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Islamismus in Deutschland | Islamismus | bpb.de

Islamismus Editorial Kleine Geschichte des Islamismus Gegenwart und Zukunft des globalen Islamismus Islamismus in Deutschland. Entstehung, Strukturen und gesellschaftliche Debatten Islamistische Propaganda auf Social Media Nicht von dieser Welt. Muslimisches Selbstverständnis, Islamismus und die Rolle der Islamverbände - Essay Präventionsarbeit gegen Islamismus Phänomen Co-Radikalisierung

Islamismus in Deutschland Entstehung, Strukturen und gesellschaftliche Debatten

Michael Kiefer

/ 14 Minuten zu lesen

Die islamistische Szene in Deutschland ist in ihrer Heterogenität auch ein Spiegel der deutschen Migrationsgeschichte. Um den damit verbundenen Herausforderungen begegnen zu können, sind neue Formen und Formate der politischen Bildung und der Präventionsarbeit vonnöten.

Die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit Phänomenen und Strukturen des Islamismus in Deutschland ist nicht neu. Kontrovers verlaufende Debatten werden bereits seit den späten 1970er Jahren geführt. Ein wichtiges Ereignis ist in diesem Kontext der Ausbruch der Islamischen Revolution im Iran, die sich mit Massendemonstrationen im September 1978 zuspitzte. Der Schah verließ im Januar 1979 den Iran, und Ayatollah Khomeini konnte am 1. April 1979 die Islamische Republik Iran ausrufen.

Die damaligen Ereignisse lösten in den westlichen Staaten und damit auch in Deutschland ein enormes Medieninteresse aus. Der Islam war zum damaligen Zeitpunkt ein neues mediales Phänomen. Durch die Arbeitsmigration waren zwar seit den frühen 1960er Jahren zahlreiche muslimische "Gastarbeiter" nach Deutschland gekommen, das Interesse an der Kultur und der Religion der Arbeitsmigranten war jedoch sehr gering. Das hatte unterschiedliche Gründe: Zum einen betrachtete man die Anwesenheit von Arbeitsmigranten als ein vorübergehendes Phänomen, und zum anderen waren in dieser ersten Phase der Migration die "Gastarbeiter" mehr oder weniger unsichtbar, da sie in Wohnheimen und prekären Wohnumgebungen in den urbanen Siedlungsräumen untergebracht waren. Die Bilder aus Teheran, die zur besten Sendezeit die deutschen Wohnzimmer erreichten, sollten hier für einen grundlegenden Wandel sorgen: Muslime wurden in der medialen Berichterstattung erstmalig politisiert. Nahezu jeden Abend lieferten die Nachrichten und Magazine Bilder von wütenden und gewaltbereiten Männern, die offenkundig willens waren, für "den Islam" und ihre religiösen Führer alles zu tun.

Negativierung des Islambildes

Das "islamische Erwachen" generierte eine diffuse Bedrohungslage und sorgte für eine sukzessive Negativierung der islamischen Religion und ihrer Anhängerschaft in den westlichen Medien. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Negativierung leistete nicht zuletzt der 1987 erschienene Erfahrungsbericht "Nicht ohne meine Tochter" der US-amerikanischen Autorin Betty Mahmoody, die über ihren Zwangsaufenthalt im Iran berichtete. Die Erzählung zeichnet das Bild einer patriarchal organisierten islamisch geprägten Gesellschaft, in der männliche Gewalt zur Normalität gehört. Das Buch wurde international und auch in Deutschland zu einem Bestseller, der zahlreiche Auflagen erreichte. Kurz vor Beginn des Golfkrieges 1991 erschien eine Verfilmung des Buches, die international ebenfalls überaus erfolgreich war. Der Film leistete einen Beitrag zur Konstruktion eines Islambildes, in dem Muslime vor allem als religiöse Fanatiker vorkommen. Der US-amerikanische Filmkritiker Roger Ebert kommentierte die islamkritische Darstellung des Films seinerzeit so: "Der Islam ist keine Religion, die den westlichen Vorstellungen von Menschenwürde entspricht. Er scheint wenig Platz für das Konzept der individuellen Freiheit zu haben – insbesondere, wenn es um Frauen geht."

Islam und Islamismus

In der medialen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die ab Ende der 1970er Jahre in Deutschland einsetzte, gab es von Anfang an keine klaren Trennungslinien zwischen Islam und Islamismus. Der Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber hat darauf hingewiesen, dass es grundsätzlich zwei Positionen in Bezug auf den Zusammenhang von Islam und Islamismus gibt: Die Vertreterinnen und Vertreter einer ersten Position gehen davon aus, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Islam und Islamismus gebe, da der Islam Lebensweise und Politik umfasse. Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Position konstatieren hingegen, dass Islamisten den Islam für Ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Pfahl-Traughber selbst vertritt im Kontrast zu beiden Positionen die Auffassung von der "Islamismuskompatibilität des Islam". Islamisten vertreten also nicht die einzige, aber eine mögliche Version oder Lesart des Islam.

