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Phänomen Co-Radikalisierung

Daniela Pisoiu

/ 12 Minuten zu lesen

Undifferenzierte staatliche und gesellschaftliche Reaktionen auf islamistische Radikalisierungsprozesse führen häufig zu verstärkter Radikalisierung. Eine solche „Co-Radikalisierung“ erschwert Präventionsmaßnahmen und verschärft das Problem, statt es zu lösen.

Jüngste dschihadistisch motivierte Anschläge in Deutschland und Österreich wurden von politischen Reaktionen begleitet, die sich auf die Themen Migration und Asyl konzentrierten. Dabei wurden Maßnahmen vorgeschlagen, die darauf abzielen, Migrationsprozesse einzuschränken – vermeintlich, um weitere terroristische Gewalt und Radikalisierung zu verhindern. Nach dem Anschlag in Magdeburg vom 20. Dezember 2024 etwa wurde eine "deutliche Verschärfung der Migrationspolitik" gefordert; nach dem Attentat in Aschaffenburg vom 22. Januar 2025 sollten die Grenzen geschlossen werden; nach dem Attentat in Villach vom 15. Februar 2025 wurde eine "anlasslose Massenüberprüfung" von Asylberechtigten aus Syrien und Afghanistan vorgeschlagen.

Tatsächlich zeigen Statistiken zu Terroranschlägen in Europa in den vergangenen Jahren einen Anstieg der Zahl von Asylsuchenden unter den Tätern. Zwischen 2022 und 2025 waren gut 42 Prozent der Attentäter Asylsuchende. Angesichts der Tatsache, dass es kein einheitliches Profil für Radikalisierung und Terrorismus gibt, wäre es jedoch ein Irrtum, die Ursachenforschung auf Merkmale wie den Aufenthaltsstatus, die Religion, die ethnische Herkunft oder den sozioökonomischen Status einer Person zu reduzieren. Diese Faktoren allein können das Phänomen weder erklären, noch erhellen sie die Ursachen und Mechanismen einer Radikalisierung. Hinzu kommt, dass politische Forderungen wie die eingangs angesprochenen potenziell "co-radikalisierende Effekte" haben, das heißt, sie können mitunter zu weiterer Radikalisierung führen, anstatt diese einzudämmen. Eine solche Co-Radikalisierung kann Präventionsmaßnahmen erheblich erschweren.

Radikalisierung

"Radikalisierung" bezeichnet eine allmähliche Übernahme kognitiver und habitueller Muster, die darauf abzielen, grundlegende politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen herbeizuführen. Radikalisierung ist in diesem Sinne ein normativ neutraler Begriff, der derzeit jedoch negativ konnotiert ist, da er eine Opposition zur liberal-demokratischen Ordnung impliziert, die selbst als positiv und fortschrittlich gilt. Historisch gesehen, waren die ersten als "radikal" bezeichneten Bewegungen tatsächlich progressiv, da sie zum Beispiel für Menschenrechte kämpften. Seit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Radikalismus und Radikalisierung jedoch eine deutlich negative Konnotation und implizieren eine schrittweise Entwicklung hin zu extremeren Formen der Militanz, einschließlich der Ausübung von Gewalt. Bezogen auf islamistische Radikalisierung beinhaltet der Begriff daher eine graduelle Entwicklung hin zu extremistischen oder gar terroristischen Ideen und Verhaltensweisen, wobei Extremismus grundsätzlich als antithetisch zur liberalen Demokratie verstanden wird.

Erklärungsansätze zur Radikalisierung lassen sich in drei Kategorien einordnen: in deterministische, intentionale und relationale Ansätze. Deterministische Ansätze konzentrieren sich auf ursächliche Faktoren und allgemeine strukturelle Erklärungen auf gesellschaftlicher oder individueller Ebene, etwa Diskriminierung, Erniedrigung, relative Deprivation oder Identitätskrisen. Intentionale Ansätze wiederum betrachten den jeweils individuellen Nutzen als Hauptantrieb für Radikalisierung, und das nicht nur in den Anfangsphasen, sondern auch als Erklärung dafür, warum Menschen in radikalen Bewegungen verbleiben. Verlockungen und positive Anreize wirken durch Feedbackschleifen aus dem sozialen Umfeld auf die individuelle Motivation ein. Auf Gruppenebene sind nach diesem Ansatz strategische und taktische Gründe ausschlaggebend dafür, dass Gruppen auf Terrorismus oder Gewalt zurückgreifen. Relationale Ansätze schließlich fokussieren auf Gruppenprozesse und Interaktionen zwischen Personen oder zwischen Gruppen und dem Staat. Normen, Werte und Gruppen- oder Bewegungssubkulturen spielen hier eine wichtige Rolle, ebenso sogenannte Bewegungsunternehmer – Ideologen oder Führungspersonen, die radikale Diskurse erzeugen und lenken, Anhänger rekrutieren und sie in Richtung Militanz beeinflussen. Umfassendere, auf empirischen Daten basierende Modelle versuchen, Elemente aus allen drei Ansätzen zu integrieren und so die entscheidenden Momente im Radikalisierungsprozess zu identifizieren.

