Jüngste dschihadistisch motivierte Anschläge in Deutschland und Österreich wurden von politischen Reaktionen begleitet, die sich auf die Themen Migration und Asyl konzentrierten. Dabei wurden Maßnahmen vorgeschlagen, die darauf abzielen, Migrationsprozesse einzuschränken – vermeintlich, um weitere terroristische Gewalt und Radikalisierung zu verhindern. Nach dem Anschlag in Magdeburg vom 20. Dezember 2024 etwa wurde eine "deutliche Verschärfung der Migrationspolitik" gefordert;
Tatsächlich zeigen Statistiken zu Terroranschlägen in Europa in den vergangenen Jahren einen Anstieg der Zahl von Asylsuchenden unter den Tätern. Zwischen 2022 und 2025 waren gut 42 Prozent der Attentäter Asylsuchende.
Radikalisierung
"Radikalisierung" bezeichnet eine allmähliche Übernahme kognitiver und habitueller Muster, die darauf abzielen, grundlegende politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen herbeizuführen.
Erklärungsansätze zur Radikalisierung lassen sich in drei Kategorien einordnen: in deterministische, intentionale und relationale Ansätze.
Phänomenologisch betrachtet, verläuft der Radikalisierungsprozess auf individueller Ebene schrittweise ab (Abbildung): Auf eine Phase der Annäherung folgt eine Phase der Fokussierung, in der bestimmte Ideen, Themen, Quellen und Personen priorisiert werden und schließlich dominieren. Dies führt zu einer Art Tunnelblick sowie zu einer Realitätsverzerrung, die schließlich in die Wahrnehmung einer existenziellen Bedrohung für die Gruppe mündet, der sich die Person mittlerweile zugehörig fühlt – im hier diskutierten Kontext der imaginierten Gemeinschaft der Muslime weltweit. In dieser Phase der Identifizierung sieht man sich im Extremfall selbst als Kämpfer oder Märtyrer, das radikalisierte Denken wird zunehmend extremer, exklusiver und absoluter. Immer radikalere Ideen bauen aufeinander auf, nicht zuletzt unter dem Einfluss einer konstanten Propaganda und eines emotional verstärkten Feedbacks aus der radikalisierten Szene. Widersprüche oder andere Meinungen werden nicht mehr toleriert, da man meint, durch einen vermeintlich privilegierten Zugang zu geheimen Quellen innerhalb eines Kreises von Auserwählten die absolute Wahrheit zu erkennen.
Rekrutierer und soziale Kontakte in der islamistischen Szene tragen zu dieser kognitiven Entwicklung bei, indem sie Bedürfnisse instrumentalisieren und angeblich schwerwiegende, ja sogar existenzbedrohende Probleme, Ursachen und Lösungen in besonders überzeugender Weise formulieren.
Während die bisher skizzierten Mechanismen in allen Radikalisierungsprozessen unabhängig von der Ideologie beobachtet werden können, hängen ihre konkreten Erscheinungsformen stark vom Zeitgeist ab, insbesondere von aktuellen globalen oder regionalen Konflikten und der jeweils vorherrschenden Ideologie. Die Eingangsphase der islamistischen Radikalisierung in Europa war stark mit dem Beginn des Irakkriegs im Jahr 2003 verbunden, während später der Konflikt in Syrien und jüngst jener in Gaza eine zentrale Rolle in der dschihadistischen und salafistischen Kommunikation spielten. Hinsichtlich der Narrative sind die Motive jedoch konstant geblieben: Es geht nahezu immer um "ungerechte Unterdrückung", "Widerstand" und "Selbstverteidigung". Ebenso unverändert blieb das übergeordnete Ziel der globalen dschihadistischen Bewegung, fremde Einflüsse und Armeen aus muslimischen Ländern zu vertreiben. In diesem Zusammenhang versucht neuerdings auch der sogenannte Islamische Staat (IS), den Gaza-Konflikt von einem territorialen Konflikt in einen religiösen Krieg umzudeuten. Dies kann als Versuch interpretiert werden, die Hamas durch eine konkurrierende Erzählung zu überbieten – oder auch als eine Anpassung an co-radikalisierende Diskurse im Westen, die islamistische Radikalisierung tendenziell auf eine religiöse Frage reduzieren statt auch politische Fragen einzubeziehen.
Bei der Analyse der Entwicklung sozialer Bewegungen spielt das Konzept der "kausalen Mechanismen" eine große Rolle. Damit sind handlungsbasierte Erklärungsansätze gemeint, die aufzeigen, wie bestimmte Ereignisse zu bestimmten Ergebnissen führen.
