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Autoritär reformiert? | Italien | bpb.de

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Autoritär reformiert? Zum geplanten Umbau des Staates in Italien

Franceso Palermo

/ 15 Minuten zu lesen

Die rechte Regierungsmehrheit unter Premierministerin Giorgia Meloni hat drei Reformen eingeleitet, die den italienischen Staat tiefgreifend verändern würden. Was ist vorgesehen, wie weit sind die Pläne fortgeschritten, und in welche Richtung entwickelt sich Italien dadurch?

Seit ihrem Amtsantritt im September 2022 versucht die Ministerpräsidentin und Parteichefin der Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni, Italien mit drei großen Reformen aus den Angeln zu heben: zum einen mit dem sogenannten premierato, der Direktwahl des Premierministers oder der Premierministerin beziehungsweise, um Melonis Worte zu verwenden, mit der „Mutter aller Reformen“; zum zweiten mit der sogenannten differenzierten Autonomie der Regionen, einem Urthema des Regierungspartners Lega; und schließlich mit der vom dritten Koalitionspartner Forza Italia anvisierten Justizreform.

Es handelt sich dabei um drei sachlich klar voneinander abgegrenzte Vorhaben, die politisch aber eines gemeinsam haben: Alle drei Reformen zielen darauf, die Macht in den Händen der parlamentarischen Mehrheit beziehungsweise der Regierung zu konzentrieren und die Möglichkeiten ihrer Kontrolle einzuschränken, wodurch das bisherige relative Gleichgewicht gestört und eine politische Unwucht entstehen würde.

Dank der Einigkeit zwischen den drei Parteien der rechtsorientierten Regierungskoalition und ihrer soliden parlamentarischen Mehrheit, auf die sie sich stützen kann, schreitet der Reformprozess rasch voran. Tatsächlich handelt es sich mit 238 von 400 Sitzen in der Abgeordnetenkammer beziehungsweise 111 von 205 Sitzen im Senat um eine der solidesten und größten Mehrheiten in der Geschichte der Republik, auch wenn sie bei der Parlamentswahl 2022 mit „lediglich“ 43 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht wurde. Dies war möglich, weil die Zahl der Nichtwähler:innen zugenommen hat – die Wahlbeteiligung lag bei 63,9 Prozent – und weil die Rechtskoalition in allen Wahlkreisen mit Direktmandaten geschlossen aufgetreten ist und diese Mandate daher fast überall für sich sichern konnte. Obwohl die Mehrheit, nämlich 57 Prozent der Wähler:innen, für Parteien gestimmt hat, die nicht Teil der Regierungskoalition sind, kann sich diese auf eine stabile Mehrheit stützen, die es ihr ermöglicht, ihre Reformvorhaben zügig voranzutreiben.

Noch offene Justizreform

Die Justizreform ist das am wenigsten fortgeschrittene der drei Vorhaben. Ihre Inhalte werden sich im Zuge der parlamentarischen Überprüfung wahrscheinlich noch ändern, denn die Regierung hat angekündigt, den Dialog mit allen Betroffenen, insbesondere mit der Richter:innenschaft und den Rechtsanwält:innen suchen zu wollen. „Das Gerichtswesen“ (la magistratura) ist in Italien ein etablierter Rechtsbegriff, der Richter:innen und Staatsanwält:innen gleichermaßen einschließt. Derzeit werden beide einheitlich und durch Wettbewerb rekrutiert (Artikel 106 Absatz 1 der italienischen Verfassung), sie „unterscheiden sich nur durch die Verschiedenheit der Befugnisse“ (Art. 107 Abs. 3 Verf.) und „bilden einen selbstständigen und von jeder anderen Gewalt unabhängigen Stand“ (Art. 104 Abs. 1 Verf.), dessen Organisation dem Obersten Gerichtsrat zusteht, der über „die Einstellungen, die Zuteilungen, die Versetzungen, die Beförderungen und Disziplinarmaßnahmen“ bestimmt (Art. 105 Verf.). Die geplante Reform soll die Einheitlichkeit des Gerichtswesens abbauen und die Berufskarrieren zwischen Richter:innen und Staatsanwält:innen trennen.

