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Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Israel | Israel | bpb.de

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Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Israel Ein Blick in Israels Verfassungsgeschichte

Suzie Navot

/ 18 Minuten zu lesen

Die Ende 2022 angetretene Regierung plant mit einer "Justizreform" unter anderem, die Macht des Obersten Gerichtshofes zu schwächen, und bedroht damit die Demokratie in Israel.

In Israel gibt es keine offizielle, schriftlich niedergelegte Verfassung, sondern eine Reihe einzelner Grundgesetze (basic laws), denen der Oberste Gerichtshof einen verfassungsrechtlichen Status zuerkannt hat.

Bei der Staatsgründung 1948 wurde in der Unabhängigkeitserklärung festgelegt, "die Einrichtung der gewählten, regulären staatlichen Organe" solle in Übereinstimmung mit der Verfassung erfolgen, "die von der Verfassungsgebenden Versammlung verabschiedet wird". Die Verfassungsgebende Versammlung wurde im Januar 1949 als konstituierende und legislative Körperschaft gewählt, was bedeutet, dass sie sowohl die Verfassung ausarbeiten als auch Gesetze verabschieden konnte. Unmittelbar nach ihrer Einsetzung erließ die Versammlung das Übergangsgesetz von 1949, das Folgendes vorsah: "Die Legislative des Staates Israel wird die Knesset sein. Die Verfassungsgebende Versammlung wird als Erste Knesset bezeichnet."

Auf den ersten Blick könnte man also meinen, die Verfassungsgebende Versammlung hätte sich einfach nur einen anderen Namen gegeben, doch diese Umbenennung war politisch motiviert. Damit sollte das Thema einer verfassungsgebenden Körperschaft endgültig begraben werden, womöglich wollte man sogar das Konzept einer schriftlich niedergelegten Verfassung an sich aufgeben, das der damalige Ministerpräsident David Ben-Gurion ablehnte. Die "Erste Knesset" führte zwar ausführliche Debatten über die künftige Verfassung, doch da man sich über die Notwendigkeit einer Verfassung, ihren Inhalt und ihre Form nicht einig war, gerieten die Beratungen schon bald in eine Sackgasse. Vor ihrer Auflösung billigte die Erste Knesset einen "Kompromiss", demzufolge Israel eine Verfassung "in Etappen" einführen würde: Die Verfassung sollte aus "Kapiteln" bestehen, die nach und nach erlassen wurden und jeweils ein einzelnes "Grundgesetz" umfassten.

Prinzip der Souveränität des Parlaments und Grundrechtskatalog

Das Fehlen einer Verfassung und die Tatsache, dass das israelische Rechtssystem auf dem britischen System basiert, führten zum Grundsatz der "Oberhoheit der Knesset". Bemühungen, der Unabhängigkeitserklärung – die eine Reihe von Grundrechten wie die Freiheit der Religionsausübung und die gesellschaftliche und politische Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger festschrieb – einen verfassungsrechtlichen Status zu verleihen, scheiterten. In den Jahren nach der Staatsgründung beschloss die Knesset eine Reihe von Grundgesetzen, die sich mit den Grundrechten der Bevölkerung befassten. So wurde beispielsweise im Gesetz über die Gleichberechtigung der Frau von 1951 festgelegt, dass "für Männer und Frauen die gleichen Gesetze und Rechtshandlungen gelten". Später wurden das Gesetz gegen Diffamierung, das Gesetz zum Schutz der Privatsphäre und 1988 das Gesetz für Chancengleichheit am Arbeitsplatz erlassen, das die Diskriminierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Familienstands, ihrer Herkunft, Religion, Nationalität und so weiter verbietet.

Allerdings hat Israel trotz zahlreicher politischer Vorstöße im Laufe der Jahre nie einen Grundrechtskatalog verabschiedet. Auch heute noch scheint die Fertigstellung in weiter Ferne zu liegen. Da die Grundrechte in keiner Verfassung verankert sind, besteht die Möglichkeit, dass sich die Knesset ohne gesetzliche Einschränkungen darüber hinwegsetzt. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass die Knesset die Grundrechte von Anfang an respektiert und ihre eigenen Befugnisse in Bezug auf diese Rechte eingeschränkt hat. Bisher wurden nur sehr wenige Gesetze verabschiedet, die ausdrücklich gegen die Grundrechte verstoßen, und die Knesset hat ihre souveräne Macht selten missbraucht – die Betonung liegt auf bisher. Gesetze, die von den Grundrechten abweichen, sind erst in den vergangenen Jahren auf der Tagesordnung der Knesset aufgetaucht.

