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Nachhaltig in die Zukunft? Italien und der Green Deal

Karoline Rörig

/ 15 Minuten zu lesen

Der EU-geförderte nationale Aufbau- und Resilienzplan bietet Italien die Chance, überfällige Reformen und Investitionen anzustoßen. Für eine Erneuerung im Sinne nachhaltiger Entwicklung braucht es das Engagement von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

194,4 Milliarden Euro: Auf diese beachtliche Summe beläuft sich der Umfang des „Piano Nazionale di Rilancio e Resilienza“ (PNRR), des nationalen Aufbau- und Resilienzplans, mit dem Italien im Rahmen des 2020 von der Europäischen Union verabschiedeten Wiederaufbaufonds zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie „NextGenerationEU“ (NGEU) einen Neuanfang gestalten kann. Für das chronisch von Krisen geschüttelte und hochverschuldete Land ist das eine einzigartige Chance, lange überfällige und dringend notwendige Reformen und Investitionen anzustoßen.

Entsprechend der Maßgaben und Zielsetzungen des NGEU ist die Gewährung und Auszahlung der Hilfsgelder an die Bedingung geknüpft, dass die geplanten Maßnahmen und Investitionen im Einklang mit dem 2019 vorgestellten europäischen Green Deal sind, also zum Aufbau eines grüneren, digitaleren und resilienteren Europa beitragen. Für Italien, das sich bislang eher weniger bei der Gestaltung einer sozial-ökologischen Wende und dem Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft hervorgetan hat, bedeutet das eine große Chance und zugleich Herausforderung. Wie steht es in Italiens Politik, Wirtschaft und Gesellschaft um das Thema Nachhaltigkeit und die Umsetzung der 2015 von der Weltgemeinschaft verabschiedeten „Agenda 2030“, also letztlich um die Modernisierung und Zukunftsfähigkeit des Landes?

Italiens Green Deal

Der Aufbau- und Resilienzplan, den die damalige italienische Regierung unter Premierminister Mario Draghi auf Basis der Vorarbeiten der Vorgängerregierung unter Giuseppe Conte Ende April 2021 der Europäischen Kommission vorlegte, ist gewissermaßen die Roadmap, die das von der Corona-Pandemie besonders hart getroffene Land aus der Krise in eine bessere Zukunft führen soll. Zwar ist fraglich, ob die ambitionierten Ziele des PNRR gemäß Zeitplan erreicht werden, aber zweifelsohne ist damit in Italiens Politik, Wirtschaft und Gesellschaft viel in Bewegung gekommen und haben sich für alle Akteure – Institutionen, Unternehmen, Bürger – auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene neue Möglichkeiten aufgetan, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben.

So hat auch die am 25. September 2022 nach dem vorzeitigen Ende der Regierung von Mario Draghi ins Amt gewählte Regierung unter Giorgia Meloni den PNRR zur Chefsache gemacht und eigens einen Minister für Europäische Angelegenheiten, den Süden, die Kohäsionspolitik und den PNRR bestellt. Dieses Amt wurde Raffaele Fitto übertragen, der wie die Ministerpräsidentin der Partei Fratelli d’Italia angehört. Zugleich wurde unmittelbar nach Übernahme der Regierung eine Revision des PNRR in Angriff genommen, die nach monatelanger Ausarbeitung Ende November 2023 von der EU-Kommission bewilligt wurde. Damit gingen Veränderungen in der Schwerpunktsetzung und Budgetverteilung einher, die bei der Betrachtung des PNRR zu berücksichtigen sind.