Am 29. Mai 2024 hat die Regierung den Entwurf eines Verfassungsgesetzes gebilligt, das im Herbst seinen Weg durchs Parlament antreten wird. Ziel ist es, einerseits eine Vereinbarung über die Reform zu erreichen und andererseits zu verhindern, dass die Verfassungsänderung einem Referendum unterzogen wird, bei dem sie abgelehnt werden könnte. Eine derartige Volksabstimmung wird notwendig, wenn ein Verfassungsgesetz keine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments erreicht, sondern nur eine absolute Mehrheit. Derzeit scheint die Mehrheit für diese Reform sogar größer zu sein als diejenige, die die Regierung unterstützt, da sie auch die Parlamentarier:innen der politischen Mitte (der Parteien Azione und Italia Viva) umfasst. Selbst diese Stimmen reichen jedoch noch nicht aus, um zwei Drittel zu erreichen. Eine Volksabstimmung am Ende des parlamentarischen Weges ist daher wahrscheinlich.

Kern der Reform ist die Änderung der Artikel 104 bis 110 der Verfassung über die Gerichtsbarkeit, um die Laufbahn von Richter:innen und Staatsanwält:innen voneinander zu trennen. Derzeit wird in Italien zwischen Richter:innen und Staatsanwält:innen nur nach ihrer Funktion unterschieden, und es ist möglich, die Rolle gar mehrmals im Laufe des Berufslebens zu wechseln. Die Trennung der Laufbahnen würde auch eine Teilung des Selbstverwaltungsorgans der Justiz nach sich ziehen: Aus dem derzeitigen Obersten Gerichtsrat würden zwei Organe werden, eines für die Staatsanwält:innen und eines für die Richter:innen. Den Vorsitz in beiden Gremien würde nach wie vor der oder die Präsident:in der Republik innehaben.

Die Disziplinarfunktion, das heißt die Verhängung von Sanktionen gegen Richter:innen und Staatsanwält:innen, die derzeit dem Obersten Gerichtsrat obliegt, soll einem eigenen „Hohen Gericht“ übertragen werden, das sich aus 15 Richter:innen zusammensetzt: drei von dem oder der Präsident:in der Republik ernannte Richter:innen, weitere drei, die aus einer vom Parlament erstellten Liste ausgelost werden und sich aus Universitätsprofessor:innen der Rechtswissenschaften und Rechtsanwält:innen mit mindestens 20 Jahren Berufserfahrung zusammensetzen, sowie sechs Richter:innen beziehungsweise drei Staatsanwält:innen, die unter allen Richter:innen und Staatsanwält:innen ausgelost werden.

Vonseiten der Richter:innen und Staatsanwält:innen hört man zum Vorschlag strikt ablehnende Worte. Nach Ansicht ihres Verbandes ANM würde durch die Änderung die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt, die politische Kontrolle über die richterliche Tätigkeit verstärkt und die Funktion der Justiz geschwächt. Der Vorschlag einer klaren Trennung von Richter:innen und Staatsanwält:innen ist eine alte Idee des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, um Letztere einer stärkeren politischen Kontrolle zu unterwerfen – ein Vorschlag, der stets mit den Gerichtsprozessen um Berlusconi in Verbindung gebracht wurde und der nun, mehr als ein Jahr nach seinem Tod, vollendet werden könnte.

„Differenzierte Autonomie“: Viel Lärm um nichts?

Das Gesetz zur sogenannten differenzierten Autonomie wurde im Juni 2024 verabschiedet (Gesetz 86/2024) und ist die einzige der drei genannten Reformen, die bereits in Kraft ist. Anders als die anderen beiden Reformvorhaben, die die Verfassung ändern sollen, handelt es sich hierbei um ein ordentliches Gesetz, das eine Verfassungsbestimmung umsetzt.

