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Wo ist die Politik in der Literatur? | Italien | bpb.de

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Wo ist die Politik in der Literatur? Essay

Giulia Caminito

/ 16 Minuten zu lesen

Die Romanautorin Giulia Caminito reflektiert über ihre Jugend in Italien, die Entfremdung ihrer Generation von der Politik und ihre literarische Entwicklung. Den Intellektuellen ihres Landes wirft sie vor, sich verschanzt zu haben. Es fehle an politischem Denken.

(Italienische Originalfassung: Interner Link: Dov'è la politica in letteratura?)

Ich war fünfzehn und mein Freund zeichnete Keltenkreuze in mein Tagebuch, er fand das zum Lachen. Mich nervte das, ich strich sie durch, aber wenn er das Tagebuch wieder in die Hand nahm, um das Wort DUX (Führer) hineinzuschreiben, ließ ich ihn gewähren. Er schrieb, ich strich durch. Er spielte mit den Symbolen einer Diktatur, ich fand sie schrecklich und vulgär, aber hinderte ihn nicht an seinem Gekritzel. Gleich darauf gingen wir ins Kino oder zu ihm nach Hause, um mit meinem MP3-Player Musik zu hören, vor allem Lucio Battisti. Ich war an seine Taten und Worte gewöhnt, ich maß ihnen kein Gewicht mehr zu. Die Lust, mit ihm zusammen zu sein, war stärker als die, mich aufzuregen und Stellung zu beziehen.

So habe ich einen Großteil meiner Jugend verbracht: Ich wusste, was aus meiner Sicht richtig war und was falsch, aber ich konnte es nicht aussprechen. Frustriert ertrug ich die neofaschistischen Sprüche meiner Freunde, die Slogans, die ich auf den Wänden sah und jeden Morgen in der Schule las. Il Duce è la luce, stand da, der Duce ist das Licht, und ich starrte ratlos drauf.

In diesen Jahren gab es in meinem Umfeld außer meinen Eltern niemanden, der über Politik redete. Jeder von uns war mit sich selbst beschäftigt, gehemmt vom Desinteresse der anderen an bestimmten Themen, voller Angst davor, aus der Reihe zu tanzen, lästig zu ein. Die Welt bestand aus nachmittäglichen Ausflügen auf dem Moped, Mathe-Hausaufgaben, die am Sonntag noch schnell gemacht werden mussten, den ersten SMS auf dem Handy, den Partys, zu denen man eingeladen werden wollte. Niemand hat mich damals aufgefordert, zusammen auf die Straße zu gehen oder auf eine Demo.

Die einzigen politischen Diskussionen, die ich zu hören bekam, waren die Auseinandersetzungen zwischen meinem Vater und meinem Großvater vor dem Fernseher. Der eine wählte links, der andere rechts, und jede Nachrichtensendung endete im Streit. Ich wurde aus dem Zimmer geschickt.

***

Mein Vater und meine Mutter hatten ihre Jugend in den 1970er Jahren, Politik war damals ihr tägliches Brot. Jede Entscheidung, jede Wahl wurde vom Standpunkt einer genau umrissenen politischen Identität aus getroffen, vor dem Hintergrund bestimmter Lektüren, Diskussionen und Konfrontationen, die ausgehend von Büchern, Debatten und Zeitschriften eine stabile Praxis ergaben, eine bewusste Lebensform.

Ich erinnere mich noch an ein Abendessen bei Freunden meiner Eltern, zu dem auch ein Paar eingeladen war, das ich nicht kannte. Sie erschienen mir wie beliebige Erwachsene, sie tauschten mit meinen Eltern ein paar Anekdoten aus der Vergangenheit aus, unterhielten sich angeregt und umarmten uns zum Abschied, der früher kam als erwartet. Ich fragte meinen Vater, warum sie so früh gegangen waren, und er antwortete lakonisch: „Sie mussten wieder rein.“ In dem Moment begriff ich nicht. Erst Jahre später wurde mir klar, dass die beiden auf Freigang waren. Sie mussten zurück ins Gefängnis. Sie verbüßten die letzten Jahre einer Haftstrafe wegen terroristischer Aktivitäten, sie hatten sich an einigen Aktionen der Brigate Rosse beteiligt und waren festgenommen worden.

