"Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, die Zeit war der unsrigen so ähnlich, daß ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollten."
So begann Charles Dickens Mitte des 19. Jahrhunderts seinen zeitlosen Roman "Eine Geschichte aus zwei Städten" über Paris und London. Dieser handelte von der wohl wichtigsten Revolution in der Weltgeschichte – der Französischen. Auch deshalb ist dieser Roman zeitlos, weil Dickens die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen beschreibt, die uns überall – auch in Israel – erfasst. Die Zeit in Israel war nie gleichzeitig. 75 Jahre nach der Staatsgründung, also dem Beginn der Ausübung jüdischer politischer Souveränität in Israel, ist diese Staatsgründung noch immer nicht vollzogen. Denn dem Staat fehlen entscheidende Merkmale, andere sind uneindeutig: So gibt es etwa noch keine endgültigen Grenzen. Das Land kämpft noch immer um seine Unabhängigkeit, und es ist Besatzungsmacht. Israel ist formal demokratisch und doch keine liberale Demokratie. Seine Hauptstadt Jerusalem ist de facto geteilt und ständig wird ob der Heiligkeit dieser Stadt gekämpft.
Seine Lage zwischen den Kontinenten ist nicht nur geografisch bedingt. Israel liegt auch politisch und kulturell sowohl inner- wie außerhalb Europas, Asiens und Afrikas. Als jüdischer Staat wurde Israel auf dem Grundsatz gegründet, dass Staat, Nation und Religion untrennbar miteinander verbunden sind. Israel ist vieles zugleich: eine postindustrielle Hightech-Dienstleistungsgesellschaft, eine orthodoxe Lern- und Lehrgemeinschaft, zutiefst religiös und abgrundtief säkular, weltoffen und weltverschlossen, homoerotisch und homophob, liberal und autoritär, zivilgesellschaftlich und militaristisch, tanzend und marschierend, gleich und ungleich, anerkennend und diskriminierend, mitleidig und grausam – all das ist israelischer Alltag. Und jenseits der "Grünen Linie", in den seit 1967 besetzten Gebieten oder in "Judäa und Samaria", wie Nationalreligiöse das Westjordanland nennen, herrschen andere Gesetze als im Kernland.
Demokratie, Diversität, Differenzen
Ende Dezember 2022 wurde die 37. Regierung im israelischen Parlament, der Knesset, vereidigt. Es ist eine Koalition aus vier Parteien, der rechtspopulistischen Likud Partei, den beiden orthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum und dem Parteienbündnis Religiöser Zionismus, das rechtsradikal, messianisch, homophob und rassistisch ausgerichtet ist. Gemeinsam haben sie 64 der 120 Sitze im Parlament, also eine Mehrheit von 53 Prozent. Sie sind eine demokratisch gewählte Mehrheit und haben die Wahlen gewonnen, daran besteht kein Zweifel. Für die Verlierer der Wahl geht aber nicht nur ihre Welt unter, sie fühlen sich verraten. Für diese 47 Prozent ging mit der Wahl auch ihr Bild verloren, das sie von Israel hatten, ein Selbstbild, das sie von sich selbst als Israelis hatten: liberale weltoffene Menschen, die am östlichen Ufer des Mittelmeers eigentlich zu Europa gehören. Nichts symbolisiert dieses Milieu mehr als die Geschichte der Stadt Tel Aviv, deren Wahlergebnis konträr zu dem gesamtisraelischen war. Dabei symbolisiert die Geschichte einer zweiten Stadt, Jerusalem, genau das Gegenteil. Sicher gab es seit 1977, als die Dominanz der linksgerichteten Parteien beendet schien, rechte Regierungen, aber hier und jetzt liegt eine neue noch nicht bekannte Radikalität in der Luft. Diese wird von den Wahlgewinnern tagtäglich bestätigt. Sie machen den Verlierern ihre Niederlage klar und bekräftigen, dass sie keinen Regierungs-, sondern einen Regimewechsel planen und auch ausführen werden. Die Gewinner machen keinen Hehl aus ihrer Absicht. Sie wollen die Gewaltenteilung abschaffen, die Medien unter ihre Kontrolle bringen, Kultur und Wissenschaft ihren Ansichten unterwerfen, und auch die seit 1967 besetzten Gebiete annektieren. Sie planen eine Mischung aus Populismus und Gottesstaat. All das wird mit dem Gewinn der Wahlen legitimiert. Die Mehrheit hat recht.
