Von israelbezogenem Antisemitismus kann gesprochen werden, wenn Israel negativ dargestellt wird und diese Darstellung auf antisemitischen Einstellungen, Vorurteilen, Ressentiments und Weltanschauungen beruht. Entscheidendes Kriterium ist nicht die Radikalität der Abwertung, sondern die Antwort auf die Frage, ob Israel abgelehnt wird, weil es als jüdischer Staat antisemitisch verstanden wird. Hiervon zu unterscheiden sind begründete, aber auch falsche Kritiken an Israel, sofern sie sich von Antisemitismus fernhalten.
Das Erkennen von israelbezogenem Antisemitismus setzt daher zwingend einen allgemeinen Begriff von Antisemitismus voraus: Israelbezogener Antisemitismus ist die "Anwendung" der allgemeinen Muster des Antisemitismus auf das spezifische Thema "jüdischer Staat". Eine Bestimmung des israelbezogenen Antisemitismus muss deshalb sowohl diese allgemeinen Muster als auch deren spezifische Verwendung beim Thema Israel darlegen.
Israelbezogener Antisemitismus wird gegenwärtig fast ausschließlich zeitgeschichtlich erörtert und steht häufig im Mittelpunkt mitunter heftiger öffentlicher Auseinandersetzungen, die eher politisch als wissenschaftlich geprägt sind – etwa die Debatten um den Historiker und Theoretiker des Postkolonialismus Achille Mbembe, um die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions) oder die Documenta Fifteen 2022. Dementsprechend fehlt es häufig an historischer Tiefenschärfe und wissenschaftlicher Bedächtigkeit, ohne die die Sinnzusammenhänge von Selbst- und Judenbildern im israelbezogenen Antisemitismus nicht aufgehellt werden können. Im Folgenden werden wir dies in drei Hinsichten unternehmen und israelbezogenen Antisemitismus erstens vor der Staatsgründung Israels, zweitens im postnazistischen Kontext und drittens in linken und antirassistischen Sinnzusammenhängen betrachten.
(Anti-)Zionismus und Antisemitismus vor der Staatsgründung
Der israelbezogene Antisemitismus ist so alt wie der Zionismus selbst, er entstand bereits im späten 19. Jahrhundert. Unter Zionismus versteht man jüdischen Nationalismus, der einerseits dem europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts gleicht, von dem er wesentlich inspiriert wurde; andererseits unterscheidet er sich von diesem, da er sich in Reaktion auf den andauernden Antisemitismus in Europa entwickelte.
Von Beginn an war der Zionismus innerjüdisch sehr umstritten. Orthodoxe religiöse Strömungen wiesen unter anderem den säkularen und nationalen Charakter des Zionismus zurück. Die überwiegend assimilierten und bürgerlichen Jüdinnen und Juden in Westeuropa sahen im Zionismus eine Gefahr, da durch ihn auch von jüdischer Seite deren Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft infrage gestellt wurde. Von jüdisch-sozialistischer Seite wurde dem Zionismus vorgeworfen, er habe einen partikularistischen und "erzreaktionären Charakter",
Von Beginn an stellten sich jüdische "Antizionisten", von denen der österreichische Autor Karl Kraus bereits 1898 schrieb, gegen den jüdischen Nationalismus.
Zum einen wurde postuliert, dass die zionistische Seite nunmehr das zugebe, was der Antisemitismus schon immer behauptet hatte: Jüdinnen und Juden seien ein Fremdkörper, ein "Volk im Volke", das nicht assimiliert werden könne. Insoweit konnte der Zionismus begrüßt werden, da man die Vorstellung von einem eigenartigen jüdischen Volk teilen und dessen Auswanderung aus "unserem Volk" befürworten konnte. Denn die Antisemit*innen hatten schon lange vor der Entstehung des Zionismus aus ihrem Selbst- und Judenbild die Schlussfolgerung gezogen, dass die Vertreibung der Juden notwendig sei. So forderte etwa der preußische Justizbeamte Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer 1791 in seiner gegen die Emanzipation der Juden gerichteten Schrift "Ueber die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden": "Fort mit diesen Bastarden der Menschheit."