Italiens Regionen lassen sich in zwei Arten unterteilen: 15 sogenannte ordentliche Regionen, die über dieselben legislativen Befugnisse, jedoch über sehr unterschiedliche Verwaltungs- und Finanzkapazitäten verfügen, und fünf sogenannte Sonderregionen mit umfangreicheren Kompetenzen und besonderen Finanzregelungen. Art. 116 Abs. 3 der Verfassung sieht die Möglichkeit vor, ordentlichen Regionen eine Reihe wichtiger Kompetenzen zu übertragen, darunter den Schutz der Umwelt, des Ökosystems und des kulturellen Erbes, den Außenhandel, den Schutz und die Sicherheit der Arbeit, das Bildungswesen, das Berufswesen, die wissenschaftliche und technologische Forschung, den Katastrophenschutz, die Raumordnung, die Häfen und Zivilflughäfen und weitere. Das Gesetz 86/2024 legt fest, in welchen Schritten die Übertragung aller oder einzelner Kompetenzen auf die Regionen, die dies wünschen, auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen der jeweiligen Region und der nationalen Regierung erfolgt.

Dieser Weg gestaltet sich jedoch als sehr komplex und zeitaufwendig. Zunächst müssen die „wesentlichen Leistungen im Rahmen der bürgerlichen und sozialen Grundrechte, die im ganzen Staatsgebiet zu garantieren sind“ festgesetzt werden, eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Staates (Art. 117 Abs. 2 Buchstabe m Verf.). Diese staatliche Zuständigkeit hat eine ähnliche Funktion wie in Deutschland die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse“ (Art. 72 Abs. 2 GG). Während es sich in Deutschland jedoch um eine Klausel für die Ausübung der Gesetzgebungsfunktion des Bundes in Angelegenheiten der konkurrierenden Gesetzgebung handelt, muss in Italien die Festlegung dieser Kriterien im Voraus erfolgen, das heißt, ehe Befugnisse auf die Regionen übertragen werden können. Diese Aufgabe bedeutet konkret, dass zum Beispiel festgelegt werden muss, wie viele Schüler:innen pro Lehrkraft in den Schulen unterrichtet werden dürfen, wie viele Intensivbetten auf tausend Einwohner:innen kommen sollen, wie hoch die Emissionsgrenzwerte sein dürfen und so weiter.

Gemäß Gesetz 86/2024 über die differenzierte Autonomie und dem Haushaltsgesetz für 2024 hat der Staat beziehungsweise eine speziell eingerichtete Kommission zwei Jahre lang Zeit für die Festlegung dieser Werte. Nach der Festlegung muss überprüft werden, ob diese Standards in allen Regionen eingehalten werden. Erst dann können die Kompetenzen an jene Regionen übertragen werden, die sie beantragt haben. Diese Komplexität verhindert die Übertragung eines großen Teils der Kompetenzen an die Regionen, und zwar in 15 von 23 potenziell übertragbaren Bereichen.

Außerdem enthält das Gesetz zahlreiche Klauseln, die eine Kontrolle durch die Zentralregierung ermöglichen. So kann der oder die Premierminister:in nach eigenem Ermessen bestimmte Punkte aus den bereits mit den Regionen ausgehandelten Vereinbarungen streichen (Art. 2 Abs. 5 des Gesetzes 86/2024). Falls die Übertragung von Kompetenzen höhere Kosten mit sich bringt (was laut Gesetz jedoch nicht der Fall sein darf), darf dies nur nach Zuweisung von Mitteln und in jedem Fall im Einklang mit den Zielen der öffentlichen Finanzen und dem Haushaltsgleichgewicht erfolgen (Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1). Die Vereinbarungen haben eine verlängerbare Laufzeit von höchstens zehn Jahren, und der Staat kann sie aus „berechtigten Gründen zum Schutz des Zusammenhalts und der sozialen Solidarität“ per Gesetz kündigen, wenn die genannten wesentlichen Leistungen nicht eingehalten werden (Art. 7 Abs. 2). Im Endeffekt ist das Gesetz praktisch nicht umsetzbar und wird ohnehin nur langfristig und in geringem Umfang durchgesetzt werden. Die differenzierte Autonomie ist vor allem eine „Flaggschiff“-Maßnahme der Lega, die von den Verbündeten in der Regierung nur leidenschaftslos mitgetragen wird.