Meine Mutter musste manchmal lachen, wenn sie sich daran erinnerte, wie sie und mein Vater nach einer Demonstration vor einem bewaffneten Polizisten geflüchtet waren und völlig außer Atem zum Glück gerade noch so einen Bus erreicht hatten. Der Busfahrer hatte den Polizisten kommen sehen und sofort die Türen geschlossen, er war losgefahren und hatte sie gerettet.

Ich erzählte meinen Freunden in der römischen Provinz nie von gewissen politischen Abenteuern meiner Familie, und wenn ich zum Mittagessen eingeladen war und sich jemand bei Tisch über kinderfressende Kommunisten im Fernsehen aufregte, behielt ich für mich, was ich dachte.

Es gab da eine Spaltung, eine Diskrepanz zwischen dem Ich, das unfähig war, auf Gleichaltrige zu reagieren, und dem wachen und neugierigen Ich innerhalb der heimischen vier Wände. Ich wusste nicht, wie ich diese beiden Ichs zusammenbringen konnte, ich ließ sie nebeneinander bestehen: die Freundin eines reichen neofaschistischen Jungen, der mir Keltenkreuze ins Tagebuch oder aufs Federmäppchen zeichnete, und die Tochter ehemaliger linker Aktivisten, die Freunde der Brigate Rosse zum Abendessen einluden.

Die Romane, die ich las, stammten alle aus dem Bücherregal zu Hause, nie aus der Schule, nie von meinen Freundinnen. Der gegenteilige Fall war sehr selten. Noch seltener war, dass ich mit jemandem aus meinem Umfeld über Bücher sprach. Meine Freundinnen und ich waren damit beschäftigt, in den Myspace-Chats ältere Jungs zu suchen, die uns hübsch fanden.

Erst viel später habe ich begriffen, dass meine Unfähigkeit zum Teil die einer ganzen Generation war, dass diese kollektive Gleichmütigkeit viele von uns betraf: diejenigen, die sich daran gewöhnt hatten, Politik nur im Fernsehen zu verfolgen, wo Politiker über alles Mögliche, aber ohne wirkliche Argumente miteinander stritten, diejenigen, die nach dem G8-Gipfel in Genua 2001 Angst hatten, auf Demos zu gehen, weil sie fürchteten, mit Schlagstöcken traktiert zu werden, diejenigen, für die Gewalt ein Tabu war und jugendlicher Übermut nur eine Ausrede, um nachts auf dem Moped mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch die Gegend zu fahren.

***

Nach dem Gymnasium entschied ich mich fast unbewusst für die Philosophische Fakultät, und ebenso unbewusst zogen mich die Kurse zu Recht, Politikwissenschaft und politischer Theorie an.

Auf einmal nahm alles, was ich als fremd und unmöglich empfunden hatte, in den Universitätsvorlesungen Gestalt an, in den Gesprächen mit meinen Studienkollegen, in den Büchern, die ich in der Bibliothek fand. Wie von Zauberhand traten mir Begriffe wie „Naturrecht“, „Universalismus der Differenz“, „Antinomien der Demokratie“, „Leviathan“, „Phänomenologie des Geistes“ und „Anerkennung“ vor Augen. Mit jeder neuen Lektüre wuchs mein Selbstbewusstsein, ich kam nach Hause und sprach mit meinen Eltern darüber, ich verwendete hochtrabende Begriffe, um mich wichtig zu machen, ich glaubte, endlich zur Wahrheit vorgedrungen zu sein, die ganze Größe des politischen Denkens erfasst zu haben und darüber verfügen zu können. Mitleidig schaute ich auf meine früheren Mitschüler herab, auf meinen albernen, reichen Freund, auf dieses Leben in der Provinz, wo niemand wusste, wer Hobbes war.