Zum anderen ist diese partielle Übereinstimmung zwischen Antisemitismus und Zionismus allerdings brüchig und letztlich oberflächlich, da der Antisemitismus bestreitet, dass das jüdische ein "normales Volk" sei. Jüdinnen und Juden wird gerade das abgesprochen, was im zeitgenössischen nationalistischen Selbstbild ein "Volk" dazu befähige, einen Nationalstaat aufzubauen. In den Worten des nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg: "Ein Versuch, eine wirklich organische Gemeinschaft jüdischer Bauern, Arbeiter, Handwerker, Techniker, Philosophen, Krieger und Staatsmänner zu bilden, widerspricht allen Instinkten der Gegenrasse und ist von vornherein zum Zusammenbruch verurteilt".
Diese in der Geschichte des Antisemitismus längst etablierten Muster prägten die Antwort auf die zionistische Forderung nach einem eigenen jüdischen Staat. Der Antisemitismus gegen Israel entstand als Deutung der zionistischen Bewegung im Geist des längst formierten Antisemitismus.
Der Rückblick auf Antisemitismus und (Anti-)Zionismus im 19. Jahrhundert begründet vier Schlussfolgerungen, die auch für die allzu gegenwartsfixierten und politischen Debatten Orientierung bieten: Erstens ergibt sich israelbezogener Antisemitismus systematisch aus den Grundmustern des modernen Antisemitismus. Zweitens können Israel und der Nahostkonflikt zwar Anlässe für Antisemitismus geben, erklären diesen aber nicht. Der israelbezogene Antisemitismus etablierte sich historisch deutlich vor der israelischen Staatsgründung. Mit der zionistischen Besiedlung und der Staatsgründung Israels entstand jedoch ein realer Konflikt, der sich zwar antisemitisch deuten, aber nicht auf Antisemitismus reduzieren lässt. Drittens gibt es von Beginn an partielle Übereinstimmungen und Kooperationen zwischen Zionist*innen und Antisemit*innen. Prozionistische und proisraelische Positionen sind keine Garantie, dass kein Antisemitismus vorliegt.
Postnazistischer Antisemitismus
Nach 1945 ändert sich die Konstellation, in der der Antisemitismus situiert ist: Jeder Antisemitismus steht nunmehr vor dem Problem, sich angesichts der nationalsozialistischen Judenvernichtung legitimieren zu müssen. Wie kann man nach der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden erneut behaupten, die Juden würden sich an "uns" vergehen?
Damit rückt der Holocaust ins Zentrum des postnazistischen Antisemitismus. Um die Juden erneut zu beschuldigen, muss der Mord an den Jüdinnen und Juden derealisiert, bagatellisiert, wegerklärt oder schlichtweg geleugnet werden, und gleichzeitig müssen sich Antisemit*innen als "Opfer von Juden" präsentieren. Die Täter-Opfer-Umkehr ist das zentrale Muster, das allem Antisemitismus nach Auschwitz international gemeinsam ist, denn durch sie kann die Fortsetzung des Antisemitismus trotz des Holocaust legitimiert werden.
Die Täter-Opfer-Umkehr soll den Holocaust relativieren, kann dies aber nur, indem sie ihn – wie falsch auch immer – thematisiert. Jedes Bemühen, die Tatsache des Holocaust zu relativieren, kleinzureden oder gänzlich abzustreiten, bestätigt dessen zentrale Bedeutung. Das hat in weiten Teilen des postnazistischen Antisemitismus dazu geführt, weniger die historischen Tatsachen zu bestreiten als deren Relevanz für "unsere" Gegenwart: Man erkennt mehr oder minder und möglichst abstrakt die damalige Tat an, sieht sich aber in keiner Weise (mit)verantwortlich dafür, sondern vielmehr als Opfer andauernder ungerechtfertigter Vorwürfe. Doch wem nützen diese? "Den Juden und ihren Gesellen", lautet die Antwort. Sie ließen die Vergangenheit nicht vergehen, weil ihnen der Holocaust den perfekten Deckmantel für "ihre Taten" zum Beispiel gegen die Palästinenser*innen liefere. Aber auch viele andere "jüdische Taten" können im Rückgriff auf klassische Motive des antisemitischen Repertoires ausgearbeitet werden – bis hin zu Behauptungen, eine "Corona-Diktatur" oder der Plan eines "großen Austauschs" seien jüdisch gelenkt.
Derlei Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses gelingt am besten, wenn sie Distanz zur nationalsozialistischen Sprache hält. Vor diesem Hintergrund ist unmittelbar evident, dass sich der postnazistische Antisemitismus besonders gut als Antisemitismus gegen Israel formulieren lässt. Statt von "Juden" oder "der jüdischen Rasse" wird dann von "Zionisten" und "Israel" gesprochen.