Das ist auch der Grund, weshalb seit Januar 2023 jeden Samstagabend zehn- bis hunderttausende Menschen auf die Straße gehen (mich eingeschlossen), die meisten natürlich in Tel Aviv, um ihre Stadt, ihr Land und ihr Leben gegen die dunklen Kräfte zu verteidigen. Angst erfüllt sie beim tagtäglichen Lesen der Nachrichten, bei Gesprächen mit Freunden und Kollegen. Sie fürchten ob ihres Lebensstils, ihres Selbstverständnisses als liberale Israelis, sie fürchten, dass sie einer Illusion erlegen und nun im Nahen Osten angekommen sind, mehr als ihnen lieb ist. Sie kommen mit israelischen Flaggen, um sich und der Welt zu beweisen, dass sie, die hier für Freiheit und Demokratie demonstrieren, die wahren israelischen Patrioten sind, dass sie die "eigentlichen" Israelis sind. Es ist das Bürgertum aus Tel Aviv, die Hightecher, die Banker, die Anwälte, die Medienleute, die Akademiker, die Kreativen, genau die, die sowohl das kulturelle als auch das finanzielle Kapital Israels erzeugen und erarbeiten. An diesen Samstagabenden sehen sich die Demonstranten als das fortschrittliche, aufgeklärte, säkulare, demokratische, liberale und städtische Israel, das auch in der Lage sein würde, in aufgeklärten, partnerschaftlichen Prozessen mit den Palästinensern zu einer einvernehmlichen Lösung des Konflikts zu kommen. Es ist eine Bewegung, die nicht nur um die Demokratie in Israel kämpft. Es ist eine Bewegung, die sich der israelischen Diversität stellt und sich nicht aus der Welt zurückziehen will. Auch einige unzufriedene Rechte sind unter den Demonstranten. Innere Emigration ist keine Option für sie. Sie demonstrieren für ein Leben, das sie keinen abstrakten Ideen unterwerfen wollen.
Alle wissen, dass es auch das andere Lager gibt. Doch in ihren Augen sind das die Ewiggestrigen, die Klerikalen, die Nationalisten. Sie glauben, dass die andere Seite ihre formale Parlamentsmehrheit dazu nutzen wird, Israel in eine autoritäre Theokratie zu verwandeln. Und sie haben wohl recht damit. Bei den Demonstrationen geht es nicht nur um verschiedene politische Ansichten, um Meinungsverschiedenheiten, wie sie im politischen Diskurs üblich sind, sondern um den gegenseitigen Versuch, die andere Seite außerhalb der Legitimation und des Konsenses zu stellen. Es geht um die Frage, wer das "wahre" Israel vertritt. Es geht um konträre Weltanschauungen, wo es so gut wie unmöglich ist, Kompromisse zu erreichen. Diese Unmöglichkeit des Kompromisses ist dann auch die Grundkonstellation eines möglichen Bürgerkrieges oder, wie man es mit der direkten Übersetzung des hebräischen Wortes treffender sagen kann, eines Bruderkrieges. So weit ist es glücklicherweise noch nicht, und doch schwebt der Geist der Gewalt über allem. Das ist Israel im Frühjahr 2023.
Aber das allein reicht noch nicht, die gegenwärtige Komplexität Israels zu verstehen. Denn diese Prozesse kennt man auch aus Budapest, Warschau, Rom, und auch aus Ankara oder Moskau. Es gibt in Israel aber noch Tiefenstrukturen, die nicht durch die Entsagung des Liberalismus erklärt werden können. Denn hier gibt es auch eine spezifisch theologische Dimension. Also vielleicht doch eher Kabul oder Teheran als Referenz?