Ich wandte mich von den Romanen ab, fünf Jahre lang las ich nur philosophische Bücher, auf meinem Nachttisch hatte ich Augustinus liegen, und ich schrieb meine Hefte mit Notizen zur Aufklärung voll.

Und doch verspürte ich einen neuerlichen Bruch: Ich hatte mich verändert, aber die Politik in Italien nicht, sie war die gleiche geblieben. Keiner der Denker, die ich studierte, wurde je erwähnt, bei keinem der Vorträge, die ich besuchte, war je ein Vertreter der Politik im Raum, keiner meiner Studienkollegen hatte den Wunsch, später in die Politik zu gehen. Dieser Bruch wurde offenkundig, als ich 2012 meinen Abschluss machte und im Vollbesitz meiner Kenntnisse davon ausging, es müsse ein Leichtes sein, das, was ich gelernt hatte, in die Praxis umzusetzen. Ich begann mich zu fragen, wie ich das anstellen sollte. Viele meiner Kommilitoninnen wurden Lehrerinnen, andere gingen ins Ausland, wieder andere blieben als Assistentinnen an der Universität, andere schließlich änderten ihr Leben von Grund auf, ließen die philosophischen Studien beiseite, als wären sie eine glückliche Parenthese in einer Welt, in der die Anwendung des Studierten unmöglich erschien.

Ich begann das Fernsehen zu hassen. Ich schaltete es aus, wenn politische Debatten kamen, ich drehte den Ton leise, wenn die Politiker entgegengesetzter Lager aufeinander einschrien, ich war genervt, wenn von Wahlen und von Wahlkampf die Rede war. Ich hätte auf alles spucken mögen, auf Flugblätter, Wahlplakate der Kandidaten, auf diese lächelnden Gesichter, die Parteilogos. Es ekelte mich alles an.

So habe ich die Jahre nach meinem Studienabschluss zugebracht, ich fragte mich nach dem tieferen Sinn meiner Entscheidungen, was mich zu diesem Studium gebracht hatte und weshalb, vor allem aber warum es innerhalb der Universität so schien, als würden wir Studierenden etwas fundamental Wichtiges tun, und kaum setzten wir einen Schritt nach draußen, verweigerte sich uns die Welt. Wir waren zu nichts nütze, es gab keinen Platz für uns.

Meine Mitschüler vom Gymnasium hatten unterdessen ihren Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, Jura, Medizin gemacht, ihnen stand die Rolle, die sie einnehmen würden, und was sie anstrebten, klar vor Augen. Mir hingegen nicht, ich war in einen Abgrund der Sinnlosigkeit gefallen. Ich verspürte heftige Wut und Angst, ich hatte fünf Jahre meines Lebens etwas gewidmet, das sich im Nichts aufgelöst zu haben schien. War es die Universität, die uns belog, oder war die Welt die eigentliche Lüge?

Ich hatte gelernt, dass jede Erscheinung in der Geschichte der Politik, zumindest bis zum 20. Jahrhundert, sich der Ausstrahlungswirkung einer politischen Theorie verdankte. Mehr als Bücher, geschrieben von einzelnen Männern oder Frauen, hatte es nicht gebraucht, um zahlreiche Interpretationen und noch zahlreichere politische Standpunkte in die Welt zu bringen. Aber was mich umgab, was ich um mich herum sah, sagte mir das Gegenteil: In den 2000er Jahren waren auf der einen Seite die Politik und auf der anderen Seite, mit gehörigem Sicherheitsabstand, das politische Denken, die politische Literatur, das politische Erzählen.

Angesichts dieser Verbindungslosigkeit war auch ich eine irgendwie aus der Zeit gefallene Frau, der die passenden Worte fehlten und die das Studium eher geschwächt denn zur Teilnahme an der öffentlichen Debatte legitimiert hatte. Wieder war es so wie in meiner Kindheit: Ich ging in eine Richtung und die Politik in die andere.

***

Es brauchte noch ein paar Jahre – und die Begegnung mit der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts, die Entdeckung der Verlagswelt sowie meinen Wunsch, zu schreiben –, um bei mir eine neue Entwicklung anzustoßen.

