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75 Jahre nach der Nakba | Israel | bpb.de

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75 Jahre nach der Nakba Die Katastrophe dauert an

Muriel Asseburg

/ 16 Minuten zu lesen

Während die Gründung Israels 1948 für Jüdinnen und Juden einen sicheren Zufluchtsort schaffte, steht sie für die Palästinenserinnen und Palästinenser für die "Katastrophe".

Dieses Jahr feiert Israel sein 75-jähriges Bestehen und damit auch die Etablierung eines sicheren Zufluchtsortes für Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Zugleich jährt sich zum 75. Mal die Nakba (arabisch: "Katastrophe"), also die Flucht und Vertreibung der meisten ansässigen Palästinenser*innen aus dem heutigen Staatsgebiet Israels. Für Palästinenser*innen ist die Nakba nicht nur ein Ereignis, das in der Vergangenheit liegt. Vielmehr beschreiben sie mit dem Begriff auch ihre aktuelle Lebensrealität. Denn bis heute ist das palästinensische Streben nach nationaler Selbstbestimmung nicht erfüllt, leben die Flüchtlinge und ihre Nachkommen, oft staatenlos, im Exil, werden palästinensische Staatsbürger*innen Israels diskriminiert und Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten verdrängt. Nach wie vor dauert auch der – asymmetrische – Konflikt um das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina an. Eine friedliche Regelung des Territorialkonflikts und der Flüchtlingsfrage ist heute weniger absehbar denn je. Dies zwingt auch die deutsche Politik, zu überdenken, wie die historische Verantwortung mit einem zielführenden Beitrag zur friedlichen Konfliktbearbeitung in Nahost in Einklang gebracht werden kann.

Die Katastrophe von 1948

Die Nakba markiert eines der zentralen Daten, wenn nicht das zentrale Datum in der Geschichte der Palästinenser*innen. Denn die Ereignisse rund um die israelische Unabhängigkeit bedeuteten für die ansässige palästinensische Gesellschaft eine traumatische Wende, die bis heute fortwirkt und die palästinensische Identität prägt. Die Nakba bezeichnet dabei die Flucht und Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Einwohner*innen aus dem heutigen Staatsgebiet Israels: Zwischen 1947 und 1949 sahen sich zwischen 700000 und 750000 Palästinenser*innen gezwungen, das Gebiet zu verlassen. Zugleich bedeutete die Etablierung Israels im größten Teil des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina (auf rund 77 Prozent) den dauerhaften Verlust großer Teile des Territoriums, auf dem ein palästinensischer Staat hätte entstehen können.

Die dominante israelische Geschichtsschreibung stützte über lange Zeit das offizielle Narrativ des Staates: Die ansässigen Palästinenser*innen seien vor allem infolge der Propaganda der arabischen Staaten geflohen. Nach Öffnung der Archive ab Mitte der 1980er Jahre deckten die sogenannten neuen Historiker*innen jedoch auf, dass es auch gezielte Vertreibungen, systematische Zerstörungen palästinensischer Dörfer und Städte sowie Massaker und Plünderungen gegeben hatte. Denn Israel sollte ein Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit und ein sicherer Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden aus aller Welt sein. In diesem Zusammenhang wurde unter anderem die Bevölkerung von über 400 arabischen Dörfern vertrieben oder flüchtete, die meisten dieser Dörfer wurden zerstört und unbewohnbar gemacht. Verantwortlich dafür waren in der Regel nicht nur Kriegsschäden, sondern auch gezielte Aktionen der israelischen Armee beziehungsweise ihrer Vorläufer und zionistischer Siedler. Zu Flucht und Vertreibung kam es in beiden Phasen des israelischen Unabhängigkeitskrieges, also sowohl vor der Ausrufung des Staates Israel als auch während des ersten israelisch-arabischen Krieges, also nach dem Angriff einer Koalition arabischer Staaten auf Israel.