Der erhebliche Beitrag des Obersten Gerichtshofs zum Schutz der liberalen Demokratie und der Grundrechte ist ein herausragendes und in gewisser Weise einzigartiges Merkmal des israelischen Verfassungsrechts. Das Oberste Gericht hat sich den Schutz der Grundrechte zur Aufgabe gemacht und eine Art "Bill of Judicial Rights" geschaffen: eine Reihe von Grundrechten, die durch die Urteile des Obersten Gerichts anerkannt und geschützt wurden – Gewohnheitsrechte, die nur in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorkommen und nur aufgrund des Prinzips der "ständigen Rechtsprechung" (stare decisis) zu verbindlichen Rechtsnormen wurden. Die Grundrechte wurden vom Gerichtshof geschützt, obwohl es keine normative, verfassungsrechtliche oder gesetzliche Grundlage dafür gab. Der Schutz dieser Rechte ging aus den Entscheidungen des Obersten Gerichts hervor, das sollte man stets im Hinterkopf behalten.

So entschied der Oberste Gerichtshof etwa in den Anfangszeiten des neuen Staates, dass die Exekutive die Grundrechte nicht beschneiden darf, es sei denn, sie kann sich dabei auf ein Gesetz stützen, dass ihr dies ausdrücklich erlaubt. Mit dieser scheinbar einfachen Auslegung – "kein individuelles Recht darf ohne die ausdrückliche Zustimmung des obersten Gesetzgebers beeinträchtigt werden" – schränkte der Oberste Gerichtshof in seinen Urteilen die Befugnisse der Regierung und der öffentlichen Verwaltung ein und legte fest, dass Grundrechte nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Gesetzgebers in Form eines Gesetzes missachtet werden dürfen.

Seit seinen Anfängen hat sich der Oberste Gerichtshof mit fast allen grundlegenden Rechten befasst, unter anderem auch mit politischen Rechten wie dem aktiven und passiven Wahlrecht. Wenn die Knesset jedoch beschloss, die politischen Rechte ausdrücklich einzuschränken, konnten die von ihr erlassenen Gesetze aufgrund des Souveränitätsprinzips des Parlaments nicht außer Kraft gesetzt werden. Dennoch wurde der Oberste Gerichtshof aktiv und schränkte das Ausmaß des rechtlichen Schadens ein, indem er die Änderung des Grundgesetzes "Knesset" minimalistisch auslegte. Mit seiner Interpretation wurde etwa der Ausschluss politischer Parteien auf Grundlage ihrer Ansichten und Programme erlaubt.

Die gerichtliche Ausarbeitung der Grundrechte leistete einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des israelischen Verfassungsrechts. Trotz der zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen der junge Staat konfrontiert war – darunter Kriege, Terroranschläge und andere Gefahren für die öffentliche Sicherheit, die Aufnahme immer neuer Einwanderer, wirtschaftliche Umwälzungen und soziale Spannungen –, war eine Infrastruktur für einen soliden Schutz der Grundrechte geschaffen worden. In Ermangelung eines in einer Verfassung festgelegten Grundrechtskatalogs blieb es dem Obersten Gerichtshof überlassen, die Grundrechte anzuerkennen, die fester Bestandteil jeder modernen Demokratie weltweit sind. Diese Anerkennung hatte allerdings auch Grenzen. So stellte der Oberste Gerichtshof etwa in der Rechtssache Rogozinsky fest: "Das staatliche Gesetz, das alle Eheangelegenheiten der jüdischen Bürger und Einwohner Israels den Rabbinatsgerichten zuweist und vorschreibt, dass Eheschließungen und Scheidungen gemäß der Thora durchgeführt werden müssen, hat Vorrang vor der Glaubens- und Gewissensfreiheit." Doch in Ermangelung klarer, unmissverständlicher und ausdrücklicher Gesetze waren es die Auslegungen des Gerichts, die für eine angemessene Regelung im Sinne der Grundrechte sorgten.

Der rechtliche Status der Grundrechte änderte sich 1992 dramatisch mit der Einführung von zwei Grundgesetzen, die sich mit den Grundrechten befassen und die Möglichkeiten der Knesset begrenzen, diese einzuschränken.