Jüdischer und demokratischer Staat
Die meisten jüdischen Israelis sind sich darüber einig, dass Israel ein jüdischer Staat ist. Aber über die Bedeutung des "Jüdischen" gibt es politische und kulturelle Kämpfe. Gleichzeitig sind die Kriterien der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zugehörigkeiten nicht trennscharf, ihre Übergänge sind fließend. Auch das macht die Diversität der israelischen Gesellschaften aus. Holocaustüberlebende, die in einem Strandcafé eine hebräische Zeitung lesen; die aus Nordafrika stammende Bankangestellte, die einem aus Odessa eingewanderten Juden einen Kredit ausstellt – auf Hebräisch; ein arabischer Professor, der in einem hebräisch geschriebenen Zeitungsartikel gleiche Bürgerrechte einfordert; ein orthodoxer Rabbiner, der in einer Polittalkshow auf Hebräisch mehr Heiligkeit für den Schabbat einklagt und seinen Zionismus bekräftigt, indem er ihn ablehnt; Homosexuelle, die ihre Ehen anerkannt haben wollen; junge Studenten und Studentinnen, die nach den neuesten Nachtklubs suchen und sich auch die Vorlesungspläne der Freien Universität Berlin anschauen. Alle müssen sich den gleichen Raum teilen, obwohl ihre Lebenswelten so verschieden sind.
Das israelische Rückkehrgesetz erlaubt es Juden in der Diaspora, sofort Staatsbürger zu werden, während Nichtjuden, die im Land leben oder sogar in Israel geboren sind, zwar staatsbürgerliche Rechte haben können, aber das Prinzip des jüdischen Staates diese Rechte für Nichtjuden eingrenzt. Israel versteht sich als demokratisch und gleichzeitig jüdisch. Das Jüdische in dieser Formel ist der partikularistische Wunsch, einen Staat ausschließlich für Juden zu haben, während das demokratische in dieser Formel den universalen Wunsch ausdrückt, Teil der aufgeklärten demokratischen Welt zu sein. Das Land bewegt sich ständig zwischen diesen Polen. Es ist die Spannung zwischen dem Zionismus als säkulare Nationalbewegung, die die Selbstbestimmung für das jüdische Volk erstrebt, und dem Judentum als religiöse Tradition und Volksreligion. Diese Spannung konnte nie aufgelöst werden, und das war Israels Stärke. Das neue Regime will nicht mehr mit dieser Spannung leben und versucht, politisch zu erzwingen, was sich gesellschaftlich nicht erzwingen lässt.
Die arabische Bevölkerung Israels, die über ein Fünftel des israelischen Demos ausmacht, aber nicht zum Ethnos gehört, manifestiert diese Spannung. Dazu kommt, dass Israel ein hochmilitarisierter Staat ist, der stets kriegsbereit sein muss, denn Israel ist in der Tat von Feinden umzingelt, nicht von Feindbildern. Auch lebt es im ständigen Kampf zwischen einer staatlichen Normalität und religiösen Gesetzen der Erlösung, die immer wieder in die Tagespolitik eindringen. Es ist, als ob eine ständige Last der religiösen und messianischen Erwartungen das anscheinend kulturelle und säkulare Projekt überfrachtet. Die Demokratie in Israel, auch wenn sie immer noch als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet wird, ist eine ethnische Demokratie. Sie entspricht nicht dem moralischen Ideal der universellen Demokratie. Der fast schon permanent existierende Ausnahmezustand und die nicht vorhandene Trennung zwischen Staat, Nation und Religion, ergeben sich als tagtägliche Herausforderungen aus dem ethnischen Charakter dieses Staates. In diesem Kampf zählen Worte oft nicht mehr. Dialog und intellektuelle Bewegungsfreiheit existieren kaum noch. Äußerungen von der einen Seite werden von der anderen Seite weder wahrgenommen, geglaubt noch irgendwie erwogen. Ganz im Gegenteil: Die Gewinner triumphieren über die Verlierer und weiden sich an deren Agonie. Das ist der Preis, der für die radikale Diversität zu bezahlen ist.