Die UN-Generalversammlung postulierte in ihrer Resolution 194 vom Dezember 1948 das Recht der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Häuser zurückzukehren, wenn sie bereit wären, in Frieden mit ihren Nachbar*innen zu leben. Zudem sollten sie Entschädigung für verloren gegangenes Eigentum erhalten. Die israelische Regierung lehnte jedoch im Juni 1948 die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge kategorisch ab, und das israelische Militär verhinderte gewaltsam Rückkehrversuche einzelner Flüchtlinge. 1952 nahm die Knesset ein Staatsbürgerschaftsgesetz an, das Jüdinnen und Juden aus aller Welt ein "Rückkehrrecht" auf der Grundlage des Rückkehrgesetzes von 1950 einräumte, geflüchtete Palästinenser*innen aber von der israelischen Staatsbürgerschaft und der Rückkehr ausschloss. 1954 beschloss die Knesset ein Gesetz zur Verhinderung von Infiltration, das vorsah, die Rückkehr auch mit Waffengewalt zu verhindern.

"Fremde im eigenen Land"

In Israel verblieben rund 150000 Palästinenser*innen, die zunächst unter Kriegsrecht gestellt wurden. Rund ein Drittel von ihnen wurde zu Binnenflüchtlingen, die in der Regel nicht in ihre Heimatdörfer und -städte zurückkehren durften. Damit traf sie zumindest teilweise das gleiche Schicksal wie die Flüchtlinge: Ihr Besitz wurde enteignet und dem Custodian for Absentee Property (Treuhänder für den Besitz Abwesender) und damit dem israelischen Staat übergeben. Insgesamt wurden so etwa 70 Prozent des Landes, das in arabischem Besitz war, enteignet und für den Bau jüdischer Siedlungen zur Verfügung gestellt. Auch wurden die Palästinenser*innen nicht als gleichberechtigte Staatsbürger*innen wahrgenommen, sondern in erster Linie als potenzielle fünfte Kolonne der feindlich gesinnten arabischen Nachbarstaaten und damit als Sicherheitsrisiko. Das Militärrecht galt für palästinensische Israelis bis 1966. Ihre Grundrechte, etwa die Bewegungs- und Vereinigungsfreiheit, waren stark eingeschränkt; auch durften sie zunächst keine eigenen Parteien bilden. So führten sie ein Leben als "Fremde im eigenen Heimatland", wie es der palästinensische Nationaldichter Mahmud Darwisch ausdrückte.

Entwurzelte Nation

Die Nakba erschütterte die palästinensische Gesellschaft massiv. Die meisten Palästinenser*innen flohen ins Westjordanland (rund 280000), in den Gazastreifen (rund 190000) sowie in die benachbarten arabischen Länder Libanon (100000), Syrien (75000) und Jordanien (70000). Auch wenn sich die konkreten Bedingungen in den Aufnahmestaaten unterschieden: Das Flüchtlingsdasein, oft als Staatenlose, wurde zur prägenden Lebensrealität für das Gros der Palästinenser*innen. In den meisten Ländern wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen, sondern waren gezwungen, ihr Dasein in trostlosen Flüchtlingslagern zu fristen, die sich im Laufe der Jahre von Zeltstädten zu eng bebauten Stadtvierteln entwickelten und meist besonderen Zugangs- und Sicherheitsbeschränkungen unterlagen. Hunderttausende wurden dauerhaft von internationaler Hilfe abhängig, da sie ihre Existenzgrundlage verloren hatten und sich in den Aufnahmeländern mit unterschiedlich strikten Beschränkungen von Arbeitsmöglichkeiten, Eigentumserwerb sowie Reise- und Niederlassungsfreiheit konfrontiert sahen. Auch das soziale Gefüge geriet durcheinander: Familien und Dorfgemeinschaften wurden durch die Flucht auseinandergerissen; ehemals einflussreiche palästinensische Familien büßten in der Diaspora an Bedeutung ein. Die traumatischen Ereignisse von 1948 prägten die gesamte Gesellschaft.

Zudem war und ist der Status der palästinensischen Flüchtlinge in den Aufnahmeländern prekär. Die Positionierung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in regionalen Konflikten sowie die bewaffneten Aktivitäten militanter palästinensischer Gruppen vergifteten immer wieder das Verhältnis zu den lokalen Gesellschaften und den herrschenden Eliten. Sie provozierten nicht nur Gewalt gegen Guerillakämpfer*innen, sondern auch gegen die Flüchtlingsbevölkerung und führten wiederholt zur Ausweisung von palästinensischen Flüchtlingen und Arbeitsmigrant*innen. Beispielhaft für diese Dynamiken stehen der Jordanische Bürgerkrieg 1970, auch als Schwarzer September bekannt, das Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila im Libanon 1981 und die Ausweisung von rund 400000 Palästinenser*innen aus Kuwait im Zusammenhang mit dem Irak-Kuwait-Krieg 1990/91. In Syrien litten die palästinensischen Flüchtlinge ab 2012 in besonderem Maße unter dem internationalisierten Bürgerkrieg: Das größte Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus war jahrelang umkämpft und eingekesselt, die Versorgungslage katastrophal. Im Zuge der Kämpfe wurde das Lager nahezu vollständig in Schutt und Asche gelegt. Mehr als zwei Drittel der in Syrien ansässigen palästinensischen Flüchtlinge wurden zu Binnenvertriebenen. Die Nachbarstaaten Libanon und Jordanien verwehrten ihnen in der Regel die Einreise.