Phänomenologisch betrachtet, verläuft der Radikalisierungsprozess auf individueller Ebene schrittweise ab (Abbildung): Auf eine Phase der Annäherung folgt eine Phase der Fokussierung, in der bestimmte Ideen, Themen, Quellen und Personen priorisiert werden und schließlich dominieren. Dies führt zu einer Art Tunnelblick sowie zu einer Realitätsverzerrung, die schließlich in die Wahrnehmung einer existenziellen Bedrohung für die Gruppe mündet, der sich die Person mittlerweile zugehörig fühlt – im hier diskutierten Kontext der imaginierten Gemeinschaft der Muslime weltweit. In dieser Phase der Identifizierung sieht man sich im Extremfall selbst als Kämpfer oder Märtyrer, das radikalisierte Denken wird zunehmend extremer, exklusiver und absoluter. Immer radikalere Ideen bauen aufeinander auf, nicht zuletzt unter dem Einfluss einer konstanten Propaganda und eines emotional verstärkten Feedbacks aus der radikalisierten Szene. Widersprüche oder andere Meinungen werden nicht mehr toleriert, da man meint, durch einen vermeintlich privilegierten Zugang zu geheimen Quellen innerhalb eines Kreises von Auserwählten die absolute Wahrheit zu erkennen.

Rekrutierer und soziale Kontakte in der islamistischen Szene tragen zu dieser kognitiven Entwicklung bei, indem sie Bedürfnisse instrumentalisieren und angeblich schwerwiegende, ja sogar existenzbedrohende Probleme, Ursachen und Lösungen in besonders überzeugender Weise formulieren. Hierdurch werden grundsätzlich normale individuelle Motivationen – wie das Streben nach Status und Anerkennung oder der Wunsch, die Welt zu verändern und sich neue Fähigkeiten anzueignen – kanalisiert und in die durch die radikale Ideologie vorgegebene Form gelenkt. In der Folge schottet sich die Person zunehmend von ihrem ursprünglichen sozialen Umfeld ab, wobei Veränderungen im Lebensstil beobachtbar werden, etwa bei der Wahl der Kleidung, der Ernährung, des Berufs oder der sozialen Kontakte.

Während die bisher skizzierten Mechanismen in allen Radikalisierungsprozessen unabhängig von der Ideologie beobachtet werden können, hängen ihre konkreten Erscheinungsformen stark vom Zeitgeist ab, insbesondere von aktuellen globalen oder regionalen Konflikten und der jeweils vorherrschenden Ideologie. Die Eingangsphase der islamistischen Radikalisierung in Europa war stark mit dem Beginn des Irakkriegs im Jahr 2003 verbunden, während später der Konflikt in Syrien und jüngst jener in Gaza eine zentrale Rolle in der dschihadistischen und salafistischen Kommunikation spielten. Hinsichtlich der Narrative sind die Motive jedoch konstant geblieben: Es geht nahezu immer um "ungerechte Unterdrückung", "Widerstand" und "Selbstverteidigung". Ebenso unverändert blieb das übergeordnete Ziel der globalen dschihadistischen Bewegung, fremde Einflüsse und Armeen aus muslimischen Ländern zu vertreiben. In diesem Zusammenhang versucht neuerdings auch der sogenannte Islamische Staat (IS), den Gaza-Konflikt von einem territorialen Konflikt in einen religiösen Krieg umzudeuten. Dies kann als Versuch interpretiert werden, die Hamas durch eine konkurrierende Erzählung zu überbieten – oder auch als eine Anpassung an co-radikalisierende Diskurse im Westen, die islamistische Radikalisierung tendenziell auf eine religiöse Frage reduzieren statt auch politische Fragen einzubeziehen.