Gegner:innen der Reform haben schon frühzeitig eine Unterschriftensammlung für ein abschaffendes Referendum gegen das Gesetz eingeleitet. Wenn das Verfassungsgericht das Referendum zur Abschaffung des Gesetzes zulässt – was aufgrund seiner bisherigen Rechtsprechung keineswegs sicher ist –, wird die Volksabstimmung 2025 stattfinden. Für die Gültigkeit des Referendums ist eine Beteiligung von mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten erforderlich – eine Bedingung, an der in jüngerer Zeit fast alle Referenden zur Abschaffung von Gesetzen gescheitert sind. In diesem Fall ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass das Quorum erreicht wird, da es in weiten Teilen des Landes starken Widerstand gegen dieses Gesetz gibt: im gesamten Süden, der durch die differenzierte Autonomie eine Benachteiligung der finanzschwächeren Gebiete befürchtet, sowie in weiten Teilen der Zivilgesellschaft und der Kultur.

Es ist daher wahrscheinlich, dass das Gesetz durch ein Referendum aufgehoben wird, was sich wie ein politischer Bumerang für die Lega von Matteo Salvini auswirken würde. Vor allem aber würde jede Diskussion über die Stärkung der Regionen für lange Zeit verstummen, was ein ernstes Problem wäre, zumal die Territorialfrage in Italien kaum gelöst ist, eher im Gegenteil.

Kommt das Referendum hingegen nicht zustande oder wird das Gesetz nicht aufgehoben, bleibt abzuwarten, wie anwendbar das Gesetz tatsächlich ist. Der Anwendungsspielraum wird aufgrund der vielen Unklarheiten, vor allem auf organisatorischer und finanzieller Ebene, wahrscheinlich sehr gering sein. In diesem Fall könnte das „gebrochene Versprechen“ einen Konflikt zwischen jenen Regionen, die an der Übernahme neuer Kompetenzen interessiert sind – das sind insbesondere die zwei wirtschafts- und finanzstarken nördlichen Regionen Venetien und die Lombardei – und der Zentralregierung auslösen. Dies geschah zum Teil bereits in den 1990er Jahren, als genau der Wunsch, diesen Regionen entgegenzukommen, zur Verfassungsänderung 2001 führte, die unter anderem die Bestimmung über die differenzierte Autonomie einführte. Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, die Aussichten für die Entwicklung der regionalen Autonomie sind nicht rosig.

„Mutter aller Reformen“: Direktwahl des Premiers

Bleibt der premierato, Melonis eigene Verfassungsreform, die die Direktwahl des Premierministers oder der Premierministerin in der Verfassung verankern und damit die parlamentarische Demokratie auf den Kopf stellen würde. Der Terminus ist eine journalistische und kommunikationspolitische Erfindung, die an den britischen Premier und seine traditionelle Stabilität im Gegensatz zur verfassungsrechtlich schwachen Stellung des italienischen Ministerpräsidenten erinnern soll.

Verfassungsgesetze müssen in Italien zweimal von jeder Kammer des Parlaments verabschiedet werden. Die Reform wurde Mitte Juni 2024 vom Senat in erster Lesung bereits gutgeheißen, und im Herbst kommt die Abgeordnetenkammer zum Zuge. Am Ende ist auch im Falle des premierato eine Volksabstimmung zu erwarten, und zwar nicht nur, weil die Regierungskoalition im Parlament nicht über eine Zweidrittelmehrheit verfügt (obwohl sie in beiden Kammern auf eine satte Mehrheit von etwa 58 Prozent zählen kann), sondern auch aus politischem Kalkül. Anders als bei den zwei anderen Reformen, die italienweit unbeliebt sind und für die sich die rechte Mehrheit eine Volksabstimmung lieber ersparen möchte, will sich Meloni „ihre“ Reform vom Volk bestätigen und damit politisch legitimieren lassen – ist sie doch der Überzeugung, dass die Italiener:innen ihr Projekt mittragen.

Das entsprechende Verfassungsreferendum, zu dem es zwischen Ende 2025 und Frühjahr 2026 kommen dürfte, ist für Meloni jedoch alles andere als risikofrei. Schon vor ihr haben Regierungschefs ihr politisches Schicksal an Verfassungsreferenden geknüpft, und Matteo Renzi sah sich gewissermaßen dazu gedrängt, 2016 seinen Hut zu nehmen, nachdem „seine“ Verfassungsreform abgelehnt wurde.