Wiederum erst im Nachhinein wurde mir klar, dass alles, was ich studiert hatte und in meinem Leben, meiner Arbeit nicht anwandte, im Schreiben einen Sinn entfalten konnte. Durch Geschichten, vor allem solchen aus der Vergangenheit, konnte ich anhand meiner Figuren politische Erkundungen unternehmen und mich einigen für mich fundamentalen Themen nähern, beispielsweise politischen Überzeugungen, sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Repression.

Während sich in Italien rechte und linke Parteien an der Regierung ablösten und dabei immer schwächer und labiler wirkten, immer unfähiger, gemeinsame Lösungen für die Probleme des Landes zu finden, während die Reden der politischen Entscheidungsträger im Radio, in den Zeitungen und im Fernsehen jeden Tag belangloser und inhaltsleerer wurden und sich ihre Vorzeichen je nach Kontext änderten, um ein paar Wählerstimmen zu sichern, wandte ich mich der Geschichte meiner Familie zu und stellte mir einige Fragen über meine Herkunft.

Die erste und für mich wichtigste betraf meinen Vater und die Tatsache, dass er in Asmara in Eritrea geboren und daher anders war als die Väter meiner Freundinnen. Auf der Suche nach Antworten nahm ich ein Tonbandgerät und interviewte meine Großmutter. Ich wollte wissen, was Afrika mit uns zu tun hatte, warum sie und mein Großvater dort gewesen waren und was Kolonialismus eigentlich für die bedeutete, die kolonisiert hatten. Wussten sie, dass sie Kolonialisten waren? Wussten sie um ihre Privilegien? Was hatten sie von der politischen Geschichte unseres Landes verstanden, gerade in Bezug auf die Länder, die wir besetzt und zu unseren Kolonien gemacht hatten?

Meine Figuren, mein Schreiben wurden von ganz allein politisch, ich musste mich nicht dazu zwingen, musste mein Schreiben nicht dazu zwingen. Ich verspürte den Drang, nachzuforschen, das Bedürfnis kam von weither und half mir, meine Studienjahre endlich fruchtbar zu machen, meinem Weg einen Sinn zu geben und einen Ort zu finden, an dem alle meine Ichs von Bedeutung sein konnten.

Durch die Gespräche mit meiner Großmutter wurde mir klar, dass sie, wie ich, ein Mädchen gewesen war, das nicht verstand, was ihm während des Krieges zustieß – und eine Jugendliche, die aufgebrochen war, ihre Mutter in Eritrea zu suchen, und keine Ahnung hatte, was eine Kolonie war. Sie hatte damals überhaupt kein politisches Bewusstsein und war dennoch Teil eines großen, umstrittenen historischen Phänomens geworden. Und weil ich das nun wusste, war es mir wichtig, nahe an ihrer Bewusstseinslücke, an ihren Fehlern zu bleiben, denn die ließen sich von Generation zu Generation beobachten, es waren Defizite, die auch ich verspürt hatte, immer ein Stück weit weg von der Politik, immer unfähig, zu handeln oder zu verstehen.

***

Als mein erster Roman „La Grande A“ 2016 in Italien erschien („Das große A“, 2024), war ich 26 Jahre alt und wurde als „interessante neue Stimme der italienischen Literatur“ betrachtet. Ich absolvierte eine Lesereise und sah mich bei der Mehrzahl der Personen, die ich traf, mit einer völligen Unkenntnis der italienischen Geschichte konfrontiert. Ich fühlte mich fehl am Platz, für viele war ich zu jung, um zu gewissen heiklen Themen Stellung beziehen zu können. Da waren immer ein Mann oder eine Frau, immer älter als ich, die während der Veranstaltung aufstanden und sich aufregten, weil meine Ansichten sie störten. Ich wiederholte, was für mich das Wichtigste war: Mit diesem Buch wolle ich dazu beitragen, dass wir uns der Vergangenheit bewusst werden, einer kollektiven Erfahrung Raum geben. Diese Aussagen stießen häufig auf taube Ohren.