Perfekt ist die Täter-Opfer-Umkehr, wenn sie die oberflächliche Anerkennung des Holocaust und die Distanzierung vom Nationalsozialismus dadurch bekräftigt, dass sich nun die Juden wie Nazis verhielten. Die Täter von heute seien wie die Nazis von damals, weshalb "wir uns" heute, gegen die "jüdischen Nazis" wehren müssten. Ganz so offen wird dies in der Regel nicht formuliert, aber wenn man "Jude" durch "Israel" ersetzt, scheint es zu gelingen. So titelte die rechtsextreme "National-Zeitung" anlässlich des Junikriegs 1967: "Israels Auschwitz in der Wüste", "Der Massenmord an den Arabern", "Dayan auf Hitlers Spuren".
Dieses Muster ist als antisemitische Deutung des realen Konfliktes zwischen Israel und den Palästinenser*innen gerade auch für Letztere attraktiv. Denn es bestreitet die Legitimation des Zionismus als Befreiungsnationalismus und Israels als Staat der Überlebenden. So behauptet etwa die Hamas, die Juden hätten den Zweiten Weltkrieg verursacht, mit dem sie sich nicht nur bereichert, sondern auch "die Etablierung ihres Staates vorbereitet" hätten.
Der reale Konflikt um Staatlichkeit, um Land und Wasser beschneidet die Lebenschancen der Palästinenser*innen massiv, was allerdings keineswegs allein Israel, sondern auch den Nachbarstaaten und palästinensischen Organisationen geschuldet ist. Er begründet gerechtfertigte und parteiische, harte und überbordende, aber nicht durch Antisemitismus motivierte Kritik an Israel. Aber wie jeder harte Konflikt tendiert auch dieser zur Verteufelung des Gegners, was im Falle Israels antisemitische Muster anschlussfähig macht. Zugleich bietet der reale Konflikt Argumente gegen Israel, die der postnazistische Antisemitismus zu scheinbar rationalen Belegen eines "jüdischen Täters" verdrehen kann. Diese Sachlage bildet die Basis der umstrittenen Frage, wo genau denn der Grat zwischen legitimer Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus verläuft.
Die zentrale Bedeutung jedoch, die der Antisemitismus gegen Israel seit wenigen Jahrzehnten in der westlichen Welt einnimmt, liegt in dem elementaren Legitimationsproblem des postnazistischen Antisemitismus begründet. Israel anstelle von "den Juden" in den Mittelpunkt zu rücken, ist besonders geeignet, Antisemitismus nach Auschwitz fortzusetzen und diesen dabei nicht-nazistisch oder gar oberflächlich antinazistisch zu formulieren. Dies ist besonders für Selbstbilder geeignet, die den Holocaust nicht leugnen und die sich vom Nationalsozialismus fernhalten wollen, denen dies aber nur gelingt, indem sie die gegenwärtige Präsenz der postnazistischen Erinnerung den Juden beziehungsweise Israel zur Last legen. Deshalb ist der Antisemitismus gegen Israel gerade auch ein Antisemitismus der Mitte, ein Antisemitismus für Menschen, die sich frei von Antisemitismus glauben.
Linke und antirassistische Zusammenhänge
Viele Antisemitismus-Debatten der zurückliegenden 20 Jahre drehten sich um die Frage des israelbezogenen Antisemitismus von linker, antirassistischer oder antikolonialer Seite. In diesem Streit dominieren meist verhärtete Positionen, die jeweils eine Seite des Doppelcharakters des Zionismus verabsolutieren: Während die einen den Antisemitismusvorwurf manchmal vorschnell und pauschal handhaben und menschenrechtlich-antirassistische Argumentationen als bloße Tarnung eines weltweit anwachsenden Antisemitismus gegen den Staat der Holocaustüberlebenden sehen, wehren die derart Kritisierten dies so reflexhaft wie pauschal als Vorwürfe prozionistischer und rassistischer Kräfte ab, die jegliche Kritik an Israel unterdrücken wollten.
Die Vehemenz, mit der die Debatte geführt wird, liegt darin begründet, dass zahlreiche "große Themen" angeschlagen werden – der Holocaust und die jahrhundertelange Geschichte des Judenhasses in Europa, Kolonialismus und Antikolonialismus, menschenrechtlicher Universalismus, unterschiedliche Nationalismen und Religionen wie auch die Kritiken daran. Diese Themen sind für politische, religiöse sowie auch nationale Selbstbilder fundamental. In den derzeitigen Debatten werden von der einen Seite vehement linke antirassistische Selbstbilder verteidigt, auf der anderen wird behauptet, der als Antirassismus daherkommende Antisemitismus von links sei der gefährlichste.