Allerdings hat Melonis Reform viel bessere Chancen, denn sie geht ein populäres Thema an, nämlich die (In)stabilität der Regierung. Das Versprechen, eine starke Figur an die Spitze zu stellen, die praktisch allmächtig und alleinverantwortlich sein wird, entspricht dem populistischen Zeitgeist. Vereinfachung der Entscheidungsprozesse und starke Persönlichkeiten sind im Moment attraktiver als Gegengewichte und Respekt der Vielfalt. Das Verkaufsargument schlechthin für die Reform ist die Herstellung der Regierungsstabilität. Italiens Regierungen gelten als notorisch instabil, in der Geschichte der Republik, also seit 1948, gab es nicht weniger als 68 Regierungen, mit 30 unterschiedlichen Ministerpräsidenten und einer Ministerpräsidentin. Dabei war das politische System vor allem bis zum Korruptionsskandal Anfang der 1990er Jahre und der darauffolgenden Krise der politischen Parteien eigentlich stabil, und die Regierungskrisen bedeuteten lediglich leichte Anpassungen der Machtverhältnisse innerhalb der Parteien, wovon die Koalitionen an und für sich nicht beeinflusst wurden.

Die Verfassungsreform sieht die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin vor, ähnlich der Wahl der Bürgermeister:innen und der Regionalpräsident:innen, die deswegen in vielen Medien in Anlehnung an die USA auch Gouverneur:in genannt werden. Die Direktwahl des Regierungschefs oder der Regierungschefin auf nationaler Ebene wäre ein Novum, das in keinem anderen demokratischen Land zur Anwendung kommt, was bereits gegen die Zuverlässigkeit dieses eigenartigen Modells spricht. Das Problem liegt allerdings vor allem in folgendem Punkt: Damit der oder die direkt gewählte Regierungschef:in auch regieren kann, soll es einen Mehrheitsbonus geben, der die Stellung der Wahlsieger:innen zusätzlich stärken und ihnen „eine Mehrheit der Sitze in jeder Kammer“ garantieren würde (neuer Art. 92 Abs. 3 Verf.). Gleichwohl soll das „unter Berücksichtigung des Repräsentativitätsgrundsatzes sowie des Schutzes der sprachlichen Minderheiten“ geschehen.

Wie das überhaupt gehen soll – eine Mehrheitsprämie widerspricht naturgemäß der Repräsentativität – und wie genau dieser Bonus aussehen soll, ist noch offen: Soll die stärkste Partei oder das meistgewählte Bündnis in den Genuss des Bonus kommen? Muss eine Mindestgrenze an Stimmen erreicht werden oder nicht? Gibt es eine Stichwahl zwischen den beiden meistgewählten Kandidat:innen? Wie kann die absolute Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments garantiert werden, wenn die Wahl unterschiedlich ausgeht und zum Beispiel eine Kandidatin die Mehrheit in einer Kammer hat und ein anderer in der zweiten? Diese Details sollen in einem neuen Wahlgesetz geregelt werden, das irgendwann auf der parlamentarischen Agenda auftauchen dürfte. In einem ersten Entwurf der Regierung war von automatischen 55 Prozent die Rede, aus dem eingebrachten Text zur Verfassungsreform verschwand diese Prozentangabe schließlich.

Die Direktwahl des Premierministers oder der Premierministerin und der damit verbundene Mehrheitsbonus ist der Dreh- und Angelpunkt der geplanten Verfassungsänderung, sämtliche weitere Änderungen dienen lediglich als „Beilage“. Die Reform sieht weiter vor, dass der oder die Ministerpräsident:in Mitglied in einer der beiden Parlamentskammern sein muss, damit sogenannte Expertenregierungen unmöglich werden: Seit 1994 gab es nämlich vier Ministerpräsidenten (Carlo Azeglio Ciampi, Lamberto Dini, Mario Monti, Mario Draghi), die weder einer politischen Partei angehörten noch Mitglieder des Parlaments waren, sondern die aufgrund ihrer Überparteilichkeit in besonders schwierigen politischen Phasen vom Staatspräsidenten für das Amt ernannt wurden. Auch der Vollblutpolitiker Matteo Renzi war kein Mitglied des Parlaments, als er 2014 zum Premierminister ernannt wurde, sondern Parteisekretär des Partito Democratico und Bürgermeister von Florenz.