Ich litt darunter, verfolgte aber weiter meinen Weg. Ich stellte mir weiterhin Fragen, wandte mich noch einmal meinen Recherchen zu. Was ich über den italienischen Kolonialismus gelernt hatte, zeigte mir, dass es noch andere Lücken zu füllen gab. In meiner Familie verbarg sich noch eine andere Geschichte, die lose mit der großen italienischen Politik verbunden war: die Geschichte meines Urgroßvaters, eines Anarchisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aufgewachsen in einem mittelitalienischen Dorf und dann nach Frankreich und Deutschland geflohen.

Der Anarchismus also: eine politische Bewegung, von der ich wirklich wenig wusste und über die man in Italien nur ungern sprach. Eine Bewegung, die ganz und gar aus dem Geschriebenen, aus dem politischen Denken hervorgegangen war. Das Beispiel meines Urgroßvaters bewies es: Er war Analphabet gewesen und hatte sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht. Ohne diese Werkzeuge hätte er nicht am anarchistischen Leben teilnehmen können, das zwar körperlichen Einsatz erforderte, aber mit Artikeln, Aufsätzen, Liedern und Poesie genährt werden musste.

Ich legte mich ins Zeug, studierte, las, stellte Nachforschungen an, und mir wurde bewusst, dass ich mich – nach dem Kolonialismus – wieder mit etwas konfrontiert sah, das teilweise verdrängt worden war: die Bewegungen der extremen Linken, die dem Aufkommen des Faschismus vorausgegangen waren, dieselben Bewegungen, deren Anhänger Mussolini gewesen war, als revolutionärer Sozialist und enger Freund vieler Anarchisten und Republikaner jener Zeit.

Ich musste an meinen Freund zu Gymnasialzeiten denken, der Keltenkreuze in die Tagebücher anderer zeichnete und absolut nichts von der Geschichte der faschistischen Partei wusste, der auch nicht neugierig war, zu erfahren, wer dieser „Dux“ Mussolini in Wahrheit gewesen war, was er getan hatte, was diese Symbole bedeuteten, wie und warum sie ausgewählt worden waren, wie Mussolini von jemandem, der antimilitaristischen und antiimperialistischen anarchistischen Positionen nahestand, zu dem Mann hatte werden können, der den Glanz Italiens durch seine Kolonialmissionen wiederherstellen wollte.

„Un giorno verrà“ kam in Italien 2019 heraus („Ein Tag wird kommen“, 2020) und fand sehr wenig Leser, die Zeitungen interessierten sich kaum dafür, begeistert waren einzig die alten Anarchisten, die ihre Geschichte oder die ihrer Vorläufer in diesem Buch wiederfanden. Häufig wurde ich erneut als die junge Autorin hingestellt, die über Politik schreibt, für wenige schreibt, und ja, es wäre gut, wenn sie damit aufhörte oder interessantere Themen fände, über die sie schreiben könne.

Erst durch das Erscheinen der deutschen Übersetzung im Wagenbach Verlag 2020 fand der Roman Beachtung, und als ich nach Berlin kam, um darüber zu reden, war ich beeindruckt von den vielen Fragen. Das war seltsam, ungewöhnlich für mich, das gab es in Italien nicht.

***

Einige Jahre lang gefiel ich mir in der bequemen Vorstellung, dass mein äußeres Nicht-Engagement durch mein Schreiben aufgewogen werden könnte, dass das Schreiben von Romanen meine Art war, mich politisch zu betätigen. Und ich glaube, in dieser Hinsicht gibt es zwei Arten von Schreibenden: die einen, die denken, dass ein Buch eine politische Waffe sein kann, und die anderen, die hingegen glauben, dass die Literatur frei von Moral, Ethik und Politik zu sein hat, dass sie keine Antworten zu geben vermag, sondern lediglich durch die Erzählung auf möglichst komplexe Weise Fragen aufwerfen kann.

Im Studium hatte ich gelernt, dass Bücher Bewegungen auslösen konnten und dass Politik und Literatur in der Vergangenheit Arm in Arm miteinander gegangen waren, dass sie sich oft gefunden oder aneinander gestoßen hatten und dass große Texte der politischen Theorie so viel literarische Geltung beanspruchen konnten wie große Romane.