Co-Radikalisierung
Die ursprüngliche Definition von Co-Radikalisierung umfasste "alle jene unbeabsichtigt phänomenunterstützende[n] Dynamiken (Mechanismen oder Interaktionsmuster), die sich aus der Reaktion verschiedener gesellschaftlicher Akteure – besonders aber des Staates – auf die (selektiv) wahrgenommene, vorgestellte oder faktisch sich vollziehende Radikalisierung eines Bevölkerungssegments ergeben. Co-Radikalisierung speist sich aus diversen Maßnahmen und Interventionen, die den Radikalisierungsprozess im Sinne unbewusster Phänomenunterstützung stärker befeuern als eindämmen."
Diese ursprüngliche Konzeptualisierung erfasste mehrere Analyseebenen: erstens die konkreten Maßnahmen und Reaktionen "auf einen sich tatsächlich oder vermeintlich radikalisierenden Akteur, zweitens die sich daraus ergebenden Mechanismen oder Dynamiken und drittens deren Auswirkungen im Hinblick auf den Prozess der Radikalisierung".
Rückblickend scheinen einige Konkretisierungen des Konzepts angebracht: Während es ursprünglich auf Gruppen angewandt wurde und sich weitgehend auf die Literatur zu sozialen Bewegungen stützte, kann Co-Radikalisierung auch auf individuelle Radikalisierungsprozesse angewandt werden. Darüber hinaus erscheint im Kontext der Interaktionen mit gegnerischen Gruppen oder Bewegungen sowie deren Auswirkungen auf Radikalisierung das Konzept der "kumulativen Radikalisierung" (cumulative radicalisation)
Angewandte Co-Radikalisierung
Während eine gezielte empirische Untersuchung und Messung von Co-Radikalisierungsmechanismen im Verhältnis zu herkömmlicher Radikalisierung noch aussteht, liefern erste Forschungsarbeiten bereits Hinweise darauf, dass Mechanismen der Co-Radikalisierung tatsächlich wesentliche Treiber von Radikalisierung sein können.
Eine zentrale Dimension des Radikalisierungsprozesses ist hierbei die Konstruktion und Wahrnehmung von Ungerechtigkeit sowie die daraus resultierende Legitimierung von Selbstverteidigungshandlungen. Maßnahmen und Diskurse, die Muslime pauschal kriminalisieren oder unter Generalverdacht stellen, können die Wahrnehmung von Marginalisierung, Deprivation, Entfremdung, Diskriminierung und Identitätskrisen verstärken. Eine frühe Studie zu den Auswirkungen der dänischen Antiradikalisierungspolitik etwa zeigte, dass durch die Gleichsetzung der gesamten muslimischen Gemeinschaft mit einzelnen radikalisierten Individuen eine "Verdachtsgemeinschaft" konstruiert wurde. Überdies lenkten diese Maßnahmen die politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit von strukturellen Problemen wie sozioökonomischer Ghettoisierung, mangelnder Integration und Diskriminierung ab, indem diese Probleme undifferenziert unter dem Begriff der Radikalisierung subsumiert wurden. Überdies zeigt die Studie, wie Wahrnehmungen von Diskriminierung, Entfremdung und Marginalisierung zu Gefühlen der Erniedrigung und zunehmender Selbstisolierung führen.
Anti-muslimische Rhetorik rechtspopulistischer Parteien in Reaktion auf islamistischen Terrorismus und Extremismus ist ein weiteres prägnantes Beispiel. Zentraler Hebel für die Übertragung von Ablehnung und Hass auf die gesamte muslimische Gemeinschaft ist hier die gezielte Gleichsetzung beziehungsweise bewusste Vermengung von Terrorismus, Islamismus und Islam oder die pauschale Verknüpfung von Islam und Kriminalität. Als Beispiel sei ein im Mai 2021 auf Facebook gepostetes Plakat der AfD Sachsen-Anhalt genannt: Während im Hintergrund zwei vollverschleierte Frauen abgebildet sind, vermittelt der Slogan die Botschaft "Der Islam gehört nicht zu Deutschland!".