Bei der Analyse der Entwicklung sozialer Bewegungen spielt das Konzept der "kausalen Mechanismen" eine große Rolle. Damit sind handlungsbasierte Erklärungsansätze gemeint, die aufzeigen, wie bestimmte Ereignisse zu bestimmten Ergebnissen führen. Unterschieden werden können Mechanismen, die beispielsweise den Beginn (klandestiner) politischer Gewalt erklären, und solche, die ihre Persistenz begreiflich machen. Zur ersten Kategorie zählen zum Beispiel eskalierende Polizeimaßnahmen, die zweite Kategorie umfasst unter anderem die Militarisierung von Handlungen, ideologische Abkapselung oder militante Abschottung. Insbesondere der erste Mechanismus ist ein paradigmatisches Beispiel für Co-Radikalisierung.

Co-Radikalisierung

Die ursprüngliche Definition von Co-Radikalisierung umfasste "alle jene unbeabsichtigt phänomenunterstützende[n] Dynamiken (Mechanismen oder Interaktionsmuster), die sich aus der Reaktion verschiedener gesellschaftlicher Akteure – besonders aber des Staates – auf die (selektiv) wahrgenommene, vorgestellte oder faktisch sich vollziehende Radikalisierung eines Bevölkerungssegments ergeben. Co-Radikalisierung speist sich aus diversen Maßnahmen und Interventionen, die den Radikalisierungsprozess im Sinne unbewusster Phänomenunterstützung stärker befeuern als eindämmen." Es geht also um die unbeabsichtigten Konsequenzen staatlicher Maßnahmen bei der Bekämpfung von Radikalisierung, die eher zu einer verstärkten Radikalisierung als zu ihrer Eindämmung beitragen. Die theoretischen Grundlagen des Konzepts beruhen auf zwei soziologischen Konzeptualisierungen: den unbeabsichtigten Folgen zielgerichteten sozialen Handelns nach Robert K. Merton und dem Konzept des Co-Terrorismus, das "alle Handlungs- oder Verhaltensweisen mit Bezug zum gegenständlichen Phänomenbereich" erfasst, "die unbewusst phänomenunterstützend wirken".

Diese ursprüngliche Konzeptualisierung erfasste mehrere Analyseebenen: erstens die konkreten Maßnahmen und Reaktionen "auf einen sich tatsächlich oder vermeintlich radikalisierenden Akteur, zweitens die sich daraus ergebenden Mechanismen oder Dynamiken und drittens deren Auswirkungen im Hinblick auf den Prozess der Radikalisierung". Letzteres bezog sich auf die Stärkung radikaler Bewegungen, die sich zum Beispiel am Provozieren einer Überreaktion des Staates – und damit der ideologischen Bestätigung einer Bewegung –, der Intensivierung von Gewalt, einer steigenden Akzeptanz in der Bevölkerung oder einer verstärkten Rekrutierung zeigen kann.

Rückblickend scheinen einige Konkretisierungen des Konzepts angebracht: Während es ursprünglich auf Gruppen angewandt wurde und sich weitgehend auf die Literatur zu sozialen Bewegungen stützte, kann Co-Radikalisierung auch auf individuelle Radikalisierungsprozesse angewandt werden. Darüber hinaus erscheint im Kontext der Interaktionen mit gegnerischen Gruppen oder Bewegungen sowie deren Auswirkungen auf Radikalisierung das Konzept der "kumulativen Radikalisierung" (cumulative radicalisation) im Sinne einer gegenseitigen Radikalisierung, angelehnt an das Konzept des kumulativen Extremismus (cumulative extremism), als passender. Eine zunehmende Radikalisierung infolge von Konkurrenz mit ähnlichen Bewegungen – oder Bewegungen, die auf dieselbe Anhängerschaft abzielen –, lässt sich zudem besser mit den Konzepten des "Überbietens" (outbidding) oder der "kompetitiven Eskalation" (competitive escalation) erklären.

Angewandte Co-Radikalisierung

Während eine gezielte empirische Untersuchung und Messung von Co-Radikalisierungsmechanismen im Verhältnis zu herkömmlicher Radikalisierung noch aussteht, liefern erste Forschungsarbeiten bereits Hinweise darauf, dass Mechanismen der Co-Radikalisierung tatsächlich wesentliche Treiber von Radikalisierung sein können.