Das Land erhält aus den EU-Mitteln 68,9 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse und 122,6 Milliarden Euro als Darlehen, insgesamt also 191,5 Milliarden Euro. Nach der Revision 2023 wurde das Gesamtvolumen durch Steigerung der Zuschüsse sogar auf 194,4 Milliarden Euro erhöht. Hinzu kommen 14,4 Milliarden Euro aus der europäischen Aufbauhilfe „REACT-EU“ und 30 Milliarden Euro aus nationalen Haushaltsmitteln, einem zugleich mit dem PNRR neu eingerichteten Ergänzungsfonds „Piano Nazionale per gli Investimenti Complementari“. Außerdem erhält Italien zusätzlich 2,76 Milliarden Euro aus dem Plan „RePowerEU“, der infolge der durch den Krieg in der Ukraine bedingten Energiekrise im Februar 2023 verabschiedet wurde. Dem Land steht damit mithin die beachtliche Summe von insgesamt rund 240 Milliarden Euro für seinen Green Deal zur Verfügung.

Die Mittelverwendung entspricht der Struktur des PNRR: In Übereinstimmung mit den Vorgaben des NGEU gibt es sechs thematische Schwerpunkte, sogenannte Missionen, die in insgesamt 16 Komponenten unterteilt sind, die wiederum eine Vielzahl von Maßnahmen umfassen, bei denen es sich entweder um ordnungspolitische Reformen oder wirtschaftliche Investitionen handeln kann. Die Umsetzung erfolgt entlang bestimmter quantitativ messbarer Ziele, wie dem Zuwachs an einer bestimmten Anzahl von Solar- oder Windkraftanlagen, und Meilensteinen eher qualitativer Natur, wie der Verabschiedung von Gesetzen zur Vereinfachung von Vorschriften. Nach der Revision umfasst der PNRR inzwischen über 600 Ziele und Meilensteine. Jede dieser Maßnahmen ist binnen bestimmter Fristen zu erreichen, mit denen die Auszahlungen der insgesamt zehn Tranchen des PNRR bis Ende Juni 2026 verknüpft sind. Bislang wurden vier Tranchen ausgezahlt, die fünfte wurde im Juli 2024 bewilligt. Bis dato hat die EU-Kommission im Rahmen des Programms 113,5 Milliarden Euro an Italien ausgezahlt.

Die Verteilung der Gelder gestaltet sich nach der Revision wie folgt: Für die erste Mission „Digitalisierung, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit, Kultur und Tourismus“ werden 41,34 Milliarden Euro bereitgestellt, für die zweite Mission „Grüne Revolution und ökologische Transformation“ sind 55,52 Milliarden Euro vorgesehen, für die dritte Mission „Infrastruktur für nachhaltige Mobilität“ 23,74 Milliarden Euro, für die vierte Mission „Bildung und Forschung“ 30,09 Milliarden Euro, für die fünfte Mission „Inklusion und Zusammenhalt“ mit Fokus auf arbeitsmarktpolitische und beschäftigungsfördernde Maßnahmen 16,92 Milliarden Euro, für die sechste Mission „Gesundheit“ 15,62 Milliarden Euro und für die neu hinzugekommene siebte Mission „RePowerEU“ 11,18 Milliarden Euro (Abbildung).

Während die italienische Regierung den Fortgang der Umsetzung in der Öffentlichkeit als erfolgreich darstellt, bewerten die meisten Beobachter die Entwicklung kritisch, nicht zuletzt die EU-Kommission, die sich in ihrer am 21. Februar 2024 veröffentlichten „Mid Term Evaluation“ nachdenklich bis besorgt zeigte, allerdings nicht allein in Bezug auf Italien. Das Beratungsunternehmen The European House – Ambrosetti stellte fest, dass von den insgesamt fast 230000 Projekten des PNRR Ende 2023 lediglich 3 Prozent abgeschlossen waren und ein Drittel der Mittel noch nicht zugeordnet war. Ein Team um den Ökonomen Carlo Cottarelli wies darauf hin, dass von den 91 geplanten Investitionen, die bis Ende 2026 abgeschlossen sein sollen, 64 noch nicht begonnen wurden. Dabei handelt es sich um so anspruchsvolle Vorhaben wie den Bau von insgesamt 284 Kilometer Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke (für insgesamt 12,6 Milliarden Euro), den Ausbau von schnellen Internetverbindungen (für 5,3 Milliarden Euro) und die Schaffung von mehr als 150000 neuen Kindergartenplätzen (für insgesamt 3,2 Milliarden Euro). Der italienische Rechnungshof hält dagegen, dass es nur bei 7 Prozent der zu realisierenden Investitionsmaßnahmen Schwierigkeiten gebe.