Stabilisierende Rolle der UNRWA

Da eine rasche politische Lösung des Flüchtlingsproblems nicht absehbar war, rief die UN-Generalversammlung im Dezember 1949 das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ins Leben. Anspruch auf Registrierung bei der Organisation, und damit auf ihre Leistungen, hatten ausschließlich diejenigen Personen, die ihren Hauptwohnsitz im Zeitraum zwischen dem 1. Juni 1946 und dem 15. Mai 1948 im britischen Mandatsgebiet Palästina hatten, ihr Haus oder ihre Existenzgrundlage infolge des israelisch-arabischen Krieges von 1948 verloren hatten und die in das von der UNRWA betreute Gebiet (Westjordanland, Ost-Jerusalem, Gazastreifen, Libanon, Syrien, Jordanien) geflohen waren. Anspruchsberechtigt sind auch die Ehefrauen sowie Nachkommen von registrierten Flüchtlingen. Nicht als Flüchtlinge im Sinne der UNRWA-Definition gelten hingegen diejenigen Palästinenser*innen, die während des Krieges von 1967 geflohen sind, sowie diejenigen, die 1948 in anderen arabischen Ländern, etwa in Ägypten, Zuflucht gefunden haben.

Die UNRWA bietet nun schon seit über 70 Jahren eine Grundversorgung für palästinensische Flüchtlinge an, insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit, und leistet humanitäre Hilfe. Eine Besonderheit ist, dass die Organisation durch die Beschäftigung von Palästinenser*innen auch eine wichtige Arbeitgeberin ist. Nicht zuletzt dadurch kommt der Organisation eine bedeutende Rolle beim Erhalt regionaler Stabilität zu. Die UNRWA, ursprünglich als vorübergehende Einrichtung geschaffen, bis eine gerechte und dauerhafte Lösung für die Palästina-Flüchtlinge gefunden ist, hat jedoch kein Mandat zur Lösung des Flüchtlingsproblems.

Gleichwohl wird der UNRWA immer wieder vorgeworfen, dass sie dazu beitrage, dass die Flüchtlinge ihren Status beibehielten und auf ihrem Rückkehrrecht beharrten, statt sich in den derzeitigen Aufnahmestaaten zu integrieren. Diese Argumentation übersieht freilich, dass das Rückkehrrecht von Flüchtlingen, allgemein und speziell von palästinensischen, völkerrechtlich verbrieft ist – und damit unabhängig von der UNRWA. Sie übersieht auch, dass die arabischen Nachbarstaaten zwar bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen, mit der Ausnahme Jordaniens aber nicht dazu, diese zu Staatsbürger*innen zu machen. Nicht nur betonen die arabischen Staaten – zu Recht – die internationale Mitverantwortung für die Palästina-Flüchtlinge. Ein gewichtiger Grund ist auch, dass die Einbürgerung, etwa im Libanon, zu Verschiebungen in der Bevölkerungszusammensetzung geführt und, so die Sorge, das friedliche Zusammenleben der ethnischen und konfessionellen Gruppen gefährdet hätte.

Immer wieder wird auch – kontrafaktisch – behauptet, die Vererbung des Flüchtlingsstatus an nachfolgende Generationen sei ein Spezifikum der UNRWA. Denn nach internationalem Recht gelten die Nachkommen ebenfalls als Flüchtlinge, bis eine dauerhafte Lösung gefunden ist. Damit soll auch die Einheit der Familie in langandauernden Fluchtsituationen geschützt werden. Entsprechend hat auch der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge Nachkommen etwa afghanischer Flüchtlinge als Flüchtlinge anerkannt.

