"Wir hören nicht auf, bis eine Verfassung verabschiedet wurde!" Diese Parole, die in den vergangenen Wochen auf den Protestkundgebungen gegen den Justizputsch der Regierung laut gerufen wurde, war zu Beginn der Demonstrationen im Januar 2023 zunächst nicht zu vernehmen. Tatsächlich spielte die Forderung nach einer Verfassung seit Jahren überhaupt keine Rolle im öffentlichen Diskurs in Israel. Plötzlich jedoch wurde die Idee wiederbelebt.
Kurz nachdem Premierminister Benjamin Netanjahu eine "Pause" des Gesetzgebungsprozesses um die Justizreform angekündigt hatte, äußerte Jair Lapid, der Anführer der Opposition in der Knesset, dass sämtliche Verhandlungen über einen Kompromiss mit der regierenden Koalition Diskussionen über einen Verfassungsentwurf einbeziehen müssen. Dieses Anliegen wiederholte er am selben Tag bei einer Demonstration außerhalb der Knesset.
Drei Wochen zuvor hatte Shikma Bressler, eine der Anführerinnen der Protestbewegung, ebenfalls eine Verfassung gefordert,
Israelis haben damit begonnen, das Hashtag #Constitution_Now in den sozialen Medien zu verwenden; ein besorgter Bürger hat die öffentliche Stimmungslage folgendermaßen zusammengefasst: "Ohne eine Verfassung wird Israel untergehen."
Sogar das Kohelet Policy Forum – ein rechter Think-Tank, der als eine der treibenden Kräfte hinter den Justizplänen der Regierung gilt – hat einen eigenen Kompromissvorschlag zur Lösung der (teils selbst verantworteten) Krise vorgebracht: "Unsere Hoffnung ist, dass die Reform die Annahme einer vereinbarten Verfassung für den Staat Israel ermöglichen wird, die auch Grundrechte enthalten würde."
Zusammengefasst markieren diese Entwicklungen eine wichtige Veränderung für die Protestbewegung. Die Justizkrise hat hunderttausende Menschen auf die Straße gebracht und sie gezwungen, in den Abgrund zu blicken; jetzt fangen sie möglicherweise an zu begreifen, dass nur eine Verfassung sie davor bewahren kann, hinabzufallen. Israelis erkennen nun endlich, dass eine Verfassung fundamental für eine Demokratie ist und dass ein Staat ohne diese ständig am Rand des Untergangs stehen wird.
Auch ich glaube an die Notwendigkeit einer Verfassung. Und doch müssen wir im Kopf behalten, dass diese wiederholte Forderung nicht die erste ihrer Art ist. Im Verlauf der israelischen Geschichte, sogar vor der Unabhängigkeit, gab es mehrere energische Versuche, eine Verfassung auszuarbeiten, und jede einzelne war zum Scheitern verurteilt. Es mag viele Gründe dafür geben, aber einer ragt besonders hervor: der Widerstand gegen die Verankerung des Gleichheitsgrundsatzes in einem Grundgesetz des israelischen Staates.
Bürger oder Untertan?
Das Fehlen von Gleichheit liegt jedem Verfassungsproblem in Israel zugrunde. Bis in die Gegenwart gibt es weder ein formales Recht auf Gleichheit für individuelle Bürger, noch gibt es kollektive Gleichheit. Eine Folge daraus ist, dass beispielsweise die Charedim, also die ultraorthodoxen Juden, das Privileg haben, von gesellschaftlichen Pflichten wie dem Militärdienst ausgenommen zu sein, während palästinensische Bürger von Israels Gesellschaftsvertrag und weiten Teilen des politischen und wirtschaftlichen Lebens ausgeschlossen sind. Das Fehlen von Gleichheit beeinflusst auch die Gewaltenteilung, da der gewählte Teil, die Knesset, immer stärker ist als die anderen Kräfte. Der Mythos, dass der Oberste Gerichtshof unkontrolliert regieren würde, hält einem Realitätstest nicht stand.
Israels Ablehnung gegenüber einer Verankerung von Gleichheit im Gesetz ist eng mit dem Scheitern eines Verfassungsentwurfes verbunden, vor allem in den frühen Tagen des Staates. Zwischen 1948 und 1949 vertrat Premierminister David Ben-Gurion beispielsweise die Ansicht, dass eine Verfassung noch nicht verabschiedet werden solle, damit die Generationen von Diaspora-Juden, die künftig nach Israel einwandern würden, nicht von der Gestaltung des Landes ausgeschlossen würden.