Verfassungsrechtliche Revolution in den 1990er Jahren

In der Zeit von der Staatsgründung bis in die frühen 1990er Jahre verabschiedete die Knesset fast alle Grundgesetze, die sich mit staatlichen Institutionen wie dem Parlament, der Regierung, der Justiz, dem Präsidenten, der Armee und dem Staatskontrolleur (Ombudsmann) befassen. Was jedoch noch fehlte, war das Grundgesetz zur Gesetzgebung, das Gesetzgebungsverfahren für reguläre Gesetze und Grundgesetze regeln und die Befugnis des Obersten Gerichtshofs zur gerichtlichen Überprüfung von Gesetzen definieren sollte. Auch das Kapitel über die Grundrechte fehlte, da der Vorschlag, ein Grundgesetz über die Grundrechte zu verabschieden, in der Knesset höchst umstritten war. Also suchte man einen weiteren politischen Kompromiss und teilte das Kapitel über die Grundrechte, das ursprünglich als einzelnes, umfassendes Grundgesetz zu den Grundrechten geplant war, in eine Reihe separater Grundgesetze auf. Auf diese Weise konnte sich die Knesset auf die verfassungsmäßige Verankerung bestimmter, einvernehmlich vereinbarter Grundrechte einigen und diese unterstützen, während die Diskussion über die Rechte, die als "problematisch" betrachtet wurden, etwa Gleichheit, Religions-, Rede- und Gewissensfreiheit, aufgeschoben wurde. Nach diesem erneuten "Kompromiss" wurden 1992 zwei Grundgesetze zu den Grundrechten erlassen: Das Grundgesetz "Menschenwürde und Freiheit" und das Grundgesetz "Freiheit der Berufsausübung". Beide enthalten eine "Einschränkungsklausel", ähnlich der Klausel in der kanadischen Charter of Rights and Freedoms. Danach ist ein Gesetz, das gegen ein in einem Grundgesetz verankertes Grundrecht verstößt, nur dann gültig, wenn es sämtliche Bedingungen der Einschränkungsklausel erfüllt, darunter auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: "In die Rechte aus diesem Grundgesetz darf nur durch ein Gesetz eingegriffen werden, das den Werten des Staates Israel entspricht, das zu einem angemessenen Zweck erlassen wird und dessen Umfang nicht größer ist als erforderlich."

Die 1992 verabschiedeten Grundgesetze zu den Grundrechten veränderten die konstitutionelle Struktur Israels. Auf sie folgte 1995 ein wegweisender Beschluss: das Urteil im Fall Mizrahi Bank. Darin erklärte der Oberste Gerichtshof, der in Zivilverfahren als letzte Instanz für Berufungen zuständig ist, dass den Grundgesetzen in Israel ein verfassungsrechtlicher Status zukomme und dass das Gericht befugt sei, Einschränkungen, die sich aus der rechtlichen Überprüfung der Gesetzgebung der Knesset ergeben, geltend zu machen, selbst wenn diese Befugnis nicht explizit in einem Grundgesetz genannt wird. Diese Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wurde zusammen mit den Grundgesetzen zu den Grundrechten später als "Verfassungsrevolution" bekannt. Vor der Verabschiedung dieser Grundgesetze und dem Mizrahi-Bank-Urteil herrschte die Ansicht vor, Israel habe keine schriftlich niedergelegte, sondern nur eine "materielle" Verfassung – eine Sammlung verbindlicher Grundsätze und Regelungen, die die geltenden Gesetze und die gesellschaftliche Realität widerspiegelten. Die Grundlage für den Übergang von einem Modell der parlamentarischen Souveränität mit einer materiellen Verfassung zu einer formalen Verfassung bildeten die Einschränkungsklauseln in den beiden Grundgesetzen zu den Grundrechten. Das Mizrahi-Bank-Urteil legte fest, dass die Einschränkungsklausel die Gesetzgebungsbefugnis der Knesset begrenzt und dass Israel trotz der fehlenden formellen Verankerung im Grundgesetz "Menschenwürde und Freiheit" eine "offizielle" Verfassung hat.

Die "Verfassungsrevolution" veränderte das Kräftegleichgewicht zwischen den staatlichen Gewalten; eine Entwicklung mit deutlichen politischen Folgen. Anstatt auf eine inhaltliche Änderung der Grundgesetze zu drängen, stellten Kritiker der Verfassungsrevolution die Auslegung dieser Grundgesetze durch den Obersten Gerichtshof infrage. Ein wiederholt vorgebrachter Kritikpunkt von konservativen Politikern, Aktivisten und Akademikern lautete, dass die Grundgesetze von 1992 den Gerichtshof nicht ermächtigten, Gesetze zu kippen – dies sei nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen, zudem reichten die knappen Mehrheiten, mit denen die Grundgesetze verabschiedet worden waren, nicht aus, um ihnen einen verfassungsrechtlichen Status zu verleihen, der über den eines normalen Gesetzes hinausging.

