleans ein Ort der miteinander kollidierenden Identitäten", schreibt der US-amerikanische Musikwissenschaftler Thomas Brothers. Der Pianist Ben Sidran beschreibt New Orleans als städtischen Testfall für die Entfaltung einer einzigartigen schwarzen Kultur: "Der ökonomischen Unsicherheit des ländlichen Lebens stand hier eine Sicherheit gegenüber, die der hohe Bevölkerungsanteil Schwarzer, der relative Wohlstand und die Entwicklung eines einzigartigen schwarzen Soziallebens mit sich brachten." Dies war dem Umstand geschuldet, dass in der einstigen französischen Kolonie Louisiana die Nachkommen der zumeist männlichen französischen Kolonisten und ihrer schwarzen Sklavinnen, anders als in den englischen Kolonien, frei waren und die gleichen Rechte genossen wie die Weißen.

Diese gens de couleur libres oder Kreolen genannte Bevölkerungsschicht übte eine vollkommen autarke Kultur aus und lehnte in der segregierten Gesellschaft jeden sozialen Kontakt zu den Nachfahren der schwarzen Plantagensklaven ab. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Kreolen jedoch komplett ihrer sozialen Rechte beraubt und den Schwarzen in diesem Sinne gleichgestellt. Um 1900 erfolgte von beiden Seiten eine soziale und kulturelle Annäherung. Was die Kreolen als Niedergang ihrer eigenen Identität empfanden, stellte sich für die Nachfahren der Sklaven als sozialer Aufstieg dar. Für die amerikanische Musik war diese Entwicklung ein Glücksfall, denn sie war definitiv ein entscheidender Impuls für jene Musik, die später als Jazz bekannt werden sollte.

Eine erste Manifestation dieser neuen Musik war die Marching Band. Marschkapellen gab es überall in den USA, aber nirgends in einer derartigen Konzentration wie in New Orleans. Um 1900 marschierten in der Mississippi-Metropole Sonntag für Sonntag nicht weniger als 30 dieser Kapellen durch die Straßen. Bei 40 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent mit schweren Instrumenten und Uniformen stundenlang durch den Matsch der Straßen zu marschieren, war nichts für Schwächlinge. Nicht selten brachen Musiker erschöpft zusammen oder starben sogar. Hier zeichnete sich der enge Zusammenhang von Musik und Arbeit ab, der bis zum heutigen Tag im intellektuellen und physischen Leistungsprinzip des Jazz weiterlebt. Auch in der Musik selbst drückte sich das Prinzip Arbeit aus, denn keiner der Musiker konnte Noten lesen. Sie arbeiteten ausnahmslos die ganze Woche über in Fabriken, im Hafen, im Transport- oder Dienstleistungsgewerbe und hatten keinerlei Zeit, die Stücke zu proben. Was man nicht auswendig wiedergeben konnte, wurde schlichtweg aus der Fantasie ergänzt. Auch die Synkopierung der Rhythmen erfolgte eher unfreiwillig. Aus dieser dem sozialen Status der Akteure geschuldeten Heterofonie entstand in den folgenden Jahrzehnten zunächst die Kollektivimprovisation und später das freie Solospiel.

Die Marching Band erfüllte gewissermaßen die Funktion eines öffentlichen Gottesdienstes auf der Straße. Für die schwarzen und kreolischen Mitglieder der Kapellen war es zudem die einzige Möglichkeit, in die weißen Stadtviertel zu gelangen, die ihnen ansonsten verwehrt waren. Einige dieser Marching Bands agierten parallel auch als Tanzkapellen. Diese Erscheinungen vor 1917 lassen sich durchaus als Proto-Jazz verstehen, hatte sich zu diesem Zeitpunkt der Begriff Jazz zumindest in der Presse schon etabliert, während er von vielen Musikern noch abgelehnt wurde, die lieber von syncopated music sprachen.

Der erste "Jazz"

Der besagte Proto-Jazz wurde nicht nur von schwarzen und kreolischen Musikern praktiziert, sondern von allen unterprivilegierten Einwanderergruppen, allen voran Iren, Juden und Italiener. Folglich entstand er "in der Begegnung zwischen 'schwarz' und 'weiß'". Vor allem zwischen Süditalienern und Afroamerikanern gab es enge soziale und kulturelle Kontakte, da sich Erstere in den Marschkapellen Letzterer an die Prozessionszüge ihrer Heimat erinnert fühlten. Anders als in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren ethnisch gemischte Bands in New Orleans durchaus kein Einzelfall. Der berühmte schwarze Komponist W.C. Handy war bekannt dafür, mexikanische, deutsche und englische Musiker einzustellen, der irische Bandleader Papa Jack Laine heuerte hingegen Afroamerikaner an, die er mit Sombreros als Mexikaner verkleidete.

Wie Jelly Roll Mortons 1938 aufgenommener, auf einem Original von 1908 beruhender Song "The Dirty Dozen" demonstriert, unterschied sich auch das Vokabular des frühen Jazz kaum von dem des Gangsta-Rap der 1980er Jahre. Viele Gruppen wie die Bands von Buddy Bolden oder John Robichaux hatten um 1900 ein Standbein im Halbweltmilieu. Sie verdienten ihren Unterhalt nur teilweise mit Musik und waren sonst in alle Arten von Schmuggel, organisiertem Taschendiebstahl, Schutzgelderpressung, Schwarzbrennerei oder Zuhälterei verwickelt. Ihre Territorien wurden klar getrennt. Verirrte sich der Musiker einer Band aus Versehen ins Revier einer anderen, konnte es für ihn böse ausgehen.

New Orleans war, wie gesagt, nicht die einzige Metropole, in der sich der Jazz entwickelte, und die Akteure in den einzelnen Städten hatten keinerlei Kenntnis von den Parallelerscheinungen an den jeweils anderen Standorten. Reisende Musiker wie Jelly Roll Morton, der sich schon vor 1917 den Strapazen von Tourneen unterzog, waren die Ausnahme. Die Historikerin Kathy J. Ogren schätzt, dass es 1902 allein in New Orleans 85 Jazzclubs, 200 Bordelle und 800 Saloons gab, in denen der Proto-Jazz, die synkopierte Musik oder der Jazz – wie immer man diese Musik nennen will – ausgeübt wurde. In dem ab 1907 von der Stadt selbst unterhaltenen Rotlichtviertel Storyville wurde der Jazz entkriminalisiert und stabilisiert.

Doch New Orleans war auch ein wichtiger Hafen der Kriegsmarine. Als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, wurde Storyville gegen den vergeblichen Protest seitens der Stadtverwaltung kurzerhand von der Bundesregierung geschlossen, und Tausende von Jazzmusikern waren in ihrer Existenz bedroht. Die verbliebenen Clubs fielen ein Jahr später der Spanischen Grippe zum Opfer. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass die Schließung von Storyville der Hauptgrund für den großen Exodus von Jazzmusikern war, der von 1917 bis Ende der 1920er Jahre erfolgte. Bereits 1915 hatte eine große Auswanderungswelle schwarzer Arbeiter aus den Südstaaten in den industrialisierten Norden begonnen. Durch den Krieg, in den fast ausschließlich Weiße einberufen wurden, ergab sich ein zusätzlicher Bedarf an Arbeitern in den Metropolen des Nordens. Die Musiker zogen mit ihrem Publikum nordwärts und machten Chicago, das ohnehin schon eine vibrierende Musikszene hatte, spätestens 1923 zur Hauptstadt des Jazz. Viel entscheidender für seine soziale Relevanz war aber, dass der Jazz sich von einer bis dahin weit versprengten lokalen Erscheinung zu einem nordamerikanischen Idiom von Toronto bis San Diego mit Ablegern in Europa wandelte.

Die große Migration

Ähnlich wie in New Orleans um 1900 kam es im Chicago der 1920er Jahre abermals zu sozialen Spannungen im Umfeld des Jazz, nur diesmal nicht zwischen Kreolen und Schwarzen, sondern zwischen den urbanen Musikern der elektrifizierten Weltstadt Chicago und den Neuankömmlingen aus dem vergleichsweise ländlichen New Orleans mit ihren Sitten, die von den eingesessenen Chicagoern als antiquiert belächelt wurden. Der Unterschied drückte sich vor allem im Tempo der Interpretationen der oft gleichen Stücke aus. Entsprach die Gangart der Musiker aus Chicago der Hektik einer dynamischen Großstadt, wirkten Zuwanderer wie King Oliver oder Kid Ory vergleichsweise phlegmatisch.

Chicago hatte schon vor 1917 eine funktionierende Infrastruktur mit Besonderheiten, die sich in wesentlichen Punkten von New Orleans unterschieden. Das schwarze Unterhaltungsgewerbe wurde zu diesem Zeitpunkt ausschließlich von Afroamerikanern organisiert und kontrolliert, es gab sogar eine Gewerkschaft schwarzer Jazzmusiker. In sogenannten black and tan clubs war es legal, dass Schwarze und Weiße gemeinsam tanzten, und in den großen Kinopalästen gab es auch jenseits der Bordelle reichlich Arbeit und Anerkennung, sodass Chicago von Afroamerikanern als "Place of Opportunity" angesehen wurde. Entgegen der landläufigen Auffassung, die Original Dixieland Jass Band habe 1917 mit dem "Livery Stable Blues" die erste Jazzschallplatte eingespielt, erfolgten in Chicago – wie auch in New York – schon lange vorher Schallplattenaufnahmen von Jazzmusikern, allen voran des Klarinettisten Wilbur Sweatman, dessen originäre Leistung von der Jazz-Historiografie weitgehend überhört wurde.

Ein weiterer Grund, warum sich Chicago als neues Zentrum des Jazz etablierte, war die 1919 erlassene Prohibition. Chicago wurde zum Zentrum der organisierten Kriminalität, die unter ihrem Hauptprotagonisten Al Capone eine fatale Liaison mit dem Jazz einging. Sinnbildlich für diese Verbindung stand Capones Club The Green Mill. Oben ein Mekka der Jazzmusiker, befand sich in den Katakomben darunter Capones Waffenlager. Diese Allianz sollte sich auch in New York fortsetzen, ein Grund dafür, dass sich Anhänger der sogenannten Harlem Renaissance, einer künstlerisch-intellektuellen Bewegung von Afroamerikanern in den 1920er und 1930er Jahren, mit ihrem Zugriff auf die Hochkultur vom Jazz distanzierte.

In Chicago machte sich auch noch eine weitere Transformation bemerkbar, deren Einfluss auf die Jazzgeschichte gar nicht überschätzt werden kann, sich damals aber keiner einhelligen Zustimmung in der Jazzgemeinde erfreute. Aus New Orleans waren nicht nur schwarze Musiker nach Chicago gezogen, sondern auch viele ihrer weißen Kollegen. Zu deren prominentesten Vertretern gehörten die New Orleans Rhythm Kings. Auch sie standen im Sold der Mafia. Die Band fand eine treue Anhängerschaft in einer Handvoll Jugendlicher einer High School aus dem Chicagoer Vorort Austin. Die damaligen Teenager, unter ihnen der Saxofonist Bud Freeman, der Posaunist Frank Teschemacher und der Kornettist Jimmy McPartland, hörten die Musik ihrer Vorbilder in Eisdielen und spielten das Gehörte auf den eigenen Instrumenten nach. Unter dem Namen Austin High School Gang erlangten sie selbst schnell große Popularität. Sie verkörperten einen völlig neuen Typus von Jazzmusiker. Weiße Jugendliche aus der Mittelklasse kamen erstmals nicht aufgrund ihrer sozialen Situation zum Jazz, sondern als Jazz-Enthusiasten. Sie waren auch die ersten, die sich den Jazz nicht durch das Live-Erlebnis, sondern von Schallplatten erschlossen. Der Jazz-Fan war geboren. Musiker wie Benny Goodman oder Gene Krupa standen der Austin High School Gang nahe und trugen deren Haltung nach New York.

Der sogenannte Chicago Jazz war weniger ein Subgenre des Jazz als ein Scharnier, das unter speziellen soziokulturellen Bedingungen die Wandlung des dominierenden New Orleans Jazz als einer zwar populären, aber doch immer noch weitgehenden Underground-Kultur zu jenem gigantischen Entertainment-Betrieb des Swing ermöglichte.

Die Tanzwut des Swing

In der Swing-Ära setzte eine Jazz-Euphorie ein, die es weder davor gegeben hatte noch jemals wieder geben sollte. Mit der Kommerzialisierung des Jazz ging paradoxerweise eine Politisierung ihrer wichtigsten Protagonisten einher, die sich jedoch in der Musik selbst kaum niederschlug.

Der Entwicklung des Swing zur amerikanischen Massenkultur ging ein Ereignis voraus, das die Situation für alle Musiker im Mutterland des Jazz ebenso nachhaltig veränderte wie die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs. Am 24. Oktober 1929 brach an der Wall Street die Börse zusammen, die Wirtschaftsleistung der USA sackte auf ein Minimum, und die Arbeitslosigkeit stieg auf ein nie gekanntes Ausmaß. Von den Folgen waren nicht nur die schwarzen US-Bürger betroffen, sondern binnen Wochen auch der weiße Mittelstand. Der Jazz, der vom ökonomischen Boom der 1920er Jahre profitiert hatte, wurde davon in seinem Grundbestand erschüttert. Unzählige Combos im ganzen Land waren in ihrer Existenz bedroht. Wie dramatisch die Lage war, verdeutlicht die Tatsache, dass Ende 1933 von 15.000 New Yorker Mitgliedern der American Federation of Musicians 12.000 arbeitslos waren. Erschwerend kam hinzu, dass der Siegeszug des Tonfilms viele Musiker um die letzte Einnahmequelle brachte. Um dieser Situation entgegenzuwirken, schlossen sich viele kleine Ensembles zu größeren Orchestern zusammen. Aus einer sozialen Notlage heraus kündigte sich die Geburt der Big Band an.

Mut zum Experiment bestand in den frühen 1930er Jahren kaum. Die neu gegründeten Jazz-Orchester spielten in erster Linie zum Tanz. Selbst Innovatoren der 1920er Jahre wie Fletcher Henderson oder Claude Hopkins schwammen auf dieser "weichen" Welle mit. Dennoch waren viele dieser Bands ein Ausdruck gelebter Demokratie, denn sie waren kollektiv organisiert und wählten im regelmäßigen Turnus den Leiter der Band aus ihrer Mitte. Das sollte sich in der Hochblüte der Swing-Ära zwar ändern, ihren demokratischen Charakter behielt die Bewegung trotzdem bei und erreichte nicht zuletzt aus diesem Grund jene Massenbasis, die dem Jazz danach nie wieder zuteilwerden sollte.

Der Swing war für viele Jazzmusiker ein Glücksfall. Für all jene Instrumentalisten des Oldtime Jazz jedoch, die sich zwar durch ihren individuellen Sound auszeichneten, aber keine Noten lesen konnten, war mit ihm der soziale Abstieg verbunden. King Oliver, einer der prominentesten Vertreter des New Orleans Jazz, starb in bitterer Armut.

In der Swing-Big-Band erfolgte eine neue Arbeitsteilung des Jazz. Ein Radiostar wie Benny Goodman, der unter dem Songtitel "Let's Dance" eine wöchentliche Radiosendung mit selbem Namen bespielte, musste unentwegt liefern. Er beschäftigte eine Vielzahl von Arrangeuren und Komponisten und teilte auch die Funktionen innerhalb der Band präzise auf. Der Aufstieg des "King of Swing" erfolgte nicht zufällig 1935. Die zwei Jahre zuvor von US-Präsident Franklin D. Roosevelt eingeleitete Politik des New Deal zeigte Wirkung. Zudem stoppte das Ende der Prohibition die Talfahrt der Staatskassen. Nach Jahren der Depression war wieder eine Lust am Entertainment zu verspüren.

Dass ausgerechnet Goodman das Gesicht der neuen Bewegung war, hatte mehrere Gründe. Er war ein linker Intellektueller, der als Jude zwar selbst Diskriminierungen hatte erfahren müssen, aber als Weißer dennoch für wesentlich breitere gesellschaftliche Schichten anschlussfähig war als seine schwarzen Kollegen. Dennoch bekannte er sich zum schwarzen Hot Jazz, denn "[a]us der Perspektive von 1934–35 war Swing genau genommen eine Revolte gegen die kommerziellen Sweet Dance Bands, die das Radio und die Top-Spielstätten dominierten". Aber Goodman ging noch weiter. Er war zwar nicht der erste weiße Bandleader, der schwarze Musiker anheuerte – das hatten vor ihm schon der Gitarrist Eddie Lang und der Vibrafonist Red Norvo getan –, doch niemand von seiner Popularität hatte das bisher gewagt. Goodman konnte es sich zudem leisten, auf Tourneen durch die Südstaaten zu verzichten, da man dort von ihm forderte, seine schwarzen Bandmitglieder durch Weiße zu ersetzen. Den daraus resultierenden Skandal nahm er in Kauf.

Goodmans Haltung färbte nicht nur auf andere Bandleader ab, sondern verfehlte auch nicht ihre Wirkung auf das Swing-Publikum. Der Mann, der in dieser Hinsicht hinter Goodman stand, war der Produzent und Impresario John Hammond, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Swing-Ära. Hammond stand in enger Tuchfühlung mit der Kommunistischen Partei der USA und übte auch Einfluss auf Musikerinnen und Musiker wie Count Basie, Fletcher Henderson, Duke Ellington und Billie Holiday aus. Goodman und Basie unterstützten offen den kommunistischen Harlemer Abgeordneten Ben Davis. Auch das für den Jazz jener Jahre so wichtige Café Society im New Yorker Stadtteil Greenwich Village stand der Kommunistischen Partei nahe. Dass John Hammond, nachdem er sich Ende der 1940er Jahre vom Jazz abgewandt hatte, ein leidenschaftlicher Förderer von Pete Seeger, Bob Dylan und Bruce Springsteen werden sollte, sei hier nur am Rande erwähnt.

Das Echo, das die Swing-Welle unter ihren Anhängern hervorrief, gleicht einer politischen Manifestation. Am 24. August 1938 lockte ein Swing Jamboree – damals der gängige Begriff für ein Festival – auf dem Chicagoer Soldier Field ungefähr 100.000 meist jugendliche Besucher. Die Daily News verglich dieses Ereignis mit den Kinderkreuzzügen des Mittelalters. Nach einem Auftritt des Jimmie Lunceford Orchestras in Los Angeles wurde gar von "musikalischem Hitlerismus" gesprochen. Allgemein konnte man vom Swing aber als gesamtamerikanisches Phänomen sprechen, das über alle sozialen und ethnischen Grenzen hinwegtanzte. Dafür sprach auch, dass während der Swing-Ära Magazine wie DownBeat oder Metronome begannen, Leserumfragen durchzuführen, demokratische Abstimmungen über den Beliebtheitsgrad von Musikern, die nicht selten in poll winners bands gipfelten.

Während Goodman sich zwar als Person politisch positionierte, vermied er weitgehend politische Themen in seinen Songs. Ganz anders als Duke Ellington, der in dem Stück "Take the 'A' Train" oder der Suite "Black, Brown and Beige" offen politische und soziale Themen aufgriff und somit zu einem künstlerischen Vorreiter der Bürgerrechtsbewegung wurde. Noch deutlicher bezog Billie Holiday in "Strange Fruit" Stellung, dem ersten explizit politischen Song der Jazzgeschichte.

Salt Peanuts

"Bebop ist die Musik der Revolte", so schreibt es der US-amerikanische Musikwissenschaftler Scott DeVaux in seinem Buch "The Birth of Bebop". Damit hat er zweifellos recht, denn Musiker wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie oder Bud Powell revolutionierten den Jazz grundlegend. Der Bebop war ein Aufstand gegen musikalischen Kommerz und überholte Strukturen in der Musik selbst. Doch anders als der Swing war er kein Ausdruck einer sozialen oder politischen Revolte, denn bei allem Aufbegehren gegen bestehende Zustände war der Bebop doch eher eine elitäre Erscheinung. Der Jazz revoltierte gegen sich selbst. Dem Bebop und seinen Protagonisten war die Empathie gegenüber den Rezipienten verloren gegangen und führte zu einer bewusst in Kauf genommenen Gefahr einer "expressiven Kodifizierung". Kein Titel bringt diese Egal-Haltung der Musiker gegenüber dem Alltag ihres Publikums besser zum Ausdruck als Dizzy Gillespies "Salt Peanuts".

Der Bebop vermittelte derart radikal neue musikalische Inhalte, dass er der konkreten politischen oder sozialen Botschaften nicht mehr bedurfte. Diese Message wurde auch so verstanden. Im Bebop ging es anders als im Swing oder den auf Kollektivimprovisation beruhenden Spielarten des Oldtime Jazz um das sich frei und unabhängig im Solo entfaltende Individuum. Die Anlage dazu finden wir allerdings schon gegen Ende der Swing-Ära in Starsolisten wie Ben Webster, Coleman Hawkins oder Lester Young, die nicht mehr fester Teil eines Orchesters waren, sondern sich als Freelancer von Engagement zu Engagement hangelten.

So gravierend der vom Bebop eingeleitete musikalische Paradigmenwechsel für den Jazz gewesen sein mochte, waren es doch einmal mehr gesellschaftliche Umstände, die ihm vorausgingen. Bereits ab 1939 trafen sich Musiker um den Pianisten Teddy Hill, den Gitarristen Charlie Christian, den Trompeter Dizzy Gillespie und den Saxofonisten Don Byas zu sogenannten after hour sessions im Minton’s Playhouse in Harlem, um – von den Hotel-Gigs der Big Bands gelangweilt – eine neue, wilde, asymmetrische Musik auszuprobieren.

Zunächst wurde diesem Unterfangen von der Öffentlichkeit keinerlei Interesse entgegengebracht. Das sollte es auch nicht, denn das Minton's war nur Musikern und im Musikbusiness Beschäftigten zugänglich. Aber während die Beteiligung der USA am Zweiten Weltkrieg hunderttausenden Amerikanern in den folgenden Jahren den Tod bringen sollte, wirkte sie sich begünstigend auf die Verbreitung dieser neuen Musik aus, die bald unter dem Schlagwort Bebop die Welt erobern sollte. Im Zuge der Beteiligung der USA am Zweiten Weltkrieg wurde 1944 eine Vergnügungssteuer, die sogenannte Cabaret Tax, von 30 Prozent auf alle Tanzveranstaltungen erhoben. Sie wurde zwar bald auf 20 Prozent gesenkt, aber für Clubbesitzer lohnte es sich trotzdem nicht mehr, Swing Bands zu engagieren, die Tanzmusik spielten. Die Bebopper, die den neuen, untanzbaren Sound bereits seit zwei Jahren ausprobiert hatten, waren genau im rechten Augenblick zur Stelle. "Die Gemeinde war vollgestopft mit Musik", erinnert sich der Schlagzeuger Max Roach. "Man konnte die Straße runterlaufen und Menschen singen und spielen hören."

Bebop war viel mehr als der Swing eine Musik, die von den Codes der Black Community geprägt war, obwohl er auch von Weißen wie den Pianisten Al Haig und George Wallington oder dem Trompeter Red Rodney praktiziert wurde. Zudem setzte sich im Bebop noch einmal die Arbeitsmentalität des frühen Jazz durch: "Indem sie Weiße in ihren inneren Kreis ließen, bekräftigten Parker und Gillespie, dass Musik ein Leistungsprinzip und kein rassisches Privileg ist."

Im August 1943 kam es in Harlem zu einem Aufstand, bei dem 1.500 Läden geplündert, 800 Menschen verletzt, sechs Menschen getötet und über 700 Afroamerikaner verhaftet wurden. Die Unsicherheit, die durch die sogenannten Harlem Riots herrschte, führte den Bebop aus dem Minton's und dem nahe gelegenen Monroe's heraus in die heute berühmte Jazzmeile auf der 52nd Street und verwandelte ihn von einer Insidermusik in das hippste Idiom seiner Zeit. Allerdings traf das vorerst nur auf New York zu, denn man konnte den Bebop nur live erleben und nicht auf Schallplatte hören. Weil das Verteidigungsministerium Schellack zum kriegswichtigen Rohstoff erklärt hatte, rief die Musikergewerkschaft am 1. August 1942 einen Streik aus, der sich bis November 1944 hinziehen sollte. In dieser Zeit wurden mit Ausnahme des zum Verteidigungsministerium gehörenden Labels V-Disc keine Platten produziert. Nach Ende dieses recording bans hatte sich der Bebop vollständig entwickelt, sodass die ersten Plattenaufnahmen des Stils auf dem neuen Material Vinyl klanglich und spielerisch wie ein Bruch von einem Tag auf den anderen wirkten.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Neuausrichtung der Jazz-Rezeption durch den Bebop. Unzählige seiner Vertreter waren schwer durch ihren Drogenkonsum geschädigt. Viele starben jung. Die Lebensgeschichten von Charlie Parker, Bud Powell und vielen anderen waren Leidensgeschichten. Sie wurden nicht nur ihrer Musik wegen gehört, sondern auch wegen ihres Lebens. Jazz wurde zu einer Ersatzreligion, in der ihre Protagonisten Märtyrern gleich die Leiden der Welt auf sich zu nehmen und ihrer Hörerschaft (bis heute) Erlösung zu spenden schienen. Womöglich ist auch dies einer der Gründe dafür, dass Jazzmusiker der Gegenwart, die meist Universitäten absolviert haben und ein vergleichsweise bürgerliches Leben führen, nicht mehr den Kultstatus der "Jazz-Heiligen" des Bebop und vorheriger Epochen erlangen können.

Die Botschaft der Freiheit

Das Interregnum des Bebop währte nur kurz, "Musik, die so stark auf Überraschung beruhte, konnte sich nicht weiter selbst wiederholen". Spätestens 1950 hatte der Bebop als Antithese zum Swing seine Funktion verloren. Er war von einer Bewegung zur Pose erstarrt. Der neue Stichwortgeber für den Jazz wurde der Rhythm and Blues. Aus der Synthese der Männlichkeitsrituale des Bebop, bei denen es darum ging, sich musikalisch zu beweisen, und des Gemeinschaftsgefühls von Gospel, Blues und karibischer Musik ging ein neuer Musikstil hervor, der in der Presse Hardbop genannt wurde. Das spätestens ab 1954 erstarkende Civil Rights Movement brauchte neue Hymnen, Musiker wie Sonny Rollins, Horace Silver und Art Blakey lieferten sie. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung hielt auch ein neuer Begriff Einzug in den Jazz: Freedom.

Der Weg dorthin war nicht ohne Hindernisse. Die Plattenfirmen wehrten sich dagegen, den Jazz zu politisieren. Sonny Rollins' stilprägendes Trio-Album "The Freedom Suite" mit Max Roach und Oscar Pettiford war dem Kampf der Afroamerikaner um Gleichberechtigung gewidmet. Dieser Albumtitel stellte 1958 einen derartigen Affront dar, dass die Jazzpresse dagegen Sturm lief, das Label Riverside die Veröffentlichung zurückzog und kurz darauf unter dem unverfänglichen Titel "Shadow Waltz" noch einmal herausbrachte. Doch es war zu spät, die Botschaft war bereits gehört worden.

Ein Jahr später nahm Max Roach mit seiner Frau Abbey Lincoln das wesentlich eindringlichere Album "We Insist! Freedom Now Suite" auf, das nicht nur musikalisch und inhaltlich radikaler war, sondern sich durch das provokante Cover, das einen Sit-in zeigt, unmissverständlich in die Nähe der Bürgerrechtsbewegung rückte. Ornette Coleman folgte mit dem Album "Free Jazz", das dem ganzen Genre den Namen geben sollte, und Art Blakey mit "The Freedom Rider" und "Free For All". Der Kontrabassist Charles Mingus wusste in seiner Musik seinen ganzen Zorn auf die bestehende Gesellschaft zu kanalisieren. Er griff offen Orval Faubus, den Gouverneur von Arkansas, an, thematisierte in "Oh Lord Don't Let Them Drop That Atomic Bomb On Me" seine Angst vor einem Atomkrieg oder verlieh in seinem Song "Freedom" der Idee von Freiheit einen pessimistischen Ausblick. In den späten 1950er Jahren war Freiheit zur zentralen Botschaft des Jazz geworden. Der Hardbop ersetzte die Idee der individuellen Freiheit im Bebop durch die Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Freiheit.

Im sogenannten Free Jazz – Ornette Coleman hatte mit seinem Albumtitel keineswegs ein neues Genre konstituieren wollen – erfolgte gleichzeitig eine Öffnung wie auch eine Verengung der Perspektive. Free Jazz war radikalästhetischer Protest, der viele Hörer vor den Kopf stieß. Gleichzeitig öffnete John Coltrane mit seinem Album "A Love Supreme" die Tür in Richtung der Pophörerschaft, die, angeregt durch die Beatles, die Rolling Stones und die gesamte "British Invasion", nach neuen, experimentelleren Feldern suchte. Für den Jazz barg das gleichermaßen Chancen und Gefahren. Als Bob Dylan 1965 in dem Song "Desolation Row" nicht nur Coltranes Format übernahm (der Song ist über elf Minuten lang), sondern auch dessen Mantrahaftigkeit, und obendrein zuließ, dass von vorn bis hinten improvisiert wurde, gingen bestimmte Kernkompetenzen des Jazz auf Rock und Pop über. Die Formel "Jazz = Kunst/Pop = Kommerz" ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. Im Rock wurde immer eifriger improvisiert, und als John Coltrane 1967 starb, war es der Rock-Gitarrist Jimi Hendrix, der dessen Haltung und Intensität am überzeugendsten auf seiner Gitarre weiterführen konnte.