Aber meine Sichtweise begann sich zu ändern, weil dieser Bruch sich trotz all meiner Versuche nie schloss. Meine Romane waren wirkungslos, oder wenigstens kam es mir so vor: Meine Recherchen lösten keinerlei Debatte aus. Was ich tat, entsprach einem alten Verständnis vom Schreiben, ein Verständnis, das mir im beginnenden 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß erschien – die Jahre, in denen ich erwachsen geworden war, hatten mir doch immer wieder vorgeführt, wie fern mir Konsum, Werbung und das schrille Gezeter der Politiker waren, wie fern von allem, was ich liebte, was ich studierte und las.

Auf dem Höhepunkt einer schweren Identitätskrise sagte ich mir also, dass ich mit dem Schreiben und der Philosophie Schluss machen würde. Ich würde ein letztes Buch schreiben, und wenn dieses nicht ein Minimum an Debatte, ein Minimum an Reaktionen auslösen würde, dann hätte es wirklich keinen Sinn, weiterzumachen.

Aber wo sollte ich ansetzen, welchen Diskurs aufnehmen? Ich stürzte mich in die Arbeit und begann, einen neuen Roman zu konzipieren, in dem politische Überlegungen präsent, aber weniger sichtbar in die Erzählung eingebettet sein sollten. Was lag mir am Herzen, worüber wollte ich unbedingt sprechen? Darüber dachte ich lange nach. Ich wollte mich auf die Gegenwart verlegen, aber ich wusste nicht wie, ohne Bücher, Quellen und Archive, die ich durchforsten konnte, fühlte ich mich verloren, war ich nackt.

Immer wieder kamen mir diese Keltenkreuze in meinem Tagebuch in den Sinn und ebenso meine Unfähigkeit, mich gegen diese mit Bedeutung aufgeladenen Zeichen zu wehren, die als Dekoration und zum Spaß verwendet wurden – und dann war da die römische Provinz, wo ich aufgewachsen war und wo nie von Politik gesprochen wurde, wo alles nur auf Gerede konzentriert zu sein schien und wo sehr viele Jugendliche anlasslos gewalttätig wurden, in absurden Handlungen ihren Frust an anderen ausließen, aber niemals darauf gekommen wären, diese Gewalt gegen die Politiker zu richten, gegen die Apathie, in die sie uns versetzt hatten, gegen ihr Unvermögen. Da begriff ich, dass ich genau darüber schreiben wollte – über die apolitische Dimension, in der ich einen Gutteil meines Lebens zugebracht hatte, wie schwierig es dadurch für mich geworden war, eine Identität auszubilden, wie ich mich immer unvorbereitet in der politischen Debatte wiedergefunden hatte, und wie sehr mir das fehlte, was ich meine Figur Lupo in „Un giorno verrà“ hatte erleben lassen: eine politische Erziehung.

Eine Erziehung, die, davon war ich immer überzeugter, nicht ohne die Praxis auskam, ohne Kommunikation mit anderen Menschen, ohne kollektive Projekte, aber auch nicht ohne Lektüre, Studium, ohne Kultur im weitesten Sinn.

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So ist 2021 Gaia entstanden, die Protagonistin von „L’acqua del lago non è mai dolce“ („Das Wasser des Sees ist niemals süß“, 2022) – ein Mädchen, das aus einer Familie mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten stammt und diese Schwierigkeiten nicht dem System, sondern seiner Mutter anlastet, das so sein will wie alle Mädchen in der Provinz. Sie will sich Ohrringe und Bikinis kaufen, nichts wissen von der Gesellschaft, in der sie lebt, und zugleich ein Teil davon sein, ohne sich Fragen zu stellen, ohne tagtäglich all die grausamen Ungerechtigkeiten vor Augen zu haben.