Unstrittig ist, dass bis zum Ende der Laufzeit im Juni 2026 noch eine Vielzahl von Maßnahmen umzusetzen und enorme Summen auszugeben sind: Laut offiziellen Angaben wurden bis zum 30. Juni 2024 PNRR-Maßnahmen im Gesamtwert von rund 165 Milliarden Euro aktiviert, während sich die effektiv getätigten Ausgaben nur auf 51,4 Milliarden Euro belaufen. Hier wird in den verbleibenden drei Jahren des Plans vieles aufzuholen sein. Die mit der Umsetzung betrauten oder koordinierenden Behörden und öffentlichen Verwaltungen stellt dies vor große Herausforderungen, zumal sie kaum über die notwendigen Ressourcen verfügen: Es mangelt an Personal, Ausstattung und Fachkompetenzen. Hinzu kommen unerwartete Preissteigerungen bei Energie, Rohstoffen und Baumaterialien aufgrund der Auswirkungen der Pandemie und vor allem aufgrund des Krieges in der Ukraine und damit verbundener Planungsunsicherheiten.

Die Möglichkeiten und Chancen, Schwierigkeiten und Herausforderungen, die der PNRR mit sich bringt, sind mannigfaltig. Die Ökonomen Tito Boeri und Roberto Perotti sprechen daher zugespitzt von einer grande abbuffata (einem großen Gelage) und fassen die grundlegenden Fehler kurz zusammen: zu viel Geld, zu viel Druck, es ohne Rücksicht auf Verluste auszugeben, und zu wenig Zeit, es gut auszugeben. Aber es gibt keinen Ausweg als die Flucht nach vorn: Der PNRR ist schlicht too big to fail und Italiens Weg in die Grüne Transformation damit unumkehrbar.

Nachhaltig Wirtschaften

Italiens Unternehmen spielen in diesem Transformationsprozess eine entscheidende Rolle, wobei sie Treiber und Getriebene zugleich sind. Ihre Bedeutung hat umso mehr Gewicht, als Italien eine der größten und bedeutendsten Volkswirtschaften ist – gemessen am Bruttoinlandsprodukt steht es auf Rang 3 in der EU und auf Rang 8 weltweit. Die wichtigsten, auch im internationalen Export erfolgreichen Branchen der italienischen Industrie sind Chemie und Pharma, Automobil, Maschinenbau, Stahl und Elektrotechnik/Elektronik, gefolgt von Lebensmittel, Gummi/Plastik und Textil.

In all diesen Sektoren finden seit Jahren im Zusammenhang mit der Globalisierung und Digitalisierung große Umwälzungen statt. Befeuert durch multiple Krisen, Kriege und den sich verschärfenden Klimawandel bekommen Unternehmen weltweit die Konsequenzen dieser Entwicklungen immer mehr zu spüren, etwa durch steigende Energie- und Produktionskosten, personelle Engpässe, Unsicherheiten in den Lieferketten und anderes mehr. Auf der Suche nach langfristig zukunftsfähigen Lösungen für ihr unternehmerisches Handeln orientieren sich die Akteure verstärkt an ganzheitlich ausgerichteten Strategien und Konzepten wie Corporate Social Responsibility (CSR) oder Environmental, Social and Corporate Governance (ESG). Beide Ansätze bestehen schon länger, haben aber eine neue Dringlichkeit gewonnen und inzwischen auch zu entsprechenden gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien auf nationaler und europäischer Ebene geführt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die 2020 verabschiedete EU-Taxonomieverordnung, die im Frühjahr 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedete „Corporate Sustainability Due Diligence Directive“ oder die europäische CSR-Richtlinie von 2014, die jüngst novelliert wurde. Die neugefasste Richtlinie, bekannt als „Corporate Sustainability Reporting Directive“, ist seit 2023 in Kraft.