Die orthodoxen Gemeinschaften haben nach anfänglicher Feindschaft und Ablehnung den Staat nicht nur akzeptiert, um ihre Interessen durchzusetzen, für eine Zeit glaubten sie auch, diesen für ihre Zwecke instrumentalisieren zu können. Nun ist die Zeit der Revolution gekommen, und der Staat soll übernommen werden. Sie werden in diesem Projekt von dem Parteienbündnis Religiöser Zionismus unterstützt, das erst durch die 55 Jahre andauernde Besatzung infolge des "Sechstagekrieges" so stark werden konnte. Ein Bündnis, das jenseits der Grünen Linie seine Basis hat, in einem beinahe schon rechtlosen Raum, der auf Gewalt, Diskriminierung und Abscheu gegenüber den offiziellen Institutionen des Staates beruht. Diese antistaatlichen politischen Kräfte bringen nun die Prinzipien der Besatzung in das Kernland Israels. Auch dagegen gehen die Menschen samstags auf die Straße. Die im Religiösen Zionismus verbundenen Parteien sind nicht nur orthodox-jüdisch, sondern orthodox-jüdisch-israelisch. Sogar die Orthodoxie hat sich in Israel nationalisiert.
Das ist aus der israelischen Situation selbst entstanden: Für viele Zionisten war das rabbinische Denken aus der Zeit der Diaspora, jener Zeit der Macht- und Wehrlosigkeit, der Zeit ohne Politik und Souveränität, nicht relevant für den souveränen Staat Israel. Die Bibel dagegen zählte sowohl als – auch archäologisch untermauerbarer – Beweis für die Anwesenheit von Juden in diesem Land als auch als theologische Herausforderung. Das Judentum als raumlose Religion wurde durch die Staatsgründung mit dem Raum in Einklang gebracht.
Jüdisches Denken in der Diaspora musste sich nie über Fragen der eigenen militärischen Gewaltausübung Gedanken machen, was bis in die Gegenwart den großen Unterschied zwischen Juden in Israel und in der Diaspora ausmacht. Dies geschieht gleichzeitig mit der immer enger werdenden hegemonialen Staatsideologie des religiösen Ethnonationalismus, die sich nun offen im Land ausbreitet. Das ist nicht widersprüchlich, ganz im Gegenteil. Der Staat als Institution verengt sich, gerade weil die Gesellschaften in Israel sich weiter öffnen.
Religion und Liberalismus
Wie kann man also die neue Situation in Israel beschreiben und verstehen? Das Fehlen eines Einheitsgefühls in den israelischen Kulturen und Identitäten; die sozialen und psychologischen Aspekte des Lebens in den Siedlungen des Westjordanlandes, die zurück auf das Kernland schlagen; die nichtjüdische Bevölkerung, die das zionistische Projekt ständig herausfordert; die sich ständig verschiebenden Erinnerungen an den Holocaust und seine noch immer spürbaren Auswirkungen auf die Menschen in Israel; die Beziehungen zwischen der jüdischen Diaspora und Israel und die Auswirkungen der Souveränität auf diese Beziehungen – all dies ist mit dem Regimewechsel in Israel neu zu definieren. Natürlich könnte man das, was gegenwärtig in Israel vorgeht, nicht nur für Israel selbst als bedeutsam beschreiben, sondern für ein dynamisches Modernitätsverständnis und für das Denken von Staaten und Gesellschaften im Allgemeinen. In Israel ist der Widerspruch zwischen dem Partikularen und dem Universalen verschärft durch die Präsenz der sich in Lebensweisen und Staatsverständnis extrem unterscheidenden Gruppen. Das heißt auch, dass die Geschichten zweier Städte trotz alledem die Geschichte eines Landes ist, ob gewollt oder nicht. Zu einfach und offensichtlich wird der Gegensatz zwischen Tel Aviv und Jerusalem gezogen. Denn der sich der Welt verschließende Blick des orthodox-religiösen Zionismus war schon immer die etwas unsichtbare Hintertreppe des zionistischen Projekts, die nun offen zum Vorschein kommt, aber eigentlich schon immer Bestandteil war. Ohne diese Hintertreppe gäbe es den Staat Israel nicht.
Der Erfolg Israels erklärt sich auch dadurch, dass man bei vielen orthodoxen Juden die feindselige Einstellung gegenüber dem Zionismus besänftigen konnte, indem man die traditionelle rabbinische jüdische Religion mit dem staatlichen Zionismus in Einklang brachte, und man gleichzeitig die feindselige Einstellung mancher säkularen Zionisten gegenüber dem Diasporajudentum, ja gegenüber dem Judentum selbst, dadurch besänftigte, dass der Zionismus jüdischer wurde. Beiden war die Einstellung gemeinsam, dass das jüdische Volk das Recht habe, aktiv in die Geschichte einzugreifen und nicht auf die Erlösung durch den Messias zu warten. Und dazu gehört auch die Anwendung von Gewalt. Das sind die Spannungen, die sich seit 1992 auch in israelischen Grundgesetzen widerspiegeln, in denen Israel als "jüdischer und demokratischer" Staat definiert wird. Das neue israelische Regime aber ist durchaus bereit, das "Demokratische" dem "Jüdischen" im wahrsten Sinne des Wortes zu opfern.