Ich fand es eine gute Idee, meine persönlichen und politischen Reflexionen in einen (Anti-)Bildungsroman zu kleiden, ich wollte sehen, was passieren würde, wenn ich politisches Denken und mein Erzählen immer enger miteinander verquickte, sodass Ersteres fast nicht mehr erkennbar war, wollte sehen, ob es möglich war, politische Reflexionen in anderer Weise zu transportieren und so vielleicht verdaulicher zu machen.

Das Buch, an das ich keine großen Erwartungen knüpfte, erreichte ein breites Publikum in Italien und in vielen anderen europäischen Ländern, was es mir in der Folge erlaubte, an mehr als einer öffentlichen Debatte zu genau den Fragen teilzunehmen, die ich versucht hatte, aufzuwerfen. Beinahe sofort wurde mir klar, dass man in Italien vor allem am erzählerischen Aspekt des Romans interessiert war, während in anderen Ländern die politische Seite auf mehr Interesse stieß – als ob es vom Ausland aus leichter wäre, zu verstehen und zu analysieren, welche Strategie ich verfolgt hatte.

Und doch, trotz dieser großen Befriedigung sind die Gespenster der Vergangenheit nie ganz verschwunden. Nach den ersten Momenten der Euphorie und des Gefühls, es geschafft zu haben, fand ich mein Schreiben erneut vergeblich und sah mich wieder mit schmerzlichen Schwierigkeiten in Bezug auf die heutige italienische Politik konfrontiert. Eine Politik, mit der ich mich nie vertraut fühlte, zu der ich keinen Kontakt hatte und keine Berufung verspürte. Ich fragte mich, ob das an mir lag, ob es einzig und allein meine Schuld war, weil ich meine Vorbehalte hatte, der Gelegenheit stets auswich, an etwas teilzunehmen, was auch nur von fern mit einer Partei zu tun hatte, selbst wenn es eine linke war.

Am Ende antwortete ich: Nein, die Schuld lag nicht nur bei mir, als Generation haben wir eine grausame Entfremdung vom politischen Leben erlitten und auch selbst betrieben. Wir haben aufgehört, unsere Energie in derartige Debatten zu stecken, wir fühlten uns fehl am Platz. Zuerst haben wir uns von der Logik des berlusconismo vereinnahmen lassen, der Logik des Geldes, des Eigeninteresses und der Kommerzialisierung des Fernsehens und dann von Trümmern dieser Logik: einer orientierungslosen Linken und einer immer hasserfüllteren Rechten.

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Heute genügt es nicht, glaube ich, als Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu kommentieren, was der Politiker X tut, oder die Maßnahmen der Regierung zu kritisieren – das ist notwendig, ja, aber für einen echten Neuanfang reicht es nicht aus. Was immer noch fehlt, ist politisches Denken, die Auseinandersetzung mit den politischen Systemen, mit den philosophischen Grundlagen der Politik. Was immer noch fehlt, ist die Fähigkeit, über Politik zu schreiben, nicht über die Tatsachen, sondern über die großen Ideen, die hehren Ideen, die alles andere umgreifen.

In dieser Hinsicht trifft die intellektuelle Klasse in Italien eine Schuld. Getrieben vom Buchmarkt und von der immer lächerlicheren Bedeutung der Literatur für die Öffentlichkeit hat sie sich in ihrer eigenen Welt verschanzt, dort spricht man von sich selbst, sieht nur sich selbst und kritisiert auch bloß sich selbst.

Und so habe auch ich mich letztendlich in meinem Schreiben versteckt, habe aufgehört, den Anschluss an das politische Denken zu suchen, habe meine philosophischen Waffen gestreckt und allmählich vergessen, wie das alles für mich angefangen hatte: mit dem Wunsch, Politik zu verstehen und einen Weg zu finden, Politik zu machen und sie zu verändern. Oder es wenigstens zu versuchen.

Übersetzung aus dem Italienischen:
Barbara Kleiner, München.

ist Schriftstellerin, Herausgeberin und Lektorin in Rom, Italien. Wie alle ihre Romane erschien auch ihr jüngster Roman "L’Acqua del lago non è mai dolce" ("Das Wasser des Sees ist niemals süß") 2022 in deutscher Übersetzung im Wagenbach Verlag Berlin.