Eine zweite Stoßrichtung der Kritik bezog sich auf den großen Ermessensspielraum, den die Richter des Obersten Gerichtshofs bei der Bestimmung neuer "nicht aufgezählter" Rechte und der Anwendung der Einschränkungsklauseln haben, insbesondere in Hinblick auf die Werte des Staates Israel und den Anteil der Gesetze, die Rechte beschneiden würden. Da es sich bei diesen Entscheidungen um Werturteile handle, sollten sie von demokratisch gewählten Vertretern und nicht von Richtern getroffen werden, die niemandem Rechenschaft ablegen müssten, so die Kritiker. Alternativ argumentierten sie, da der Oberste Gerichtshof faktisch zu einem Verfassungsgericht geworden sei, sollten demokratisch gewählte Vertreter mehr Möglichkeiten haben, Einfluss auf die Zusammensetzung der Richterbank zu nehmen und die ideologischen Positionen von Richterkandidaten vor ihrer Ernennung zu überprüfen.

Seit der Verfassungsrevolution ist die gerichtliche Überprüfung von Gesetzen jedoch mit Umsicht und Zurückhaltung erfolgt. Der Oberste Gerichtshof hat in den zurückliegenden Jahrzehnten 22 Gesetze – vor allem bestimmte Abschnitte – gekippt, die alle auf Gerichtsurteile zurückgingen, in denen festgestellt wurde, dass diese Gesetze die Grundrechte unverhältnismäßig stark beeinträchtigten. Die Verfassungsrevolution hat eine neue Ära im israelischen Verfassungsrecht eingeläutet, und zwar eine textbasierte, in der es nach Meinung des Obersten Gerichtshofs einen Verfassungstext gibt und er damit die Befugnis hat, Gesetze entsprechend zu überprüfen. Wie der Oberste Gerichtshof erklärt hat, bilden die Grundgesetze die israelische Verfassung. Doch diese Verfassung ist nicht vollständig, sondern lückenhaft und limitiert. Tatsächlich ähnelt sie eher einer Auswahl institutioneller Verfahrensregeln, also einer sehr "schlanken" Verfassung, die nicht unbedingt als Grundlage für das Zusammenleben in einem Staat oder als nationales Credo verstanden werden kann.

Aufstieg des Populismus und Erosion der Demokratie

Parallel zum wachsenden Populismus in den vergangenen Jahren ist weltweit auch eine Erosion der Demokratie zu beobachten. Wann genau der Populismus in Israel Fuß fasste, ist schwer zu sagen, doch es besteht kein Zweifel daran, dass er mittlerweile bei uns angelangt ist, und das schon seit einigen Jahren. Israel erlebt derzeit einen ständigen Angriff auf die Gerichte, eine Schwächung der Wächter der Demokratie, eine starke Ablehnung gegenüber jedem Versuch, die Macht der Regierung einzuschränken, und die Bekämpfung unabhängiger Einrichtungen wie Medien, Menschenrechtsorganisationen und NGOs. Populistische Gesetze und die Delegitimierung von Meinungen und Personen kennzeichnen die Entwicklung Israels in den vergangenen Jahren. Die Toleranz gegenüber Kritik hat stark abgenommen und Menschenrechtsorganisationen – zumindest einige von ihnen – werden als "Feinde des Volkes" betrachtet.

In diesem Zusammenhang sollte man sich bewusst machen, dass Israel aufgrund seiner Regierungsstruktur den Gefahren des Populismus stärker ausgesetzt ist als andere demokratische Länder. In vielen Staaten gibt es Mechanismen zur Dezentralisierung der politischen Macht, etwa die Aufteilung der Legislative in zwei Kammern, das Vetorecht des Präsidenten bei der Gesetzgebung, eine föderale Struktur, ein regionales Wahlsystem oder mitunter sogar die Einbeziehung internationaler Organisationen und Gerichte. All diese Instrumente sind Teil der checks and balances, doch keines davon existiert in Israel.

Israel ist einzigartig. Es hat einen starken demokratischen "Geist", aber eine fragile demokratische Struktur. Israel ist das einzige Land – unter den "freien" Ländern –, das über kein Instrument zur Dezentralisierung politischer Macht verfügt. Die Knesset ist die einzige Institution, die Gesetze erlassen kann, doch die Regierung kontrolliert die Knesset über die Koalitionsdisziplin. Israel verfügt über keine stabile Verfassungsstruktur. Mit einer einfachen Mehrheit kann die Knesset fast jedes Grundgesetz in einem normalen Gesetzgebungsverfahren in drei Lesungen und sogar innerhalb eines Tages verabschieden oder ändern. Durch die Dominanz der Exekutive beim Gesetzgebungsprozess in Verbindung mit der Schwäche der Knesset ist die Regierung in der Lage, kurzfristigen politischen Interessen nachzugeben und ohne ein System gegenseitiger Kontrolle nahezu uneingeschränkt zu agieren.