Darüber hinaus wird selbst das Einfordern des Rückkehrrechts von Palästinenser*innen zunehmend als antisemitisch stigmatisiert, da dessen Umsetzung die Identität Israels als jüdischen Staat gefährde. Dabei lässt sich nicht stichhaltig argumentieren, dass das Beharren von Flüchtlingen auf ihrem Recht auf Rückkehr und Entschädigung antisemitisch motiviert sei. Bei einer Regelung wird allerdings zu unterscheiden sein zwischen dem individuellen Rechtsanspruch der Flüchtlinge auf Rückkehr und Entschädigung einerseits und einer politischen Regelung der Flüchtlingsfrage, die eine Abwägung zwischen dem individuellen Recht und den Interessen heutiger und künftiger Aufnahmestaaten vornimmt, andererseits.

Andauernde Nakba

Für Palästinenser*innen ist die Nakba kein abgeschlossenes Ereignis der Vergangenheit; sie dauert vielmehr an. Denn Flucht und Vertreibung von 1948 bestimmen den Lebensalltag vieler Palästinenser*innen bis heute. Ende 2022 waren mit 5,9 Millionen rund 40 Prozent der Palästinenser*innen weltweit bei der UNRWA als Flüchtlinge registriert. Besonders hoch ist der Anteil der registrierten Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung im Gazastreifen mit rund 75 Prozent, im Westjordanland mit rund 30 Prozent und in Jordanien mit knapp 25 Prozent. Im Libanon liegt er bei rund 7 Prozent. Tatsächlich ist die Zahl der Palästinenser*innen, die geflüchtet sind, sowie deren Nachkommen aber noch deutlich höher.

Auch sehen Palästinenser*innen Verdrängung und Enteignung im Westjordanland als Fortsetzung der Nakba. Dabei wird die palästinensische Bevölkerung vor allem aus Gebieten verdrängt, die für Israel von strategischer oder ideologischer Bedeutung sind, sei es in Ost-Jerusalem, im Jordangraben, der Altstadt von Hebron oder in der sogenannten Seam Zone, dem Gebiet zwischen den israelischen Sperranlagen und der Grünen Linie, also der Waffenstillstandslinie von 1949.

Die Situation dürfte sich in nächster Zeit weiter zuspitzen. Denn die im Dezember 2022 in Israel gebildete Regierungskoalition, der neben dem Likud auch rechtsextreme und ultraorthodoxe Parteien angehören, verfolgt zwar mit Rücksicht auf die internationalen Partner Israels keine formelle Annexion des Westjordanlandes. Sie zielt aber auf dessen dauerhafte Kontrolle und eine jüdische Vorherrschaft im gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan ab. Sicherheitsargumente, die früher zur Rechtfertigung der Präsenz in den besetzten Gebieten herangezogen wurden, sind heute in den Hintergrund getreten. Der erste Satz der Regierungsleitlinien lautet: "Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – Galiläa, den Negev, den Golan sowie Judäa und Samaria [die biblischen Begriffe für das Westjordanland, Anm. d. Autorin] – fördern."

Noch ist nicht klar, ob die Regierungskoalition Bestand haben wird und ihr Programm umsetzen kann. Aber ihre Zielsetzung ist eindeutig: Mit der beabsichtigten Ausweitung des Zivilrechts für die Siedlerbevölkerung und die Siedlungen, etwa im Bereich der Raumplanung, sowie den Umstrukturierungen in den Ministerien werden entscheidende Schritte von einer temporären, militärischen Besatzung, die unter gewissen Bedingungen völkerrechtskonform sein kann, zu einer dauerhaften, zivilen und damit grundsätzlich völkerrechtswidrigen Besatzung unternommen. Hinzu kommt die Absicht, die Siedlungspolitik zu forcieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die sogenannten C-Gebiete, also die knapp 60 Prozent des Westjordanlandes, die nach wie vor unter direkter israelischer Verwaltung stehen. Durch massive Investitionen in den Ausbau von Infrastruktur und Siedlungen sowie durch die Legalisierung der bislang selbst nach israelischem Recht illegalen Siedlungsaußenposten, die häufig auf privatem palästinensischem Land errichtet wurden, sollen Fakten geschaffen werden.

Nicht zuletzt sehen sich Palästinenser*innen in Israel nach wie vor als Bürger*innen zweiter Klasse. Zwar gelten für sie heute nicht mehr die Einschränkungen der Grundrechte wie in den Anfangsjahren 1948 bis 1966, und vielen ist in den vergangenen Jahrzehnten ein beachtlicher sozialer Aufstieg gelungen. Dennoch leiden sie weiterhin unter Benachteiligung und Diskriminierung. Dazu gehört etwa die Schlechterstellung beim Landbesitz, der zum großen Teil durch jüdische Organisationen geregelt wird. Vor allem aber versteht sich Israel eben nicht als "Staat aller seiner Bürger*innen", sondern als "Nationalstaat des jüdischen Volkes", wie es ein 2018 verabschiedetes Grundgesetz festhält. Es schreibt die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Nationalität und die damit verbundene Ungleichbehandlung fest und sieht vor, dass das "Recht auf nationale Selbstbestimmung" ausschließlich für Jüdinnen und Juden gilt.

Während in der letzten Regierung unter Naftali Bennett und Yair Lapid, die von Juni 2021 bis Dezember 2022 bestand, zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine unabhängige palästinensische Partei – Ra’am, die Vereinigte Arabische Liste unter Mansur Abbas – Teil der Koalition war, stehen die Zeichen für das jüdisch-arabische Verhältnis in Israel nun auf Sturm. Einzelne Likud-Politiker drohen bereits mit einer neuen Nakba. Rechtsextreme Persönlichkeiten wie Bezalel Smotrich, Finanzminister und Minister im Verteidigungsministerium mit Zuständigkeit für die Zivilverwaltung in den palästinensischen Gebieten, befürworten einen "Transfer" (sprich: die Exilierung) von Palästinenser*innen. Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, mehrfach verurteilt wegen Volksverhetzung und Aufrufen zu Gewalt, hat unter anderem die bewaffneten Auseinandersetzungen in den gemischten Städten Israels im Mai 2021 mit angefacht.

Deutsche Mitverantwortung

Deutschland hat eine historische Verantwortung, die sich in erster Linie aus den deutschen Menschheitsverbrechen des Holocaust und den deutschen Angriffskriegen des 20. Jahrhunderts ergibt. Aufgrund der historischen Verkettung der beiden Katastrophen – der Shoah und der Nakba – und ihrer Wurzeln im modernen Antisemitismus und europäischen Imperialismus gibt es auch eine deutsche (und europäische) Mitverantwortung für die Vertreibung und Enteignung der Palästinenser*innen.

Mit dem Scheitern des 1993 in Oslo vereinbarten Ansatzes, eine Konfliktregelung auf Basis der Grenzen von 1967 und eine einvernehmliche Lösung der Flüchtlingsfrage auszuhandeln, ist auch der israelisch-palästinensische Gegensatz wieder in einen existenziellen Konflikt zurückgefallen. Diese Zuspitzung zwingt auch deutsche Politiker*innen zu überdenken, wie die historische Verantwortung Deutschlands mit einem zielführenden Beitrag zur friedlichen Konfliktbearbeitung in Nahost in Einklang gebracht werden kann, statt lediglich mantraartig das Ziel einer Zweistaatenregelung zu wiederholen.

Ein friedlicher Ausgleich kann nur gelingen, wenn die nationalen Ambitionen von jüdischen Israelis und Palästinenser*innen einbezogen, die geschichtlichen Erfahrungen und kollektiven Traumata beider Seiten anerkannt und vergangenes und gegenwärtiges Unrecht benannt werden. Das bedeutet ausdrücklich nicht, die beiden Katastrophen Shoah und Nakba gleichzusetzen oder das Leid einer Seite durch das der anderen zu relativieren. Es bedeutet aber, den Erfahrungen, Sichtweisen und Interessen beider Seiten Raum zu geben.

In Deutschland muss es dabei auch darum gehen, Diskursräume offenzuhalten, die – unter Einbeziehung der jüdisch-israelischen und palästinensischen Diaspora – einen konstruktiven Dialog ermöglichen. Ohne eine Verständigung über die Vergangenheit dürfte es kaum gelingen, Zukunftsvisionen zu entwickeln, die letztlich allen Bewohner*innen zwischen Mittelmeer und Jordan individuelle und kollektive Rechte und Sicherheit gewähren und den palästinensischen Flüchtlingen Würde und Zukunftsperspektiven bieten.

ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist der israelisch-palästinensische Konflikt. E-Mail Link: muriel.asseburg@swp-berlin.org