Auch hier mag ein Blick in die Geschichte helfen, die Analyse zu schärfen. Ein postnazistischer Antisemitismus von links zeigte sich bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zur Absicherung ihres gerade bedeutend erweiterten Machtbereichs im anbrechenden Kalten Krieg behauptete die sowjetische Propaganda eine internationale Verschwörung der "Finanzkapitalisten" gegen die "friedliebenden Völker" mit der Sowjetunion an der Spitze. Der "Weltimperialismus" bedrohe das "Friedenslager" von außen durch Krieg und Atombomben, im Innern jener "Volksdemokratien" versuchten getarnte Agenten, den Sozialismus zu sabotieren und die "Nation" und ihre "Kultur" durch "kosmopolitische" Ideen zu "zersetzen". Als diese gefährlichen inneren Feinde wurden zunehmend "Zionisten" ausgemacht und verfolgt. Höhepunkte waren Ende 1952 der offen antisemitische Slánský-Schauprozess in Prag und die Erfindung einer antisowjetischen Verschwörung jüdischer Ärzte im Kreml. Das gerade erst gegründete Israel wurde als Bestandteil des "US-imperialistisch-zionistischen Komplotts" in das Weltbild integriert.
Dieser spätstalinistische "Antizionismus" war der erste exemplarisch ausformulierte postnazistische Antisemitismus in einem linken, marxistisch-leninistischen Gewand. So war camouflierend meist nicht von "Juden" oder "Judentum", sondern von "Zionisten" oder "Zionismus" die Rede, um sich vom Vokabular des nationalsozialistischen Antisemitismus abzusetzen. Die angeklagten "Zionisten" wurden beschuldigt, zuerst Kollaborateure von Hitler-Deutschland und danach des "faschistischen US-Imperialismus" gewesen zu sein: Jüdinnen und Juden wurden mit Faschismus verbunden – auch die für den postnazistischen Antisemitismus zentrale Täter-Opfer-Umkehr wurde hier bereits exemplarisch vorgenommen und so die Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch Antifaschismus legitimiert.
Die antisemitische Verschwörungspropaganda und Repression endeten mit Stalins Tod 1953. Doch im Nahostkonflikt stellte sich Moskau angesichts der Westorientierung Israels aus machtpolitischem Kalkül auf die arabische Seite und konnte dies als "Antiimperialismus" ideologisch begründen. Spätestens ab dem Junikrieg 1967 bediente sich diese gegen Israel gerichtete "antizionistische" Propaganda in den "Volksdemokratien" regelmäßig antisemitischer Muster.
Aber auch die ideologisch disparaten, meist eher moskaufernen Gruppen der westlichen Neuen Linken ab Ende der 1960er Jahre nahmen nahezu alle eine "antizionistische" Haltung ein.
Ein anschauliches aktuelles Beispiel dafür ist das Wimmelbild der linken indonesischen Aktivisten- und Künstlergruppe Taring Padi auf der Documenta Fifteen in Kassel 2022. Es ist eine Anklage der Suharto-Diktatur und deren mit westlicher Unterstützung ausgeübten Ausbeutung, Repression und Massenmorde. Insoweit ist die Gut-Böse-Dichotomie, die das gesamte Bild inklusive idealisierter Zeichnung eines "guten kämpfenden Volkes" strukturiert, nachvollziehbar. Auf der Seite des Bösen ist jedoch auch eine eindeutig antisemitische Darstellung eingefügt: ein "jüdischer Kapitalist" mit Schläfenlocken und Zigarre, auf dessen Hut in typisch postnazistischer Täter-Opfer-Umkehr das SS-Zeichen abgebildet ist.
In den vergangenen 30 Jahren hat solcher Antiimperialismus in der Linken zwar gegenüber Antirassismus und Antikolonialismus stark an Bedeutung verloren, doch auch bei diesen stoßen Israel und Zionismus als "weißer Siedlungskolonialismus" und rassistisches "Apartheidsregime" auf vehemente Ablehnung, während die Israelboykottbewegung BDS breite Unterstützung findet.
BDS aber ist zu relevanten Teilen von Antisemitismus durchzogen.