In der seit Jahrzehnten geführten Debatte zum Themenfeld "politischer Islam" gab es nie eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs "Islamismus". Der Islam ist eine Interpretationsreligion, die, im globalen Maßstab betrachtet, zahlreiche Erscheinungsformen aufweist. Folglich sind auch die Erscheinungsformen des Islamismus heterogen und mitunter schwer einzuordnen. Kontroverse Diskussionen gibt es bereits zur Terminologie: In der ersten Phase der Debatte wurde zum Beispiel häufig der Begriff "islamischer Fundamentalismus" verwendet. Es gab aber auch stets alternative Begriffskonzepte, etwa den Begriff "politischer Islam" oder die tautologisch anmutende Begriffskonzeption "politischer Islamismus", die von einem Expertenkreis des Bundesministeriums des Innern und für Heimat 2022 mit einer ausführlichen Arbeitsdefinition versehen wurde.

Auch wenn in der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatte zahlreiche unterschiedliche Positionen vertreten werden, kann grundsätzlich festgehalten werden, dass der Begriff "Islamismus" eine umfassende Ideologisierung des Islam beschreibt: "Diese konstruiert nach [dem Philosophen] Mohammed Arkoun den Islam als die einzig wahre Religion, die dem ewigen Pakt Gottes mit den Menschen entspricht: Der Islam enthalte das vollendete Recht für alle Gesellschaften und müsse zur Regelung aller Angelegenheiten herangezogen werden." Ungeachtet der Heterogenität islamistischer Strömungen können bei nahezu allen islamistischen Bewegungen vier zentrale Merkmale beobachtet werden:

Erstens wird der Islam als alleiniges Orientierungssystem verstanden. Islamisten gehen davon aus, dass ihr Konstrukt des Islams auf alle Fragen des privaten, gesellschaftlichen und politischen Lebens Antworten bereithält. Überaus deutlich wird dies in der zentralen Parole der Muslimbruderschaft "Der Islam ist die Lösung!", die bereits vom Gründer der Bruderschaft, Hasan al-Banna (1906–1949), in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt wurde.

Zweitens vertreten die Bewegungen eine Position des Literalismus. Die klassische islamische Theologie – so etwa der berühmte Korangelehrte Ibn al-Jazari (1350–1429) – betrachtet den Koran als einen Text, dessen Bedeutungsgehalt nie ganz ausgeschöpft werden kann. Genau dies wird von Islamisten bestritten. Sie propagieren, dass man zur ursprünglichen Botschaft des Korans zurückkehren müsse. Alle Aussagen seien bereits in einer unmissverständlichen Klarheit gegeben. Ein Interpretationsbedarf bestehe folglich nicht.

Drittens vertreten Islamisten einen Anspruch auf Exklusivität. Aus Koran und Hadith, den Überlieferungen des Propheten Mohammed, abgeleitete Prinzipien werden als absolut gesetzt. Eine Diskussion über diese Prinzipien und daraus abgeleitete Normen wird grundsätzlich abgelehnt. Islamisten gehen davon aus, dass nur sie für den "wahren" Islam stehen.

Viertens schließlich vertreten viele der unterschiedlichen islamistischen Strömungen eine antisemitische Weltsicht. "Zentral ist hier die dem modernen Antisemitismus entnommene Figur des jüdischen Verschwörers, der mit Rückgriff auf die Narrative des Korans zum zentralen Widersacher der islamischen Umma erklärt wird."

Geschichte und Erscheinungsformen des Islamismus

Struktur und Ideologie der in Deutschland tätigen islamistischen Organisationen werden nur verständlich vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Islamismus im globalen Kontext. Zunächst kann konstatiert werden, dass der Islamismus ein Phänomen der Moderne ist. Ausgangspunkt der islamistischen Bewegung war Mitte des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung, dass sich große Teile der islamischen Welt in einem kolonialen oder halbkolonialen Status befanden. Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft der islamisch geprägten Gesellschaften erschienen im direkten Vergleich mit den industrialisierten europäischen Ländern als hoffnungslos rückständig.