Eine zentrale Dimension des Radikalisierungsprozesses ist hierbei die Konstruktion und Wahrnehmung von Ungerechtigkeit sowie die daraus resultierende Legitimierung von Selbstverteidigungshandlungen. Maßnahmen und Diskurse, die Muslime pauschal kriminalisieren oder unter Generalverdacht stellen, können die Wahrnehmung von Marginalisierung, Deprivation, Entfremdung, Diskriminierung und Identitätskrisen verstärken. Eine frühe Studie zu den Auswirkungen der dänischen Antiradikalisierungspolitik etwa zeigte, dass durch die Gleichsetzung der gesamten muslimischen Gemeinschaft mit einzelnen radikalisierten Individuen eine "Verdachtsgemeinschaft" konstruiert wurde. Überdies lenkten diese Maßnahmen die politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit von strukturellen Problemen wie sozioökonomischer Ghettoisierung, mangelnder Integration und Diskriminierung ab, indem diese Probleme undifferenziert unter dem Begriff der Radikalisierung subsumiert wurden. Überdies zeigt die Studie, wie Wahrnehmungen von Diskriminierung, Entfremdung und Marginalisierung zu Gefühlen der Erniedrigung und zunehmender Selbstisolierung führen.

Anti-muslimische Rhetorik rechtspopulistischer Parteien in Reaktion auf islamistischen Terrorismus und Extremismus ist ein weiteres prägnantes Beispiel. Zentraler Hebel für die Übertragung von Ablehnung und Hass auf die gesamte muslimische Gemeinschaft ist hier die gezielte Gleichsetzung beziehungsweise bewusste Vermengung von Terrorismus, Islamismus und Islam oder die pauschale Verknüpfung von Islam und Kriminalität. Als Beispiel sei ein im Mai 2021 auf Facebook gepostetes Plakat der AfD Sachsen-Anhalt genannt: Während im Hintergrund zwei vollverschleierte Frauen abgebildet sind, vermittelt der Slogan die Botschaft "Der Islam gehört nicht zu Deutschland!". In einem Antrag der AfD-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 2018 werden "Islam" und "Radikalisierung" in einem Atemzug genannt, während pauschal eine Rechtswidrigkeit islamischer Glaubensinhalte unterstellt wird ("Unvereinbarkeit von Islam, Scharia und Rechtsstaat – Der Radikalisierung den Boden entziehen, keine Verbreitung gesetzwidriger Lehren"). Bereits 2006 begleiteten in Österreich Plakate der FPÖ Wahlkampagnen mit Slogans wie "Daham statt Islam" oder später "Die Islamisierung gehört gestoppt" und "Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe". Zur Verstärkung dieser Rhetorik tragen die strategische Einbindung vermeintlicher Experten für Islamismus bei, die in Wirklichkeit schlicht islamfeindliche Positionen vertreten, sowie die zunehmende Verwendung des Begriffs "politischer Islam" im politischen Mainstreamdiskurs.

Ob solche Diskurse und Maßnahmen tatsächlich einen direkten Einfluss auf Radikalisierung haben, ist schwierig festzustellen; Kausalitäten sind hier empirisch schwer nachzuweisen. Dies ist einer der Hauptgründe, warum alternative Ansätze zum oben erwähnten deterministischen Paradigma entwickelt wurden, die insbesondere menschliche Handlungsfähigkeit (agency) und politische Prozesse als zentrale Einflussfaktoren berücksichtigen. Auch das Modell individueller Radikalisierung geht nicht von einer direkten kausalen Verknüpfung zwischen strukturellen Ursachen wie Diskriminierung oder Marginalisierung und Radikalisierung aus. Vielmehr werden solche Faktoren in die Konzeptualisierung von Rekrutierung und Mobilisierung eingebettet.

Insbesondere die Anwerber innerhalb der islamistischen Szene und ihre diskursiven Strategien erfüllen hier eine zentrale Funktion. Während sich mit Sicherheit sagen lässt, dass zwar alle Muslime von Hassrhetorik betroffen sind, die meisten dadurch aber nicht radikalisiert werden, wirkt Co-Radikalisierung indirekt. "Bewegungsunternehmer", die zunehmend als Influencer auf Social Media aktiv sind, nutzen das Gefühl der Viktimisierung gezielt aus. Sie instrumentalisieren individuelle Erfahrungen, um Narrative von Unterdrückung, Ungerechtigkeit und der Notwendigkeit zur Selbstverteidigung zu konstruieren. Diskriminierende Maßnahmen, die ausschließlich Muslime oder Asylsuchende betreffen, sowie politische Diskurse, die Muslime oder Migranten kriminalisieren und ihnen eine besondere Affinität zu Terrorismus oder Kriminalität unterstellen, tragen wesentlich dazu bei, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster solcher Akteure zu bestätigen. Insbesondere wird dadurch die Vorstellung verstärkt, dass der Staat, seine Institutionen oder Europa insgesamt Muslime systematisch benachteiligten – bis hin zu extremeren Ideologien, die von einem umfassenden Krieg zwischen Muslimen und dem Westen ausgehen.