Wie ist es zu erklären, dass die kompromisslos palästinensisch-nationalistische und zu relevanten Teilen antisemitische BDS-Bewegung seitens Antirassismus und Postkolonialismus im universitären und kulturellen Bereich Sympathie und Unterstützung findet, darunter nicht wenige sich als links definierende jüdische Menschen? Warum wird weithin ignoriert, dass viele beteiligte Organisationen und Personen islamistische, autoritäre, antifeministische, homophobe und antiuniversalistische Positionen und einen ethnischen Nationalismus vertreten? Liegt das dominant an einem genuin "linken Antisemitismus" oder spielen auch andere Voraussetzungen und Dynamiken eine Rolle?
Im Zentrum von theoretischer Analyse wie politischer Intervention von postkolonialer und antirassistischer Seite stehen die seit der europäischen Expansion in der Frühen Neuzeit durchgesetzten und bis heute fortbestehenden Dominanzverhältnisse gegenüber den eroberten Ländern und deren Menschen. Damit konstitutiv verknüpft ist die Kritik der rassistischen Konstruktion des "Anderen" als notwendiges Gegenbild für das europäische respektive westliche Selbstbild als aufgeklärt und überlegen. Die millionenfache Versklavung und die kolonialen Gewalttaten und Genozide werden als zentrale Verbrechen angeklagt und zunehmend in das Bewusstsein westlicher Gesellschaften gerückt, in deren Erinnerungskultur diese Verbrechen lange Zeit kaum eine Rolle spielten.
Doch so politisch berechtigt wie wissenschaftlich innovativ Postkolonialismus und Antirassismus auch sind: Der Antisemitismus ist mit den Mitteln der Rassismusanalyse nicht adäquat zu fassen. Antisemitismus wird meist als Unterform unter einen allgemeinen Begriff des Rassismus subsumiert. Zentrale Momente – die Konstruktion einer verschwörungstheoretischen Welterklärung mit den Juden als personalisierte Moderne, die Juden als Anti-Volk, die postnazistische Täter-Opfer-Umkehr – können infolge der Konzentration auf Kolonialismus, Ausbeutung und strukturellen Rassismus nur ungenügend erfasst werden. Stattdessen wird Antisemitismus eher als ein historisches Phänomen begriffen, das gegenüber dem gegenwärtigen, alltäglich praktizierten Rassismus als sekundär oder vernachlässigbar erscheint. Die lange diskriminierte jüdische Minderheit unterliege nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch rassistischer Diskriminierung, sei vielmehr "weiß" und Teil der Dominanzgesellschaft geworden. Nicht selten ist damit der Vorwurf verknüpft, der Holocaust sei in der westlichen Erinnerungskultur als Verbrechen von "Weißen an Weißen" überrepräsentiert und verdecke die europäischen Verbrechen an Schwarzen beziehungsweise Nicht-Weißen. Diese einseitige Betonung des Holocaust zeige sich nicht zuletzt darin, dass der Kolonialismus und Rassismus Israels nicht kritisiert werden dürfe. Der junge, 1948 zu Beginn der Hochphase des weltweiten Dekolonisierungsprozesses gegründete jüdische Staat erscheint allein als Projekt des europäischen Kolonialismus.
Es bleibt kompliziert
So strikt die Urteile in Antisemitismusdebatten mitunter formuliert werden, so wenig adäquat sind sie in der gegenwärtigen höchst widersprüchlichen und ambivalenten Lage. Es gibt zweifelsohne Antisemitismus von links und Antirassismus, der zu antisemitischen Deutungsmustern verleitet, es finden aber auch Instrumentalisierungen des Antisemitismusvorwurfs statt – sei es von proisraelischer Seite oder etwa durch die AfD, die damit die Linke wie die muslimisch-migrantische Bevölkerung denunzieren und ihren Rassismus durch vermeintlichen Anti-Antisemitismus verschleiern will. Aber auch ein politisch instrumentalisierter Antisemitismusvorwurf wiederum kann gleichwohl inhaltlich berechtigt sein.
Antisemitismus wie Antisemitismus gegen Israel werden ein dauerhaftes wie gefährliches Problem bleiben, während die Perspektiven für eine friedliche Bearbeitung des Palästinakonflikts immer eingeschränkter scheinen. Umso mehr bräuchte es eine wissenschaftliche wie politische Diskussion über israelbezogenen Antisemitismus, die sich dichotomer Vereindeutigung und identifikatorischer Parteinahme verweigert. Was häufig fehlt, sind Selbstreflexion und das Benennen und Aushalten von Unsicherheiten, Ambivalenzen und Widersprüchen, die sich im israelisch-palästinensischen Konflikt wie zwischen Antisemitismus- und Rassismuskritik auftun.