Diesen Bestimmungen gemäß sind schon heute Hunderte italienische Unternehmen berichtspflichtig. Entsprechend der unterschiedlichen und sich sukzessive auf immer weitere Kreise ausweitenden Anforderungen werden es in den kommenden Jahren mehrere Tausend sein, wobei auch nicht berichtspflichtige Zulieferer innerhalb der eng verflochtenen Lieferketten indirekt betroffen und einbezogen sein werden. Das Thema Nachhaltigkeit wird somit auch für Italiens Unternehmen weiter an Bedeutung gewinnen, die sich dieser Herausforderung in vielen Fällen bereits stellen. Nachhaltig zu wirtschaften, kann in vielerlei Hinsicht Vorteile bringen: Insbesondere Kosten und Risiken lassen sich reduzieren, darüber hinaus trägt es bei Kunden, Mitarbeitern und Investoren zu einem positiven Unternehmensimage bei. Das Interesse an und die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen steigt weiter – Nachhaltigkeit ist längst zu einem Megatrend und unternehmerischen Erfolgsfaktor geworden.

Im Bewusstsein und vitalen Interesse, auch künftig im internationalen Wettbewerb zu bestehen, Marktanteile auszubauen, Marktführerschaft zu erlangen oder zu halten, haben zahlreiche italienische Unternehmen aller Branchen ihre Strategien, Produkte und Prozesse an nachhaltige Kriterien und Vorgaben angepasst. Stand Juni 2023 hatten knapp 70 Prozent der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes entsprechende Schritte unternommen – die meisten davon im Bereich soziale Verantwortung (61 Prozent), gefolgt von Umweltschutzmaßnahmen (56 Prozent).

Zu den Treibern und Profiteuren der Transformation gehören im Wesentlichen große und international operierende Unternehmen. Dagegen tun sich die vielen kleinen und mittleren, oft familiengeführten Unternehmen, die die italienische Industrielandschaft prägen, oft schwer, mit den Veränderungen Schritt zu halten. Ihre Zukunft – und somit auch die der italienischen Wirtschaft insgesamt – hängt jedoch entscheidend davon ab, wie sie sich in den kommenden Jahren in diesem Feld positionieren. Momentan machen die piccole e medie imprese, die kleinen und mittleren Unternehmen (PMI/KMU), knapp 5 Prozent des italienischen Unternehmensgefüges aus; sie sind aber für etwa 40 Prozent des gesamten in Italien erwirtschafteten Umsatzes und fast die Hälfte des Exports verantwortlich und stellen ein Drittel aller Arbeitsplätze im privaten Sektor. Die PMI sind somit das Mark und der Motor der italienischen Wirtschaft und verdienen daher besondere Aufmerksamkeit und Förderung auf ihrem Weg durch die grüne Transformation.

Diese Notwendigkeit ist allen Stakeholdern bewusst, und daher formulieren Politik, Industrieverbände, Interessenvertretungen und Unternehmen selbst entsprechende Forderungen, Angebote, Initiativen und Maßnahmen. Der PNRR bietet hier viele Chancen: Im Rahmen von Mission 1 gibt es beispielsweise unter dem Schwerpunkt „Digitalisierung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit im Produktionssystem“ eine mit 2,5 Milliarden Euro ausgestattete Investition „Unterstützung des Produktionssystems für den grünen Übergang, Netto-Null-Technologien und die Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit strategischer Versorgungsketten“ oder die Investition „Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit von Produktionsketten“, ausgestattet mit einem Budget von 750 Millionen Euro, die den genannten strategisch relevanten Branchen zukommen sollen. Zur Mission 7 „RePowerEU“ gehört beispielsweise ein Programm zur „Unterstützung der Eigenerzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen in KMU“ mit einem Budget von 320 Millionen Euro.

Gelder, der politische Rahmen, das Einsehen in die Notwendigkeit und die Bereitschaft der Unternehmen zur Veränderung sind in Italien also grundsätzlich vorhanden – die Herausforderung ist und bleibt die Umsetzung in einem Land, das unter den Folgen eines jahrzehntelangen Reformstaus leidet sowie für seine komplizierte und schwerfällige Bürokratie, politische Wechselfälle, Interessenkonflikte und Korruption bekannt ist. Die ökologische Transformation bietet für Italien und seine Wirtschaft große Chancen für Erneuerung und Wachstum – doch ob und wie gut und sozial gerecht dieser Green Deal gelingt, hängt von vielen Faktoren ab, insbesondere von den Menschen, die ihn gestalten.

Gesellschaftliche Initiativen für Nachhaltige Entwicklung

Zu den charakteristischen Merkmalen der politischen Kultur Italiens gehören traditionell der Familismus und der campanilismo, das Kirchturmdenken, beides Sinnbilder für einen in der Gesellschaft verbreiteten Mangel an Gemeinsinn. Dem entspricht eine gewisse Zurückhaltung der Italiener in ihrem gesellschaftlichen Engagement. Das italienische Statistikamt Istat zählte 2021 rund 4,6 Millionen Freiwillige in etwa 360000 Non-Profit-Organisationen, davon rund 15 Prozent Aktive im Bereich Zivilschutz, 10 Prozent im Gesundheitswesen, aber nur etwa 2,5 Prozent im Bereich Umwelt- und Tierschutz.

Nichtdestotrotz ist das Problembewusstsein der Italiener für das Thema Nachhaltigkeit groß und unter dem Eindruck des in ihrem Land immer stärker spürbaren Klimawandels in den vergangenen Jahren gestiegen. Internationale Experten und Organisationen bezeichnen die Mittelmeerregion bereits als Hotspot des Klimawandels. Laut Berechnungen des Weltklimarats IPCC könnte Italien selbst in den optimistischsten Szenarien bis 2050 einen Temperaturanstieg von fast drei Grad Celsius erleben, mit verheerenden Auswirkungen auf die Landwirtschaft, das Gesundheitswesen, die Finanz- und Versicherungssysteme, die öffentlichen Ausgaben und die Steuereinnahmen. Extreme und lebensbedrohliche Wettereignisse wie schwere Überschwemmungen und Hitzewellen haben in Italien bereits zwischen 2017 und 2022 Schäden in Höhe von 42,8 Milliarden Euro verursacht. Das dem italienischen Umweltministerium angeschlossene Istituto Superiore per la Protezione e la Ricerca Ambientale weist darauf hin, dass fast 94 Prozent der italienischen Gemeinden von klimabedingten Gefahren wie Überschwemmungen, Erdrutschen und Küstenabbrüchen bedroht sind.

Laut einer Umfrage von 2023 erachten 74 Prozent der Italiener das Thema Klimawandel für wichtig. Sie rechnen es zu den ersten Aufgaben, derer sich die Politik in Italien vorrangig annehmen sollte. Eine breite Mehrheit von 85 Prozent befürwortet einen grundlegenden Wandel der Wirtschafts- und Lebensweise und den Umstieg auf erneuerbare Energien, Elektromobilität, den Ausbau von Solar- und Windenergie und die Schaffung von Energiegemeinschaften. Eine andere Umfrage aus dem selben Jahr bestätigt, dass das Thema Nachhaltigkeit bei den Italienern an Relevanz gewonnen und ihr Wissen zu den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) der Agenda 2030 zugenommen hat: 34 Prozent der Befragten gaben an, die SDGs gut zu kennen – 2014 waren es noch 11 Prozent.