Die Direktwahl hat zur Folge, dass im Falle einer Abwahl des Premierministers oder der Premierministerin per Misstrauensvotum durch das Parlament die Kammern automatisch aufgelöst werden, wobei dem Staatspräsidenten oder der Staatspräsidentin kein Spielraum bleibt, um andere Lösungen zu finden. Tritt hingegen der oder die Ministerpräsident:in selbst zurück, kann er oder sie den Präsidenten oder die Präsidentin um die Auflösung der Kammern ersuchen, was diese:r verpflichtend umsetzen muss. Alternativ kann von der Auflösung des Parlaments abgesehen werden, wodurch der oder die Staatspräsident:in die Gelegenheit erhält, einen neuen Ministerpräsidenten oder eine neue Ministerpräsidentin zu ernennen. Diese Person muss jedoch derselben politischen Mehrheit angehören, die durch den Mehrheitsbonus zur Unterstützung des gewählten Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin gebildet wurde. Diese zweite Ernennung kann nur einmal im Laufe einer Legislaturperiode erfolgen.

Der Text des Reformvorhabens regelt allerdings nicht, wie vorgegangen werden soll, wenn die von der Regierung gestellte Vertrauensfrage abgelehnt wird. Dieser Punkt ist jedoch zentral, wenn man bedenkt, dass die meisten vom Parlament verabschiedeten Gesetze der Vertrauensfrage unterworfen werden. Das Schweigen zu diesem Punkt deutet wohl darauf hin, dass die Regierung in diesem Fall nicht automatisch stürzen würde.

Eine weitere Änderung betrifft ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, nämlich die fünf Senator:innen auf Lebenszeit, die nicht selten den Ausschlag für die Unterstützung von Mitte-links-Regierungen gegeben haben und mit der neuen Reform abgeschafft werden sollen.

Wenn das erklärte Ziel des Gesetzes darin besteht, „eine Lösung für die seit Langem bestehenden und offenkundigen Probleme der italienischen Regierungsform zu bieten, nämlich die Instabilität der Regierungen, die Heterogenität und Unbeständigkeit der Mehrheiten“ sowie den zu häufigen Wechsel der Abgeordneten und Senator:innen von einer Fraktion zur anderen, wie es im Begleitbericht zum Text heißt, dann stellt sich die Frage, ob die Instrumente, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll, verhältnismäßig sind. Die Antwort lautet nein, denn es gibt Instrumente, die weniger tief in die parlamentarische Regierungsform eingreifen, etwa das konstruktive Misstrauensvotum oder die Befugnis des Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin, das Parlament aufzulösen.

Die mit einem starken Mehrheitsbonus verbundene Direktwahl ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Erstens, weil sie die demokratische Repräsentativität einschränkt und sie unverhältnismäßig verändert. Zweitens, weil sie das Kardinalprinzip des Parlamentarismus untergräbt: Nicht mehr das Parlament wählt die Regierung, sondern der oder die direkt gewählte Premierminister:in bestimmt die Zusammensetzung des Parlaments. Schließlich, und das ist der schwerwiegendste Aspekt, wird das auf diesem Wege gebildete Parlament die Befugnis haben, die Zusammensetzung aller Garantieorgane zu bestimmen und die Verfassung selbst zu ändern. In Italien werden nämlich zentrale Posten beim Verfassungsgericht, im Obersten Gerichtsrat und in unabhängigen Behörden mit einer Schwelle von maximal drei Fünfteln der Stimmen im Parlament bestellt. Mit dem Bonus kratzt die Mehrheit an dieser Schwelle und kann so die Kontrolle über den Staatsapparat an sich reißen. Der oder die Staatspräsident:in kann sogar mit der absoluten Mehrheit gewählt werden, und auch die Verfassung kann mit absoluter Mehrheit geändert werden, obwohl in diesem Fall ein bestätigendes Referendum möglich ist.