Die Möglichkeit des Missbrauchs bei der Verabschiedung oder Änderung von Grundgesetzen ist daher größer als in anderen Demokratien, und die einzige Institution, die dem entgegenwirken kann, ist der Oberste Gerichtshof. Die politischen Akteure in Israel können die konstitutionellen Spielregeln jederzeit ändern – auch um diejenigen zu begünstigen, die gerade an der Macht sind. Die israelische Knesset hat 120 Abgeordnete, eine einfache Mehrheit von 61 Abgeordneten reicht aus, um die Grundgesetze Israels zu ändern – bereits 61 Abgeordnete bedeuten absolute Macht. Der Oberste Gerichtshof ist tatsächlich die einzige Instanz, die diese einschränken kann.

Israel 2023: "Justizreform"

Nach den Wahlen vom November 2022 und der Bildung einer neuen Regierung unter Führung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat diese mehrere Gesetzesentwürfe vorgelegt, die drastische Reformen im Justizwesen vorsehen. Diese Gesetzesentwürfe sind Teil der "Justizreform", die darauf abzielt, die Autorität des Obersten Gerichtshofs erheblich zu schwächen. Sie umfasst:

  1. Eine "Außerkraftsetzungsklausel", die es einer einfachen Mehrheit in der Knesset ermöglichen würde, Gesetze zu verabschieden, die vom Gericht für verfassungswidrig erklärt wurden.

  2. Der Oberste Gerichtshof soll sich nicht mit Änderungen der Grundgesetze befassen dürfen.

  3. Der Oberste Gerichtshof wäre nicht mehr in der Lage, Regierungsentscheidungen auf ihre "Verhältnismäßigkeit" zu überprüfen.

  4. Die Rechtsberater der Ministerien würden von den Ministern ernannt.

  5. Die Zusammensetzung des Richterernennungsausschusses soll verändert werden, künftig sollen die Richter nur noch von Politikern ernannt werden.

Diese Vorschläge weisen mehrere Gemeinsamkeiten auf: Erstens erinnern sie an die Vorgehensweise der populistischen Regierungen in Polen und Ungarn und deren "demokratischer Übernahme" der Justiz. Zweitens lässt sich daraus ableiten, dass die neue israelische Regierung uneingeschränkte Macht will. Eine Außerkraftsetzungsklausel im Verbund mit einer Bestimmung, die es dem Obersten Gerichtshof untersagt, sich mit Grundgesetzänderungen zu befassen, würde letztendlich alle Einschränkungen für die Legislative beseitigen. Drittens würde fast jede Institution, die bisher professionell, neutral, objektiv und unabhängig im staatlichen Bereich tätig war, politisiert werden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die israelische Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara eine lange und ausführliche Stellungnahme zu diesen Vorschlägen veröffentlicht hat, in der sie die Regierung an ein grundlegendes Prinzip erinnert: Demokratie bedeutet nicht, dass das Mehrheitsprinzip über allem steht. Bei der Demokratie geht es auch um den Schutz der Grundrechte, um Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz, die die anderen Gewalten im Staat wirksam kontrollieren kann. Die "Reform" nennt keinen dieser Grundsätze. Stattdessen heißt es in der dem Gesetzentwurf beigefügten Erklärung: "Das System zur Ernennung von Richtern in Israel weicht sehr stark von der Praxis in der westlichen Welt ab." Die Generalstaatsanwältin zeigt jedoch mit faktengespickten Tabellen, dass "eine umfassende Prüfung ergibt, dass gerade die vorgeschlagene Methode – aus vergleichender Perspektive – eine Ausnahme darstellt". Und in Bezug auf die Befugnis des Gerichtshofs zur Aufhebung von Gesetzen schreibt die Generalstaatsanwältin, dass die "Details der [vorgeschlagenen] Regelung (…) die Verteidigung der Grundrechte dramatisch schwächen würden". Sie führt aus, wie einige der vorgeschlagenen Änderungen den Bürgerinnen und Bürgern schaden und ihre Rechte gefährden würden – etwa wenn Regierungsentscheidungen nicht mehr auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden dürften: "Die Bürger hätten keine Möglichkeit mehr, sich selbst und ihre Rechte vor einer extrem unvernünftigen Entscheidung zu schützen." Sollte der Vorschlag umgesetzt werden, würde die Exekutive über uneingeschränkte Macht verfügen, so die Staatsanwältin, und es wäre nicht mehr möglich, den Bürgerinnen und Bürgern im Falle eines Missbrauchs der Regierungsgewalt zu Hilfe zu kommen.

Ich schließe mich dieser Analyse voll und ganz an. Die Vorschläge würden das Ende Israels als konstitutionelle liberale Demokratie bedeuten, in der die Grundrechte vor einer Einschränkung durch andere Gesetze wirksam geschützt sind und die Befugnisse der Knesset wirklich kontrolliert werden. In Hinblick auf die Menschenrechte gibt es in Israel so einige Probleme, die politische Kultur steht den Grundrechten und dem Pluralismus zunehmend feindlich gegenüber, und hochrangige Politiker sind massiv in Korruptionsaffären verstrickt. Angesichts dieser Tatsachen könnte es katastrophale Folgen für die israelische Demokratie haben, den Gerichtshof daran zu hindern, seine Funktion als rechtsstaatliche Kontrollinstanz der Regierungsgewalt und als – wenn auch unvollkommener – Mechanismus zur Verteidigung der Menschen- und Minderheitenrechte auszuüben.

Epilog – eine konstitutionelle Ergänzung?

Die Haltung der Generalstaatsanwältin zur "Reform" der Justiz ist von großer Bedeutung, denn wenn die Vorschläge die Knesset passieren, werden im Zusammenhang mit einer Ergänzung der Grundsetze vermutlich sofort wieder Petitionen eingereicht. Die Generalstaatsanwältin ist der Ansicht, dass die Verabschiedung des Gesetzes ein System schaffen würde, in dem die Exekutive und die Legislative unbegrenzte Macht hätten, was dazu führen könnte, dass "die Grundprinzipien des Staates als jüdischer und demokratischer Staat beschädigt werden". Diese Aussage hat besonderes Gewicht. Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs gibt es für die Knesset Grenzen, wenn sie ein Grundgesetz erlässt oder abändert. Eine davon ist die Unveränderlichkeit des Prinzips, dass Israel ein jüdischer und demokratischer Staat ist. Sollte die Knesset dagegen verstoßen, hat der Oberste Gerichtshof die Befugnis, einzugreifen und sogar ein Grundgesetz aufzuheben.

Der Oberste Gerichtshof hat in verschiedenen Rechtsansichten festgestellt, dass es grundlegende Verfassungsprinzipien gibt, die sogar die verfassungsgebende Gewalt der Knesset einschränken können. Der Grundstein wurde bereits 1965 in der Rechtssache Yardor gelegt, als der Oberste Gerichtshof zum ersten Mal – in Anlehnung an die deutsche Rechtsprechung nach dem Ersten Weltkrieg – anerkannte, dass bestimmte grundlegende Prinzipien über dem Gesetz und positiven Recht stehen. In der Rechtssache La’or sprach Richter Aharon Barak von der theoretischen Möglichkeit, dass ein Gericht in einer Demokratie ein Gesetz für ungültig erklärt, das gegen grundlegende Prinzipien des Rechtssystems verstößt, auch wenn diese nicht in einer starren Verfassung verankert sind.

Während die Frage, ob die Knesset über eine ursprüngliche oder abgeleitete verfassungsgebende Gewalt verfügt, ungemein kompliziert ist, erscheint mir das Argument, dass die Knesset keine uneingeschränkte verfassungsgebende Gewalt besitzt, sehr überzeugend. Das Volk ist der Souverän, nicht die Knesset, und das Volk hat die Mitglieder der Knesset nicht dazu autorisiert zu beschließen, dass Israel nicht mehr länger ein demokratischer oder jüdischer Staat sein soll. Die Vorstellung, dass die Knesset über die uneingeschränkte Macht verfügt, Grundgesetze zu verabschieden oder zu ändern, ohne dass die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung besteht, ist sehr problematisch. Darüber hinaus steht sie im Widerspruch zur weltweiten Entwicklung, die Befugnis zur Verabschiedung und Änderung von Verfassungsnormen explizit und implizit einzuschränken, um grundlegende Verfassungswerte zu schützen.