Auch staatliche Maßnahmen können Radikalisierung begünstigen. Der schon genannte Mechanismus der "eskalierenden Polizeimaßnahmen" fasst im Wesentlichen die Interaktion zwischen sozialen Bewegungen und dem Staat und bietet eine zentrale Erklärung für das Entstehen verdeckter politischer Gewalt. In den Worten der Bewegungsforscherin Donatella della Porta: "Politische Gewalt weltweit ist eng mit staatlichen Reaktionen auf soziale Bewegungen verknüpft, gleichsam wie ein makabres Wechselspiel. Ein Mechanismus der eskalierenden Polizeimaßnahmen kann sowohl in demokratischen als auch in autoritären Regimen als ursächlich für das Entstehen verdeckter politischer Gewalt identifiziert werden. In den hier analysierten Fällen führte eine reziproke Anpassung zu einer Eskalation der Protestformen und der polizeilichen Vorgehensweise. Polizeimaßnahmen wurden als hart, insbesondere aber als undifferenziert und ungerecht empfunden; einschneidende repressive Ereignisse trugen dazu bei, Gewalt zu legitimieren und militante Gruppen in die Illegalität zu drängen." Della Porta veranschaulichte den Mechanismus der eskalierenden Polizeimaßnahmen empirisch anhand der Entwicklungen im Zusammenhang mit dem linksextremen Terrorismus der 1970er Jahre und wandte ihn anschließend auch auf die ETA in Spanien sowie islamistische Bewegungen in Ägypten an. Der ägyptische Fall ist ein treffendes Beispiel für diesen Mechanismus: Die brutale und willkürliche Repression gegenüber der islamischen Bewegung führte einerseits zur Politisierung der Muslimbruderschaft und andererseits zur Radikalisierung der Gruppierung Al Jamaa, deren Aktivisten zunehmend zur Militanz und zu gewaltsamen Aktionen griffen, um ihre politischen Ziele zu erreichen, und schließlich Untergrundorganisationen gründeten.

Ausblick

Es gibt Anzeichen dafür, dass islamistische Bewegungen auch in Europa bald eine Reife erreicht haben könnten, die eine komplexere Analyse ihres Verhältnisses zum Staat möglich macht. Nicht nur gewinnen salafistische und Hizb-ut-Tahrir-nahe Bewegungen zunehmend Mitglieder, sie sind auch besonders einflussreich im digitalen Raum geworden. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Botschaften ist die Problematisierung staatlicher Politiken, etwa der Waffenlieferungen an Israel oder der vermeintlich eindimensionalen Außenpolitik Österreichs und Deutschlands im Gaza-Konflikt. Insbesondere die fehlende Differenzierung im politischen Diskurs zwischen terroristischen Organisationen und der Zivilbevölkerung – die mitunter entweder ignoriert oder mit Terroristen gleichgesetzt wird – wird von diesen Gruppen instrumentalisiert. Ob islamistische Radikalisierung durch eine differenziertere Kommunikationsstrategie wirksam verhindert werden kann – etwa durch eine deutlichere Kritik an der für viele unverhältnismäßigen israelischen Reaktion auf den Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 oder der humanitären Lage in Gaza –, ist empirisch nicht eindeutig zu beantworten. Zumindest für den Attentäter von Mannheim im Mai 2024 scheint der Gaza-Krieg aber ein zentraler Faktor bei seiner Radikalisierung gewesen zu sein. Andererseits hat das Ausbleiben einer übermäßigen staatlichen Reaktion auf die sogenannten "Kalifat-Demos" in Deutschland vermutlich wesentlich dazu beigetragen, dass sich diese Bewegungen bislang nicht weiter radikalisiert haben und keine Gewaltspirale entstanden ist. Ob es sich dabei um eine bewusste oder zufällige (Nicht-)Reaktion gehandelt hat, sei dahingestellt. Vielleicht aber darf es als seltenes Beispiel eines staatlichen Lerneffekts gewertet werden.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien.