Wie jeder Musikstil transportiert auch der Jazz über seinen musikalischen Gehalt hinaus Normen und Werte und damit Identität und Zugehörigkeit. Wie kaum eine andere populäre Musik(-kultur) kann er jedoch auf eine über einhundertjährige Kontinuität zurückblicken. In seiner Entstehung und Weiterentwicklung, seiner musikalischen Praxis und Rezeption ist er dabei eng in die US-amerikanische Kultur- und Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts eingebunden, insbesondere in afroamerikanische Emanzipationsdiskurse, die bis in die Gegenwart reichen.
In Deutschland zeigte sich bereits in den 1920er Jahren eine Begeisterung für den damals immer beliebter werdenden Jazz. Bemerkenswert ist, wie mit der Musik im Auf und Ab der unterschiedlichen politischen Systeme umgegangen wurde: Galt der Jazz im Nationalsozialismus als "zersetzendes Element", wurde er unter amerikanischer Besatzung zum Freiheitssymbol für die Überwindung der Diktatur. Während er sich in der Bundesrepublik immer mehr von seinen amerikanischen Vorbildern löste, formierte sich auch in der DDR eine einzigartige (Free-)Jazz-Szene.
Sind Jazzpraxis und -rezeption unter diesen historischen Gesichtspunkten also primär als politisch, ja rebellisch aufzufassen? Das ginge vielleicht zu weit, handelt es sich beim Jazz doch in erster Linie um Kunst. Gleichwohl gibt es politische Auseinandersetzungen im und um den Jazz, die über den Ursprung der Musik hinausgehen: etwa hinsichtlich der Rolle von Frauen im Jazz, der Zukunft der Szene oder der öffentlichen Anerkennung für eine Kunst, die häufig im Schatten der klassischen Musik steht. In all diesen Debatten ist Offenheit gefragt, der Mut für Neues und eine freie Auseinandersetzung mit Ideen – gewissermaßen Kernkompetenzen im Jazz.