Diese religiös-zionistischen Strömungen sind nicht neu, wie auch die Gewalt, die das Land immer wieder erleben muss, nicht neu ist. Das Sakrale ist schwer verhandelbar, denn das Land ist ein jüdisches Land und kein neutrales, das Juden bewohnen dürfen, um vor einer weiteren Katastrophe bewahrt zu bleiben, wie es vielleicht einige säkulare Zionisten sehen. Doch geht es hier nicht um einen Kulturkampf zwischen Religiösem und Säkularem. Denn schon die Tatsache, dass der Staat von Anfang an der jüdischen Orthodoxie die Macht über die wichtigsten Schlüsselereignisse des Lebens wie Heirat, Scheidung, Beerdigung und so weiter überließ oder dass die jüdischen Feiertage die offiziellen Feiertage des Landes sind, hat weniger mit einem tagespolitischen Druck religiöser Parteien als mit der Legitimation Israels als jüdischer Staat zu tun. Die Trennung von Staat und Synagoge ergibt keinen Sinn für Israel und bleibt eine Illusion für die am Samstagabend demonstrierenden Menschen. Israel lebt im ständigen Kampf zwischen nationalstaatlicher Normalität und den Gesetzen der Erlösung.
Für diejenigen, die nun in Israel triumphieren, ergibt die formale Demokratie wenig Sinn. Es geht ihnen eher um politische Spiritualität, die nach den tieferen Gründen in der Politik sucht und immer dazu bereit ist, den Rahmen der Normalität zu brechen. Es geht ihnen um den permanenten Ausnahmezustand, und deshalb ist die Aussetzung des Rechtsstaates ein offen erklärtes Ziel. Diese Aussetzung des Rechts, die jenseits der Grünen Linie in den 1967 eroberten Gebieten schon zum Normalzustand geworden ist, legt die prekäre Lage nicht nur der Besatzung offen, sondern ist auch typisch für den Zionismus als staatstragende Ideologie. Dem kann ein liberales Milieu wenig entgegensetzen. Um etwas zu erreichen, müssten auch die liberalen Israelis den Ausnahmezustand erklären und das Land lahmlegen. Als Liberale sind sie auf die Dauer dazu nicht imstande. Kriege, militärische Operationen, Terroranschläge, Vergeltungsaktionen sind nicht die Ausnahme in einer sonst friedlichen Zivilgesellschaft, so wird es von einem bestimmten Milieu in Israel gesehen, aber die "friedliche" Zivilgesellschaft existiert inmitten dieser Gewaltanwendungen. So glauben die Demonstrierenden – ja müssen es glauben –, dass trotz aller Wahrnehmung und Warnungen, Reflexion und Einsicht, es sich lohne, an dem Glauben an ein besseres Israel festzuhalten, und sich einreden, es werde doch nicht so schlimm werden und man werde schon für sich irgendeinen Weg finden (etwas, wovon auch ich mich nicht freispreche). Dazu gehört auch, dass man die Verrohung des politischen Diskurses ausblendet.
All diese Widersprüche des zionistischen Projekts finden sich in der Rolle der arabischen Bevölkerung wieder. Von Anfang an lebten in Israel auch Araber – als ethnische und religiöse Minderheit und als Staatsbürger. Heute leben auf israelischem Gebiet etwa knapp zwei Millionen Araber und stellen 21 Prozent der israelischen Bevölkerung. Bedeutet Staatsbürgerschaft nicht eigentlich formale Gleichheit? Ethnisch und national gehört die arabische Bevölkerung Israels zu den Palästinensern, zugleich sind sie israelische Staatsbürger. Sie sind die wahren Außenseiter im zionistischen Projekt, da sie keinen symbolischen Bezug zum jüdischen Nationalstaat herstellen können. Das war schon bei der Staatsgründung 1948 so. Für die Juden Israels bedeutet die Anwesenheit der arabischen Bevölkerung eine ständige Erinnerung daran, dass die jüdische Souveränität nicht selbstverständlich ist und dass der "jüdische Staat" mit Nichtjuden in seiner Mitte umgehen muss. Für viele jüdische Israelis bedeutet das auch die Angst vor dem Verlust der nationalen Identität, die dazu beitrug, dass nun explizit arabisch-feindliche Parteien die Regierungskoalition bilden.