Von Ausnahmen wie Archie Shepp abgesehen, führte der Free Jazz nicht zuletzt zu einer Konzentration des Jazz auf ästhetische und einer Abwendung von inhaltlichen Fragen. Der Terraingewinn des Hardbop aufgrund seiner sozialen Teilhabe wurde ohne Bedenken aufgegeben, der politische Diskurs wurde der Rock-Szene überlassen und damit auch ein großer Teil des bisherigen Jazz-Publikums, das bei Bands und Künstlern wie The Grateful Dead, The Doors, Jimi Hendrix, Frank Zappa oder Parliament eine neue Heimat fand.

Das traf insbesondere auf den Protest gegen den Vietnamkrieg zu. Das Civil Rights Movement hatte es anfangs versäumt, sich auf die Seite der Kriegsgegner zu schlagen, weil es erstens nicht seinen Patriotismus infrage stellen lassen wollte und zweitens Angst hatte, das Thema Vietnamkrieg könne von seinen eigenen Anliegen ablenken. Martin Luther King machte aber in seinen Reden deutlich, dass Militarismus und Rassismus untrennbar miteinander verbunden sind. Von Mitte der 1960er Jahre an wurde der Protest gegen den Vietnamkrieg somit auch ein zentrales Thema der Bürgerrechtsbewegung. Doch anders als im Rock thematisierten nur wenige Jazzmusiker wie Archie Shepp, Leon Thomas oder Rahsaan Roland Kirk den Vietnamkrieg. Mit dem Aufkommen des Electric Jazz waren es Miles Davis, der auf "In A Silent Way" leise gegen den Krieg protestierte, oder Weather Report mit der Klangdystopie "Unknown Soldier" auf dem Album "I Sing the Body Electric".

Vom Jazz zur Great Black Music und zurück

Allerdings sollte das Jazz-Biotop USA noch einmal die Kraft zur sozialen Neuaufstellung erhalten. Ein direkter Zusammenhang zwischen der Gründung der Black Panther Party 1966 und der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) in Chicago 1965 lässt sich nicht herstellen, doch beide folgten dem Bedürfnis der afroamerikanischen Community, sich zu organisieren. Chicago hatte zu dieser Zeit die am schnellsten wachsende afroamerikanische Bevölkerung in den USA. Die AACM hatte sich zum Ziel gesetzt, die sozialen Aspekte der Musik in die Gemeinde zurückzutragen. Sie löste den Begriff Jazz durch Great Black Music ab, um Vorurteilen und Ausgrenzungen entgegenzuwirken. Bis heute ist die AACM, aus der Künstler und Gruppen wie das Art Ensemble of Chicago, das Ethnic Heritage Ensemble, Anthony Braxton, Jack DeJohnette, George Lewis oder in jüngerer Zeit Nicole Mitchell und Makaya McCraven hervorgingen, die erfolgreichste soziale Selbsthilfegruppe des amerikanischen Jazz.

Ähnliche Unterfangen waren die wegen ihrer Nähe zur Black Panther Party vom FBI überwachte Union of God's Musicians and Artists Anscension in Los Angeles unter Führung von Horace Tapscott, die Black Artists Group in St. Louis oder das von Lee Morgan und Rahsaan Roland Kirk ins Leben gerufene Jazz & People's Movement, dem unter anderem Pharoah Sanders, Max Roach, Archie Shepp, Freddie Hubbard und Elvin Jones angehörten. Die Gruppe machte durch spektakuläre politische Aktionen auf sich aufmerksam, beispielsweise stürmten Mitglieder in Guerilla-Manier landesweit ausgestrahlte TV-Sendungen wie die Ed Sullivan Show, die Tonight Show oder die Dick Cavett Show und skandierten unter anderem Charles Mingus' "Haitian Fight Song". Bill Dixons Free Conservatory of the University of the Streets in New York gehört ebenfalls in die Gruppe jener Non-Profit-Organisationen, von denen letztlich nur der AACM dauerhafter Bestand vergönnt war.

Auf seinem Album "Crisis" hatte Ornette Coleman bereits 1969 den erstarrten Zustand des Jazz speziell in New York charakterisiert. In den frühen 1970er Jahren bildete sich daher im Big Apple, angeregt von Coleman und dem Saxofonisten Sam Rivers, die sogenannte Loft-Szene heraus, die – nicht zuletzt unter Mitwirkung von Musikern der erwähnten Organisationen – musikalisch nach neuen Scharnieren zwischen Tradition und Avantgarde suchte und sich organisatorisch vom etablierten Jazz-Betrieb der Clubs und Labels absetzte. In damals verwahrlosten Teilen Manhattans wie der Lower East Side, Soho oder Harlem standen zahlreiche Lofts leer, in denen die Musiker wohnten und gleichzeitig wirkten. "Sowie du einen dieser typischen Räume, die immer im Umbau waren, betratest (…), hattest du den Schotter der Pennergegend draußen abgeschüttelt, zahltest den geringsten Eintritt und wurdest sofort in die Wärme eines echten Gemeindezentrums gezogen", erinnert sich der Journalist Howard Mandel an Sam Rivers' legendäres Loft, das Studio Rivbea. Doch diese Rückbesinnung auf die Straße und die Alltagsbedürfnisse seiner potenziellen Hörerschaft kam mindestens ein halbes Jahrzehnt zu spät, um sich gegen den urbanen Disco-Boom durchzusetzen. Die Entfernung des Jazz von seiner einstigen Massenbasis war spätestens Mitte der 1970er Jahre irreversibel.