Auf diese Weise gewährte Ben-Gurion den Bürgern, von denen einige noch nicht einmal geboren waren, einen höheren Status auf Kosten jener Bürger, die bereits in Israel lebten. Der Premierminister lehnte eine Verfassung auch aus dem Grund ab, dass diese den Handlungsrahmen von Abgeordneten und der Regierung einschränken würde. Seiner Ansicht nach mussten alle Gesetze des Staates gleichwertig sein,
Tatsächlich hatte Ben-Gurion kein Interesse an Gleichheit, sondern versuchte vielmehr, die überlegene Macht des Parlaments zu erhalten. In diesem Zusammenhang spielte er einer unerwarteten Gruppe in die Hände: den Charedim. Von ihrem ersten Erscheinen an lehnten die ultraorthodoxen politischen Parteien, die damals wie heute eine Minderheit in der Knesset sind, eine Verfassung ab, sei es aus dem Wunsch, die unproportionale Macht in Israels Koalitionssystem zu erhalten, oder der Bevölkerung ihre bevorzugte Auslegung von Familienrecht, jüdischen Speisegesetzen (Kashrut) oder der Einhaltung des Schabbat vorzuschreiben – neben anderen Dingen, die nunmehr als Status quo gelten.
Dennoch wurde ein ausgearbeiteter Verfassungsentwurf, der als Grundlage für politischen Diskurs dienen sollte, an den Provisorischen Volksrat übersendet, der proto-legislativen Körperschaft, die eine Schlüsselrolle bei der Staatsgründung gespielt hat. Das Dokument wurde in Vorbereitung von Israels Unabhängigkeitserklärung erstellt, denn der UN-Teilungsplan von 1947, der eine Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorsah, verpflichtete beide Konfliktparteien zur Annahme einer umfassenden demokratischen Verfassung als Voraussetzung für Staatlichkeit.
Der Verfassungsentwurf wurde von Yehudah (Leo) Pinchas Cohen aufgesetzt, und er enthielt jedes Recht, das ein israelischer Bürger wollen könnte. Doch zum Zeitpunkt der Ersten Knesset musste Israel noch definieren, wer überhaupt ein Bürger ist und was eine Bürgerschaft ausmacht. Dies geschah schließlich 1952 – vier Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg.
Ohne formale Bürgerschaft und ohne eine Verfassung, welche die Bürgerrechte ausbuchstabiert, war es deutlich einfacher für die Regierung, die Palästinenser zu kontrollieren, die unter Entzug von Bürger- und Menschenrechten innerhalb ihrer Grenzen unter brutalem Kriegsrecht verblieben.
Nur ein Teilerfolg
Nach der sogenannten Harari Resolution 1950, in der die Knesset den Anspruch, eine vollständige Verfassung auszuarbeiten, zugunsten einer partiellen Verabschiedung von quasi-konstitutionellen "Grundgesetzen" (basic laws) aufgegeben hatte, versuchten einige Politiker, Gleichheit in den Gesetzgebungsprozess einzubringen.
In seinem exzellenten Buch "The Birth of the Revolution" erklärt Uriel Lynn, Likud-Anhänger und ehemaliges Mitglied der Knesset (MK), wie Yitzhak Hans Klinghoffer, damals MK in der jetzt nicht mehr existierenden Liberalen Partei, in den 1960er Jahren eine vollständige Grundrechtecharta forderte und die Regierung, damals unter Ben-Gurions Mapai-Partei, diese bereits im frühen Gesetzgebungsprozesses blockierte.
Nach gewissen Fortschritten bei den Versuchen, Grundrechte in den späten 1980er Jahren festzuschreiben, waren die politischen Vorzeichen mit den anbrechenden 1990er Jahren reif für die Verabschiedung der zwei bekanntesten Israelischen Grundgesetze – "Menschenwürde und Freiheit" und "Freiheit der Berufswahl".