Bis vor kurzem gab es keinen Präzedenzfall in Hinblick auf eine mögliche Beschränkung der verfassungsgebenden Gewalt der Knesset. Doch im jüngsten dramatischen Urteil zu einem Grundgesetz wurde die Frage auf interessante Weise behandelt. Das Grundgesetz "Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes" (Nationalstaatsgesetz), das 2018 in Kraft trat, war als ein weiteres "Kapitel" der israelischen Verfassung gedacht, das sich mit der Identität der Nation befasst. Es legt fest, dass Israel die "nationale Heimat des jüdischen Volkes" ist, und befasst sich mit staatlichen Symbolen wie der Flagge und der Nationalhymne, der Amtssprache, den nationalen Feiertagen, dem Schabbat, Jerusalem als Hauptstadt und so weiter.

Nach der Verabschiedung durch die Knesset wurden 15 Petitionen beim Obersten Gerichtshof eingereicht, in denen gefordert wurde, dieses Grundgesetz für nichtig zu erklären, mit dem Argument, dass darin weder der demokratische Charakter des Staates noch der Gleichheitsgrundsatz genannt werden. Die nichtjüdische Minderheit im Land werde vor den Kopf gestoßen, und das Gleichgewicht bei der Definition Israels als "jüdischer und demokratischer Staat" werde zugunsten der ersten Bezeichnung verschoben. Indem die "Verfassungsmäßigkeit" des Grundgesetzes infrage gestellt wurde, rückte auch die Frage in den Vordergrund, ob der Oberste Gerichtshof befugt ist, Grundgesetze mit Verfassungsstatus zu überprüfen.

Am 8. Juli 2021 lehnte ein Gremium aus elf Richtern die Petitionen ab. Sie veröffentlichten eine monumentale 201-seitige Urteilsbegründung. Auch Richter George Karra legt darin seine Minderheitsmeinung dar. Als einziger arabischer Richter am Gericht war er auch als einziger der Meinung, dass mehrere Bestimmungen des Grundgesetzes für ungültig erklärt werden sollten.

Das Gericht entschied, über die Frage seiner eigenen Befugnis, ein Grundgesetz streichen zu können, "nicht zu entscheiden", allerdings kommt in der Urteilsbegründung klar zum Ausdruck, dass die Knesset bei der Verabschiedung oder Änderung von Grundgesetzen nicht "allmächtig" ist. Das Gericht erklärte, dass die verfassungsgebende Gewalt der Knesset in dem Sinne begrenzt ist, dass "die Knesset in einem Grundgesetz nicht die Existenz Israels als jüdischer und demokratischer Staat leugnen kann". Mit dieser Entscheidung ist die Idee einer Begrenzung der verfassungsgebenden Gewalt, die im Laufe der Jahre in mehreren Entscheidungen erwähnt wurde, nun verankert. Die Knesset ist nur an eine minimale Einschränkung gebunden, die es ihr verbietet, Israels grundlegenden Charakter als "jüdischer und demokratischer Staat" zu verändern.

Und wie lauten nun die grundlegenden Prinzipien einer Demokratie, die ein Grundgesetz nicht beschädigen oder untergraben darf? Laut Entscheidung des Obersten Gerichts sind es "freie und gleiche Wahlen; die Anerkennung fundamentaler Menschenrechte; Gewaltenteilung; Rechtsstaatlichkeit und eine unabhängige Justiz". Die "Reform" würde fast all diesen Grundsätzen den Todesstoß versetzen. Sollte sie in ihrer jetzigen Form verabschiedet werden, hat der Oberste Gerichtshof gute Gründe, sie für ungültig zu erklären.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass strukturelle Veränderungen des Systems mit Bedacht und in geordneter Form umgesetzt werden sollten, auf Grundlage von Fakten und einem breiten Konsens. Um die Beziehungen und das Gleichgewicht zwischen den Gewalten grundlegend zu regeln, darf man sich nicht auf einen einzigen, eng gefassten Aspekt konzentrieren und sich nur auf die Judikative beziehen, sondern muss auch gleichzeitig Grenzen für die Exekutive und Legislative setzen. Die vorgeschlagene Reform könnte den Grundsatz der Gewaltenteilung und der Verteilung der Regierungsmacht als zentrale Prinzipien eines demokratischen Systems ernsthaft gefährden. Angesichts der Bedeutung, die der Begrenzung der Regierungsgewalt als ein zentrales Instrument zum Schutz der Grundrechte und der "Spielregeln" in einer Demokratie zukommt, besteht zudem die große Sorge, dass die "Reform" den Schutz dieser Rechte und Grundsätze ernsthaft beeinträchtigen könnte: eine "klare und aktuelle" Gefahr für Israels liberale Demokratie.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Oberste Gericht ist das höchste Gericht in Israel und hat zwei wesentliche Funktionen: Es ist die letzte Instanz für Berufungen gegen Urteile der Bezirksgerichte und entscheidet somit über Zivil-, Verwaltungs- und Strafsachen. Außerdem befasst es sich mit Petitionen gegen staatliche Maßnahmen und Einrichtungen.