Ob solche Diskurse und Maßnahmen tatsächlich einen direkten Einfluss auf Radikalisierung haben, ist schwierig festzustellen; Kausalitäten sind hier empirisch schwer nachzuweisen. Dies ist einer der Hauptgründe, warum alternative Ansätze zum oben erwähnten deterministischen Paradigma entwickelt wurden, die insbesondere menschliche Handlungsfähigkeit (agency) und politische Prozesse als zentrale Einflussfaktoren berücksichtigen. Auch das Modell individueller Radikalisierung geht nicht von einer direkten kausalen Verknüpfung zwischen strukturellen Ursachen wie Diskriminierung oder Marginalisierung und Radikalisierung aus. Vielmehr werden solche Faktoren in die Konzeptualisierung von Rekrutierung und Mobilisierung eingebettet.
Insbesondere die Anwerber innerhalb der islamistischen Szene und ihre diskursiven Strategien erfüllen hier eine zentrale Funktion. Während sich mit Sicherheit sagen lässt, dass zwar alle Muslime von Hassrhetorik betroffen sind, die meisten dadurch aber nicht radikalisiert werden, wirkt Co-Radikalisierung indirekt. "Bewegungsunternehmer", die zunehmend als Influencer auf Social Media aktiv sind, nutzen das Gefühl der Viktimisierung gezielt aus. Sie instrumentalisieren individuelle Erfahrungen, um Narrative von Unterdrückung, Ungerechtigkeit und der Notwendigkeit zur Selbstverteidigung zu konstruieren. Diskriminierende Maßnahmen, die ausschließlich Muslime oder Asylsuchende betreffen, sowie politische Diskurse, die Muslime oder Migranten kriminalisieren und ihnen eine besondere Affinität zu Terrorismus oder Kriminalität unterstellen, tragen wesentlich dazu bei, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster solcher Akteure zu bestätigen. Insbesondere wird dadurch die Vorstellung verstärkt, dass der Staat, seine Institutionen oder Europa insgesamt Muslime systematisch benachteiligten – bis hin zu extremeren Ideologien, die von einem umfassenden Krieg zwischen Muslimen und dem Westen ausgehen.
Auch staatliche Maßnahmen können Radikalisierung begünstigen. Der schon genannte Mechanismus der "eskalierenden Polizeimaßnahmen" fasst im Wesentlichen die Interaktion zwischen sozialen Bewegungen und dem Staat und bietet eine zentrale Erklärung für das Entstehen verdeckter politischer Gewalt. In den Worten der Bewegungsforscherin Donatella della Porta: "Politische Gewalt weltweit ist eng mit staatlichen Reaktionen auf soziale Bewegungen verknüpft, gleichsam wie ein makabres Wechselspiel. Ein Mechanismus der eskalierenden Polizeimaßnahmen kann sowohl in demokratischen als auch in autoritären Regimen als ursächlich für das Entstehen verdeckter politischer Gewalt identifiziert werden. In den hier analysierten Fällen führte eine reziproke Anpassung zu einer Eskalation der Protestformen und der polizeilichen Vorgehensweise. Polizeimaßnahmen wurden als hart, insbesondere aber als undifferenziert und ungerecht empfunden; einschneidende repressive Ereignisse trugen dazu bei, Gewalt zu legitimieren und militante Gruppen in die Illegalität zu drängen."
Ausblick
Es gibt Anzeichen dafür, dass islamistische Bewegungen auch in Europa bald eine Reife erreicht haben könnten, die eine komplexere Analyse ihres Verhältnisses zum Staat möglich macht. Nicht nur gewinnen salafistische und Hizb-ut-Tahrir-nahe Bewegungen zunehmend Mitglieder, sie sind auch besonders einflussreich im digitalen Raum geworden. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Botschaften ist die Problematisierung staatlicher Politiken, etwa der Waffenlieferungen an Israel oder der vermeintlich eindimensionalen Außenpolitik Österreichs und Deutschlands im Gaza-Konflikt. Insbesondere die fehlende Differenzierung im politischen Diskurs zwischen terroristischen Organisationen und der Zivilbevölkerung – die mitunter entweder ignoriert oder mit Terroristen gleichgesetzt wird – wird von diesen Gruppen instrumentalisiert. Ob islamistische Radikalisierung durch eine differenziertere Kommunikationsstrategie wirksam verhindert werden kann – etwa durch eine deutlichere Kritik an der für viele unverhältnismäßigen israelischen Reaktion auf den Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 oder der humanitären Lage in Gaza –, ist empirisch nicht eindeutig zu beantworten. Zumindest für den Attentäter von Mannheim im Mai 2024 scheint der Gaza-Krieg aber ein zentraler Faktor bei seiner Radikalisierung gewesen zu sein.