Das ist wohl nicht zuletzt ein Resultat der konsequenten und umfassenden Informations- und Aufklärungsarbeit der Alleanza Italiana per lo Sviluppo Sostenibile (ASviS, Italienische Allianz für nachhaltige Entwicklung). ASviS wurde 2016 auf Initiative der Unipolis-Stiftung und der Universität Rom Tor Vergata als unabhängiger und gemeinnütziger Verein mit dem Ziel gegründet, die Umsetzung der Agenda 2030 zu fördern. Heute ist die Allianz das größte Non-Profit-Netzwerk für nachhaltige Entwicklung Italiens. Im Sinne ihrer Zielsetzung unternimmt sie in Zusammenarbeit mit Partnern Bildungs-, Ausbildungs-, Informations- und Kommunikationsmaßnahmen, erstellt und fördert wissenschaftliche Forschungen, pflegt institutionelle Beziehungen und organisiert Veranstaltungen. Insbesondere ist das jährliche „Festival dello Sviluppo Sostenibile“ zu nennen, das entsprechend der 17 SDGs an 17 aufeinanderfolgenden Tagen in ganz Italien und unter aktiver Mitwirkung und Beteiligung aller interessierten Bürger, Unternehmen und Einrichtungen stattfindet.

Seit 2016 veröffentlicht ASviS einen jährlichen Zustandsbericht zum Stand der Umsetzung der Agenda 2030 und leitet daraus Handlungsempfehlungen und Strategien ab. Auf seine Initiative hin ist es beispielsweise im Februar 2022 gelungen, den Schutz der Umwelt, der Ökosysteme und der Biodiversität in der italienischen Verfassung zu verankern. Die seit Jahren vorgebrachte Forderung von ASviS nach einem Klimagesetz ist indes bislang unerfüllt geblieben. Seit April 2024 liegt immerhin ein entsprechender Gesetzentwurf vor. Mit einer erfolgreichen Ausgestaltung und Verabschiedung wäre ein weiterer Meilenstein erreicht.

Als Dachverband genießt ASviS eine besondere Sichtbarkeit, aber darin und daneben existiert eine Vielzahl von Organisationen, Vereinen, Verbänden, Unternehmen und Einzelpersonen, die sich für Umwelt- und Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Wohlstand, Frieden und alle anderen Themen der Agenda 2030 engagieren. Zu den ältesten und traditionsreichsten gehört WWF Italia, gegründet 1966. Zwei Jahre später kam auf Initiative des italienischen Industriellen Aurelio Peccei der Club of Rome zusammen. Aus der Antiatomkraftbewegung heraus entstand 1980 Legambiente, heute mit über 115000 Mitgliedern und 1000 lokalen Gruppen die größte italienische Umweltorganisation. Die Gründung von Greenpeace Italien folgte 1986. Schließlich wäre noch die 2008 gegründete Fondazione per lo Sviluppo Sostenibile zu erwähnen, die unter anderem mit der jährlich stattfindenden Veranstaltung „Stati Generali della Green Economy“ darum bemüht ist, eine Brücke zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik zu bauen.

Das Thema Nachhaltigkeit hat zudem Eingang in die Schulen gefunden, auch wenn Experten in punkto fachlicher Qualifikation und Gestaltung der Lehrpläne noch Nachholbedarf sehen. Universitäten und andere öffentliche und private Bildungseinrichtungen bieten vielfältige Lehrgänge an. In diesem Zusammenhang ist das von der Konferenz der italienischen Universitätsrektoren im Juli 2016 ins Leben gerufene Netzwerk der Universitäten für nachhaltige Entwicklung zu nennen (Rete delle Università per lo Sviluppo sostenibile). Mit dieser Koordinierungsinitiative haben sich inzwischen 86 italienische Hochschulen dazu verpflichtet, ihre institutionellen Aktivitäten auf integrierte Nachhaltigkeitsziele auszurichten. Hier spiegelt sich nicht nur das wachsende Interesse der Wissenschaft und Forschung sowie der Studierenden wider, sondern auch der steigende Bedarf an Experten und Fachkräften in einem wachsenden Zukunftsmarkt. All dies zeigt: An mangelnden Ideen und Initiativen oder fehlendem Engagement wird Italiens Green Deal nicht scheitern.