Aber Israel als Staat war nie neutral und radikal universal. Universale Prinzipien sind Prinzipien der Gleichheit und Gleichberechtigung. Ethno-nationale Prinzipien sind Prinzipien der Ungleichheit. Dieser Balanceakt konnte lange funktionieren und ist nun in der Tat in Gefahr, in noch unbekannte Regionen aufzubrechen. Je mehr die arabische Bevölkerung symbolisch und praktisch, etwa ökonomisch, vom Gemeinwohl des jüdischen Staates ausgeschlossen wird, desto selbstbewusster tritt sie als Minderheit auf. Die wachsende soziale und kulturelle Anpassung der Lebensverhältnisse von Arabern an die jüdische Bevölkerung wiederum ruft bei denjenigen, die auf ethnische Homogenität pochen, Verwirrung hervor. Die Folge sind Rufe nach stärkerer Diskriminierung von jüdischer Seite aus, so wie sie dann auch von den offiziellen Vertretern des jetzigen Regimes offen eingefordert wird. Und trotzdem befinden sich unter den Demonstrierenden wenige Araber. Es ist, als ob sie den Konflikt als einen innerjüdischen sehen. Sie mögen recht haben.
Damit werden am Ende viele Fragen aufgeworfen, vor allem, ob "normale" Politik für Juden überhaupt möglich ist, ob die Souveränität das jüdische Problem der Spannung zwischen Diaspora und Raum gelöst hat, und damit auch die Frage, ob es gelingen kann, die politischen Kapazitäten des Staates von den mächtigen religiösen und historischen Kräften der jüdischen Volkszugehörigkeit zu unterscheiden. Lässt sich innerhalb der jüdischen Tradition ein Verständnis für das Politische als eigenes Terrain ausmachen?
Von Königen und Propheten
Das Ironische an dieser Frage ist, dass es gerade das "Politische" ist, welches nun die religiösen und messianischen Kräfte freisetzt, die am Ende das "Politische" vernichten werden. Es scheint im Moment keine weltliche und instrumentelle Politik zu geben, mit denen der jüdische Staat umgehen kann. Gerade für die Juden und den Staat Israel, die ja im Fokus dieser Debatten stehen, ist das ein zentraler Punkt. Kann diese Politik "normal" werden, also Souveränität und Gewaltausübung in Einklang bringen? Das ist die historische Herausforderung und erinnert an den politischen Denker Niccolò Machiavelli, der darauf bestand, dass die "Normalität" politischen Handelns auch Machtausübung enthält. Dabei geht es auch um politische Virtuosität. Das neue israelische Regime wendet sich vollkommen von dieser politischen Virtuosität ab, die immer schon Teil der pragmatischen zionistischen Politik war. Die Pläne der revolutionären Rechten sind zum Beispiel, Teile der besetzten Gebiete zu annektieren, ohne der palästinensischen Bevölkerung Bürgerrechte zu gewähren. Um das ungestört, also jenseits der Mehrheitsverhältnisse, umsetzen zu können, bedarf es der massiven Schwächung des Obersten Gerichts, das das verhindern könnte. Statt des Virtuosen herrscht vielmehr das Brachiale.