Die Reform geht damit weit über das erklärte Ziel hinaus, die Stabilität der Exekutive zu gewährleisten, und dringt stattdessen in den Bereich der Verfassungsgarantien ein. Zumindest sollte auch für diese Ernennungen und für die Verfassungsrevision eine Stärkung der notwendigen Mehrheiten eingeführt werden, zum Beispiel auf zwei Drittel, sodass eine Einigung zwischen Mehrheit und Opposition auch bei den durch die Mehrheitsprämie eingeführten Repräsentativitätsverzerrungen unabdingbar wird. Eine Änderung in diese Richtung ist jedoch nicht vorgesehen, sodass es den Anschein hat, dass das Hauptziel die Kontrolle der Regierung und des Premierministers über die Garantieinstitutionen ist.

Schlussfolgerungen

Die drei Reformen ergeben ein unorganisiertes und sehr kontingentes Bild, das mehr auf der Befriedigung der Prioritäten der drei Regierungsparteien zum Erhalt der Koalition als auf einer Vision des Ganzen beruht. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Befürchtungen einer neofaschistischen Tendenz wahrscheinlich übertrieben. Vielmehr handelt es sich um Reformprojekte mit populistischen Zügen, die darauf angelegt sind, mehr Macht in der nationalen Regierung zu zentralisieren, in dem aufrichtigen Glauben, dass die Wähler:innen einen einzigen Entscheidungsträger wollen, dem oder der sie für eine gewisse Zeit fast ausschließlich die Geschicke des Landes anvertrauen können und den oder die sie bei der nächsten Wahl durch einen anderen allmächtigen Premierminister ersetzen können. Der einzige gemeinsame Faktor der drei Reformen ist die Reduzierung des Pluralismus und der Gegengewichte, wobei sich der Schwerpunkt auf die Regierung und den oder die Regierungschef:in verlagert, der oder die nicht nur als politische Führungsperson, sondern auch als Gegengewicht zur Autonomie der Regionen und der Justiz fungieren kann.

Der heikelste Aspekt ist die den Reformen zugrundeliegende Vision von Politik als Kampf, bei dem der Wahlsieger mit wenigen Hindernissen und Kontrollen regiert. Die Konsequenz ist, dass als Wahlsieger hervorgeht, wer Politik auf extrem vereinfachte Slogans zurückführt und die Wähler:innenschaft in verfeindete Lager verwandelt, die im Vergleich zur Mehrheit, die nicht mehr zur Wahl geht, immer kleiner werden. Politik als Kunst des Kompromisses wirkt damit überholt. Das Bild der Politik und der Gesellschaft hinter den Reformen ist somit besorgniserregender als ihr konkreter Inhalt, und traurigerweise ist Italien in diesem Zusammenhang kein Einzelfall, sondern setzt eine Tendenz fort, die in vielen anderen, auch westlichen Demokratien immer dominanter wird, und verfeinert sie. Es ist diese weit verbreitete Art der normativen Umsetzung des Zeitgeistes, die wirklich problematisch ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu den Etappen der vergangenen Justizreformen vgl. Francesco Palermo, Italiens Justiz im Wandel – Wohin führt Melonis Weg?, in: Deutsche Richterzeitung 12/2022, S. 476f.

  2. Für eine besonders kritische Sicht vgl. etwa Gianfranco Viesti, Contro la secessione dei ricchi, Roma–Bari 2024; Francesco Pallante, Spezzare l’Italia, Turin 2024.

  3. Vgl. APuZ 27/2024 (Demokratie in Gefahr?), insb. den Beitrag von Veith Selk, Demokratische Malaise, S. 12–17.

  4. Für weitere Informationen zum Inhalt der Reform vgl. Alessandro Sterpa, Premierato all’italiana. Ragioni e limiti di una riforma costituzionale, Turin 2024.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Franceso Palermo für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für vergleichendes Verfassungsrecht an der Universität Verona und Leiter des Instituts für vergleichende Föderalismusforschung von Eurac Research in Bozen, Italien.