Diese in den Gesetzgebungsprozess einzubringen, war nicht einfach. Angesichts einer hartnäckigen Opposition waren die Gesetzgeber gezwungen, ein breites, auf Menschenrechte zielendes Grundgesetz auf vier Gesetze aufzuteilen, von denen zwei nie umgesetzt wurden. Lynn, damals Vorsitzender des Komitees für Verfassung, Gesetz und Justiz der Knesset, und Amnon Rubinstein, damals MK der Mitte-Partei Schinui, waren für die Ausarbeitung jener Gesetze zuständig und haben dabei an die Bemühungen des damaligen Justizministers Dan Meridor angeschlossen.
In einem Artikel von 2012 beschrieb Rubinstein die sture Zurückweisung des Gleichheitsprinzips durch die religiösen Parteien.
Die MKs, die diese Gesetze einbrachten, erkannten, dass sie einen Teilsieg erringen würden, aber nur, wenn sie den Grundsatz der Gleichheit aufgeben würden. Dieser schmerzhafte Kompromiss, unter vielen anderen, führte dazu, dass nur zwei der vier quasi-konstitutionellen Verankerungen angenommen werden konnten. Das Ergebnis war, dass das Grundgesetz zur Menschenwürde unvollständig geblieben ist und der wichtigste Grundsatz fehlt: Gleichheit unter allen Bürgern.
Körper ohne Herz
Dieser überblicksartige Abriss der Geschichte umfasst natürlich nicht das gesamte Bild. Trotz des eklatanten Fehlens von Gleichheit in seinen Grundgesetzen hat Israel dennoch den Wert der Gleichheit in einer anderen Form gefördert: Punkt für Punkt und Artikel für Artikel. Zum Beispiel hat die Knesset 1951 ein Gesetz angenommen, das die Geschlechtergleichheit regelt; ein weiteres Gesetz, das von 1964 an galt, bis es 1996 ersetzt wurde, fordert dieselbe Bezahlung von Männern und Frauen; und schließlich wurde 2000 ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet – eines der Gesetze, das die gegenwärtige Regierung infrage stellen will.
Die Frage der Gleichheit fand auch Eingang in das Gesetz über die Menschenwürde und die Freiheit, indem 1994 eine Ergänzung vorgenommen wurde, die festschreibt, dass das Gesetz den "Geist der Grundsätze der Unabhängigkeitserklärung" tragen solle. Verschiedene Urteile des Obersten Gerichtshofs – wie der Fall Ka’adan aus dem Jahr 2000, in dem entschieden wurde, dass die Politik der ausschließlichen Verpachtung von Land an Juden zumindest auf individueller Basis eine Form der verbotenen Diskriminierung darstellt – bekräftigten den Wert der Gleichheit.
Dieser Fortschritt wurde jedoch im vergangenen Jahrzehnt durch die Regierung Netanjahus und seiner rechtspopulistischen Koalitionen zum Erliegen gebracht. Den Höhepunkt seiner Bemühungen war das Inkrafttreten des "Nationalstaats(grund)gesetzes" im Juli 2018, eines der diskriminierendsten Gesetze in der Geschichte des Staates. Ironischerweise regte die Verabschiedung des Gesetzes eine Diskussion über den Stellenwert von Gleichheit an: Eine Umfrage des Peace Index, einer Kooperation der Universität von Tel Aviv und des Israel Democracy Institute, hat ergeben, dass 64 Prozent der Israelis der Meinung waren, dass das Nationalstaatsgesetz eine Verpflichtung zur vollständigen Gleichstellung aller Bürger hätte enthalten sollen.
Nun, angesichts des plötzlichen Wiederaufkommens der Debatte um eine Verfassung und angesichts der Protestierenden, die nach Gleichheit rufen, darf dieser Grundsatz nicht länger zur Disposition stehen oder als Druckmittel in politischen Verhandlungen verwendet werden. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Verfassungsfragen muss nun ein für alle Mal festlegen, dass eine Verfassung ohne Gleichheit wie ein Körper ohne Herz ist – oder ein Herz von einer Kugel durchbohrt. Lassen wir die Metaphern beiseite: Eine Verfassung, die nicht über anderen Gesetzen steht, ist kaum eine Verfassung, und eine Demokratie ohne Gleichheit als Grundwert ist keine Demokratie.
Aus dem Englischen von Jacob Hirsch, Bonn
Dieser Artikel erschien zuerst auf Local Call (Hebräisch) und im +972 Magazine (Englisch).