Aber sie wenden sich auch von den jüdischen Traditionen ab, die schon immer die Selbstbegrenzung der staatlichen Souveränität einforderten, wie wir es aus der Heiligen Schrift kennen. Deshalb sieht man auch immer mehr religiöse Menschen unter den Demonstranten. Das Judentum kennt auch den Konflikt zwischen Königen und Propheten, eben dass die sorglose Souveränität ihre Grenzen haben muss. Die jüdischen Propheten erinnern also an die jüdische Tradition jenseits der Souveränität. Sie erinnern an die universale Tatsache, dass Machtausübung einen Preis hat, konkret: dass es in Israel Rassismus und Grausamkeit gibt, dass der Staat mit seiner ständigen Kampfbereitschaft und deren Folgen auf vielen Ebenen teuer für die Freiheit zahlt, dass insgesamt die Ausübung politischer Souveränität auch um den Preis des Verlusts der Unschuld erfolgt. Und sie erinnern an die liberale Grundhaltung, der zufolge bei politischem Handeln immer auch das Individuum zu seinem Recht kommen muss, nicht allein die Gruppe oder das Kollektiv. Diese Einstellungen wurden in Israel vom Obersten Gericht vertreten und gegen den Souverän durchgesetzt. Mit der politischen Kontrolle der Gerichte versuchen die neuen Herren des Landes auch die alten prophetischen Stimmen zum Schweigen zu bringen. Indem sie eine neue Form des lokalen Judentums entwickeln, dass keine Einschränkungen der Souveränität anerkennen will, leisten sie einen Götzendienst mit dem Staat und entfernen sich von den eigenen jüdischen Traditionen. So vernichten sie die aktuelle Verwirklichung dessen, was sich im Traum der Zionisten verbarg: dass Israel ein normaler Staat werden könnte – ein Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern egal welcher Religion und Herkunft Sicherheit bietet, ein Staat in Frieden, ein Staat, der nicht umstritten ist, und ein Staat, der von der Welt akzeptiert wird. Dies umfasst auch die Wandlung im Selbstverständnis seiner Staatsbürger von den Angehörigen einer Religion zu denjenigen einer Nation. Von dieser Hoffnung entfernt sich das jetzige israelische Regime mit seinem revolutionären Elan. Das ist der tieferliegende Grund der Samstagsdemonstrationen, die eigentlich konservativ sind, da sie die Gegenwart als Ende der Vergangenheit betrachten.
Ausblick
Diejenigen, die aus einer Situation der Verfolgung und der Heimatlosigkeit heraus einen jüdischen Staat herbeisehnten und -sehnen, hatten vielfach eine eigene, eben durch ihr Judentum und ihre desolate Situation geprägte Vorstellung von diesem Staat. Der reale Staat Israel muss sich mit diesen Vorstellungen nicht decken, vielmehr sind es nur die israelischen Staatsbürger, die diesen Staat gestalten und für seine Machtausübung verantwortlich sind. Sicher kann Israel nicht aufhören, ein Staat der Juden zu sein. Das Rückkehrrecht erlaubt jedem Juden auf der Welt, zu wählen, ob er oder sie zu dem israelischen politischen Kollektiv gehören will. Das heißt dann auch, dass der souveräne Staat Israel seinen ethnischen Charakter nicht aufgeben kann und sollte, der doch die Grundlage des Landes ist und die seiner tiefen Geschichte. Israel ist seit jeher als jüdischer Staat konzipiert worden, auch von Juden, die sich für säkular halten. Dieser Traum, diese Spannung, diese Hoffnung wird nun vor den Augen eines Großteils der Bevölkerung zerstört von denjenigen, die in der eigentlich nicht-jüdischen Eindeutigkeit leben wollen. Auch dafür gehen die Menschen samstags auf die Straße. Jeder Kampf um Demokratie in Israel muss daher mehr und nicht weniger religiöse Elemente des Judentums einbeziehen.
Daraus folgt auch, dass "säkulare" und "aufgeklärte" Juden in Israel eine Variante der Aufklärungstradition entwickeln müssen, die auf jüdische partikulare Bedingungen eingeht. Im "anderen" Lager könnten gläubige Juden in den jüdischen Gesetzen und der darauf beruhenden religiösen Kultur die kreative Flexibilität wiederentdecken, die Teil der jahrhundertealten Diasporakultur war. Und gemeinsam müssen sie auf die arabische Bevölkerung eingehen und sie als gleichberechtigte Staatsbürger behandeln. Die Alternative wäre die apokalyptische Weltlosigkeit. Dies sind die entscheidenden Aufgaben für Israels Zukunft. Franz Kafka soll einst geschrieben haben: "Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns." Willkommen im Nahen Osten.