Fazit

Lange wurde das Thema nachhaltige Entwicklung in Italien nur von einer kleinen Minderheit beachtet und bearbeitet. Insbesondere in der italienischen Politik gab es kaum Aufmerksamkeit und wenige Fürsprecher für damit verbundene Fragen. In Italiens bunter Parteienlandschaft gibt es zwar schon seit Mitte der 1980er Jahre grüne Parteien, aber es fehlte ihnen an innerer Einheit und Geschlossenheit, und so gelang es nicht, ihre Anliegen im öffentlichen Diskurs und auf der politischen Agenda zu etablieren. Freilich hat Italien in der Vergangenheit immer wieder punktuelle Maßnahmen ergriffen und auch radikale Entscheidungen getroffen, wie den Ausstieg aus der Atomenergie unmittelbar nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986. Auf internationaler Ebene hat das Land die einschlägigen Abkommen wie das Pariser Klimaabkommen und die Agenda 2030 unterzeichnet – aber erst die Corona-Pandemie und ihre dramatischen Auswirkungen und Folgen haben zu einem forcierten und umfassenden Engagement geführt.

Aus der Krise heraus sind mit dem PNRR wirtschaftlich und finanziell so große, gleichsam zwingende Chancen für Italien entstanden, dass viel in Bewegung geraten ist. Italiens sozial-ökologische Transformation ist in vollem Gange. Wie jeder hochkomplexe Prozess bringt das unzählige Probleme und Schwierigkeiten mit sich, und für eine abschließende Bewertung der PNRR-Umsetzung ist es ohnehin noch zu früh. Der aktuellen Regierung Meloni ist zugute zu halten, dass sie während ihrer rund zweijährigen Amtszeit von ihren Vorgängern in dieser Richtung unternommene und angestoßene Initiativen und Projekte fortsetzt und wichtige programmatische Maßnahmen für die Zukunft des Landes verabschiedet hat, insbesondere die 2017 aufgesetzte, 2022 überarbeitete und 2023 finalisierte „Nationale Strategie für nachhaltige Entwicklung“ sowie den „Nationalen integrierten Energie-Klima-Plan“, den „Nationalen Plan zur Anpassung an den Klimawandel“, die „Nationale Strategie für die Kreislaufwirtschaft“ und die „Nationale Biodiversitätsstrategie“.

Nach Meinung kritischer Beobachter mangelt es diesen Vorhaben und Programmen allerdings an Substanz: Entsprechende und notwendige Ressourcen würden nicht bereitgestellt, stattdessen widersprüchliche Initiativen und Maßnahmen gefördert, die den Zielen der Programme entgegenstehen. Dabei sei keine Zeit mehr für zögerliche Kompromisse, es bedürfe eines entschiedenen Vorgehens, struktureller Reformen und massiver Investitionen, um die Klimaziele zu erreichen. Dem Einwand, dass das nicht finanzierbar sei, halten die Autoren einer ASviS-Studie Berechnungen entgegen, welche Kosten auf die italienische Gesellschaft zukämen, wenn sie sich der Transformation verweigere oder sie verzögere: Im worst case, wenn keinerlei Maßnahmen ergriffen werden, würde das Bruttoinlandsprodukt gegenüber der Basisprognose um mindestens 30 Prozent sinken. Im umgekehrten Fall, also bei beherzten Investitionen in die grüne Transformation, dürfte das BIP indes um bis zu 2,2 Prozent steigen.

Papier ist bekanntlich geduldig, Pläne und Absichtserklärungen lassen sich leichter formulieren als Maßnahmen und Reformen konkretisieren, aber hier ist ein unumkehrbarer Prozess im Gange, in dem Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenwirken. Das Potenzial zu einer umfassenden und nachhaltigen Erneuerung des Landes ist vorhanden – unterstützt und befördert durch die umfangreichen Hilfen im Rahmen des europäischen Wiederaufbaufonds. Ob Italiens Green Deal aufgeht, wird die Zukunft zeigen.

ist promovierte Historikerin und leitet das von ihr gegründete Fachbüro für deutsch-italienischen Dialog. Sie ist zudem Gründerin von "platea2030", einer unabhängigen Initiative zur Förderung der deutsch-italienischen Kooperation in Nachhaltigkeitsfragen. Externer Link: http://www.platea2030.org