Erschwerend kam wie so oft ein außermusikalischer Faktor hinzu, der die Popmusik inhaltlich genauso betraf wie den Jazz, aber im Hinblick auf die gesellschaftliche Akzeptanz ganz andere Auswirkungen hatte. Mit dem Rücktritt von Präsident Richard Nixon am 9. August 1974 und dem kurz zuvor erfolgten Ende des amerikanischen Engagements im Vietnamkrieg war der künstlerischen Protestbewegung Amerikas der Hauptadressat verloren gegangen. Politische und soziale Inhalte verschwanden komplett aus dem Jazz. Der Begriff Jazz an sich erschien auf dem amerikanischen Markt obsolet. Die Musikindustrie etablierte erfolgreich das Etikett Fusion, das sich auch bei jazzfernen Konsumentenkreisen besser vermarkten ließ. Statt sich weiterhin auf politische und soziale Themen zu konzentrieren, richtete man seine Aufmerksamkeit eher auf die klangtechnische Hörbarmachung virtuoser Finessen. Der Siegeszug des Neotraditionalismus der "Young Lions" in den späten 1980er Jahren zementierte zudem den Status des Jazz als Soundtrack für den gehobenen Mittelstand.

Selbst ein so einschneidendes, den Lauf der kompletten Weltpolitik und der sozialen Situation der USA veränderndes Fanal wie der 11. September 2001 blieb im Jazz völlig ohne Wirkung. Erst nachdem sich Jazz und HipHop operativ annäherten und der Jazz sich dem sozialen Diskurs der Hip-Hop-Community anschließen konnte, fanden Teile der amerikanischen Jazz-Community wieder zu sozialen Inhalten zurück. Musikerinnen und Musiker wie Steve Coleman, Robert Glasper, Terri Lyne Carrington, Moor Mother oder Makaya McCraven sind in diesem Prozess federführend. Ob der Jazz daraus aber die Kraft generieren wird, wieder zu einem politischen und sozialen Faktor des US-amerikanischen Kulturlebens aufzusteigen, bleibt vorsichtig abzuwarten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Thomas Brothers, Louis Armstrong's New Orleans, New York 2006, S. 1.

  2. Ben Sidran, Black Talk. Schwarze Musik – Die andere Kultur im weißen Amerika, Hofheim 1985, S. 74.

  3. Vgl. Daniel Hardie, Jazz Historiography. The Story of Jazz History Writing, Bloomington 2002, S. 6.

  4. Joachim-Ernst Berendt/Günter Huesmann, Das Jazzbuch, Frankfurt/M. 20077, S. 13.

  5. Vgl. Kathy J. Ogren, The Jazz Revolution. Twenties America and the Meaning of Jazz, New York u.a. 1989, S. 33.

  6. Mark Berresford, That's Got 'Em! The Life and Music of Wilbur C. Sweatman, Jackson, MO 2009, S. 47.

  7. Lewis A. Erenberg, Swingin' the Dream. Big Band Jazz and the Rebirth of American Culture, Chicago 1998, S. 69.

  8. Ebd., S. 37.

  9. Scott DeVaux, The Birth of Bebop. A Social and Musical History, London 1999, S. 14.

  10. David Rosenthal, Hardbop. Jazz & Black Music 1955–1965, New York u.a. 1992, S. 15.

  11. Ira Gitler, Swing to Bop. An Oral History of the Transition in Jazz in the 1940s, New York u.a. 1985, S. 76.

  12. DeVaux (Anm. 9), S. 19.

  13. Rosenthal (Anm. 10), S. 23.

  14. Vgl. Marcus A. Woelfle, Aber die Kunst kennt keine Grenze. Zum 90. Geburtstag des Bebop-Genies Charlie Parker, in: Jazzzeitung 3/2010, S. 22f.

  15. Vgl. Wolf Kampmann, Jazz. Eine Geschichte von 1900 bis Übermorgen, Stuttgart 2016, S. 202.

  16. Howard Mandel, Wildflowers, The New York Loft Sessions. Linernotes zur Neuausgabe, New York 1999.

  17. Vgl. Richard Guilliatt, Jazz: The Young Lions' Roar. Wynton Marsalis and the "Neoclassical" Lincoln Center Orchestra Are Helping Fuel the Noisiest Debate Since Miles Went Electric, in: Los Angeles Times, 13.9.1992.

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ist Musikjournalist und Autor. 2016 erschien sein Buch "Jazz. Eine Geschichte von 1900 bis übermorgen".
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