  2. Vgl. Nir Kedar, Ben-Gurion and the Constitution: On Constitutionalism, Democracy and Law in David Ben-Gurion’s Policy, Ramat Gan 2014 [Hebräisch].

  3. Vgl. C.A. (Civil Appeal) 450/70 Rogozinsky v. The State of Israel, PD 26 (1), 129 (1970).

  4. Abschnitt 8 des Grundgesetzes "Menschenwürde und Freiheit". Eine ähnliche Bestimmung ist im Grundgesetz "Freiheit der Berufswahl" enthalten.

  5. Vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 9. November 1995 – C.A. 6821/93 United Mizrahi Bank Ltd. v. Migdal Cooperative Village, PD 49 (4), 221 (1995).

  6. Im ersten Entwurf des Gesetzes war eine entsprechende Verankerung enthalten, sie wurde jedoch bei der dritten Lesung im Plenum gestrichen.

  7. Für mehr Informationen über die Verfassungsgeschichte Israels siehe Gideon Sapir/Daphne Barak-Erez/Aharon Barak (Hrsg.), Israeli Constitutional Law in the Making, London 2013; Suzie Navot, The Constitution of Israel: A Contextual Analysis, London 2014.

  8. Gali Baharav-Miara, Stellungnahme der Generalstaatsanwältin zu den vorgeschlagenen Änderungen der Grundgesetze, Jerusalem 2023 [Hebräisch].

  9. Vgl. Amichai Cohen/Yuval Shany, Reversing the "Constitutional Revolution". The Israeli Government’s Plan to Undermine the Supreme Court’s Judicial Review of Legislation, in: Lawfare Blog, 15.2.2023.

  10. Vgl. EA (election’s appeal) 1/65 Yardor v. Chairman of the Central Elections Committee for the Sixth Knesset, PD 19 (3) 365, 378, 390 (1965).

  11. Vgl. HCJ 142/89 La’or Movement v. Speaker of the Knesset, PD 44 (3) 529, 553–554 (1990).

  12. Für die Diskussion siehe z.B. Claude Klein, The Constituent Power in Israel, in: Mishpatim 2/1970 [Hebräisch]; ders., Is There a Need for an Amending Power Theory?, in: Israel Law Review 2/1978, S. 203–214; ders., After the Mizrahi Bank Case – The Constituent Power as Seen by the Supreme Court, in: Mishpatim 28/1997, S. 241–258 [Hebräisch].

  13. Zur Vorstellung, dass das Parlament nur über eine begrenzte verfassungsgebende Autorität verfügt, siehe Yaniv Roznai, Towards a Theory of Constitutional Unamendability. On the Nature and Scope of the Constitutional Amendment Powers, in: Jus Politicum – Revue de Droit Politique 5/2017, Externer Link: http://juspoliticum.com/article/Towards-A-Theory-of-Constitutional-Unamendability-On-the-Nature-and-Scope-of-the-Constitutional-Amendment-Powers-1183.html.

  14. Eine englische Übersetzung des kompletten Textes des Grundgesetzes findet sich unter: Externer Link: https://m.knesset.gov.il/EN/activity/documents/BasicLawsPDF/BasicLawNationState.pdf.

  15. Vgl. HCJ 5555/18 Hasson v. The Knesset (8.7.2021).

  16. Ebd., Paragraph 16 der Meinung Esther Hayuts, der derzeitigen Präsidentin des Obersten Gerichts. Hayut: "Selbst wenn ich für die Zwecke dieses Falles davon ausgehe, dass das Gericht befugt ist, den Inhalt von Grundgesetzen gerichtlich zu überprüfen, negiert das Grundgesetz ‚Der Nationalstaat‘ die jüdischen und demokratischen Merkmale des Staates nicht in einer Weise, die Eingriffe in seinen Inhalt rechtfertigen würde. Das Gericht hat die ‚problematischen‘ Bestimmungen des Grundgesetzes als vereinbar mit den Grundsätzen der Demokratie und der Gleichheit ausgelegt."

  17. Siehe dazu auch: Rehan Abeyratne/Yaniv Roznai, Basic Structure Interpretation, in: Kate O’Regan/Carlos Bernal/Sujit Choudhry (Hrsg.), Research Handbook on Constitutional Interpretation (i.E.).

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ist Professorin für Verfassungsrecht und Vizepräsidentin im Bereich Forschung am Israel Democracy Institute in Jerusalem. E-Mail Link: suzie@idi.org.il