Die Grundlagen eines modernen islamistischen Diskurses wurden von dem charismatischen muslimischen Intellektuellen Dschamal ad-Din al-Afghani (1838–1897) und seinem ägyptischen Schüler Muhammad Abduh (1849–1905) gelegt. Beide vertraten unter anderem die Ansicht, dass die überlieferte Orthodoxie für den gesellschaftlichen Stillstand verantwortlich sei. Sie forderten eine Neuauslegung der heiligen Texte, die den ursprünglichen und authentischen Islam hervorbringen sollte, der von allen Verunreinigungen befreit sei. Zunächst fanden derartige Ideen nur bei kleinen Intellektuellenkreisen Anklang. Zu einem massenwirksamen Phänomen wurde der "Reformislam" erst durch den bereits erwähnten Ägypter Hasan al-Banna, der 1928 in Ägypten die Muslimbruderschaft als moderne Massenorganisation gründete. Al-Banna schuf erstmalig eine klare islamistische Agenda, die 1936 in der programmatischen Schrift "Aufbruch zum Licht" festgehalten wurde. Dieses Reformprogramm wurde in den vergangenen Dekaden von diversen islamistischen Organisationen – so etwa auch von der Hamas – variiert und neu aufgelegt.

Neben der Muslimbruderschaft, die als bedeutendste islamistische Organisation angesehen werden kann, gab es weitere Strömungen, die sich zunächst in regionalen Kontexten entwickelten und ausbreiteten. Anzuführen wären hier insbesondere die heterogenen salafistischen Strömungen, deren Ursprünge auf den Gelehrten Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703–1792) zurückgeführt werden können. Abd al-Wahhab, der in der Region des heutigen Saudi-Arabien tätig war, gelangte durch seine eklektizistische Quellenlektüre zu einer Islamauslegung, die die Lebensführung von Muslimen stark reglementierte. Der Wahhabismus proklamiert eine bipolare Weltsicht: Muslime, die die von ihm festgelegten Regeln befolgen, gelten als rechtgläubig. Diejenigen, die hiervon abweichen, gelten als ungläubig. Aus der Salafiyya bildeten sich im 20. Jahrhundert ein quietistischer und ein politischer beziehungsweise dschihadistischer Flügel heraus. Vor allem die dschihadistischen Netzwerke erzielten in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit ihren umfangreichen terroristischen Aktivitäten ein hohes mediales Interesse.

Prozesse der Radikalisierung konnten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch bei den anderen sunnitischen Strömungen beobachtet werden, die ursprünglich im Kontext der Muslimbruderschaft verortet waren. Deren Anhänger gerieten sukzessive in Konfrontation mit einer säkular-sozialistisch orientierten Staatsmacht. Eine zentrale Figur ist in diesem Zusammenhang Sayyid Qutb (1906–1966). Qutb, der 1966 in Ägypten hingerichtet wurde, verfasste im Gefängnis zahlreiche Schriften. Hervorzuheben ist sein Werk "Wegmarken", das zahlreiche Islamisten weltweit beeinflusst hat. Qutb propagierte in der Schrift eine "aktivistische Revolutionsideologie", die zum Kampf gegen die säkulare staatliche Ordnung aufrief.

Qutbs Ideologie wurde vor allem in der Phase des "Islamischen Erwachens" in den 1970er Jahren stark rezipiert. Der Panarabismus und damit verbundene sozialistische Gesellschaftsvorstellungen waren spätestens 1967 mit der Niederlage der arabischen Armeen gegen Israel gescheitert; die arabisch-nationalistischen Modelle, für die insbesondere das von Gamal Abdel Nasser regierte Ägypten eine Vorbildfunktion einnahm, befanden sich in einer dauerhaften Legitimitätskrise. Dem Panarabismus war "die Verwirklichung innerer Souveränität durch Schaffung stabiler Infrastrukturen" nicht gelungen. Hinzu kamen gravierende außenpolitische Misserfolge, wie sie symbolträchtig durch die Niederlage im Sechstagekrieg 1967 gegeben waren. Genau in dieser Phase schien der politische Islam eine aussichtsvolle Alternative zu sein. Verstärkt wurde diese Sicht der Dinge durch die angesprochene Islamische Revolution im Iran 1979. Die unmissverständliche Botschaft, die von diesem Ereignis ausging, war: Ein Systemwechsel ist möglich!

Seit den 1980er Jahren können zahlreiche islamistische Strömungen beobachtet werden, die sich im Hinblick auf Ausgangslage, Strategie und Zielsetzung erheblich unterscheiden. Neben den bereits erwähnten sunnitischen Strömungen suchte nun auch ein schiitisch geprägter Islamismus politischen Einfluss. Für diese Entwicklung steht insbesondere die militante Hisbollah, die 1982 die politische Bühne des Libanon betrat. Diese Organisation, die in erheblichem Ausmaß vom Iran unterstützt wurde, steht nun seit vier Dekaden für eine Politik des Terrors und der Destabilisierung der Region. Gleichfalls für Terrorismus im globalen Maßstab stehen auch die dschihadistischen Bewegungen sunnitischer Provenienz, etwa die al-Qaida, die seit Ende der 1980er Jahre aktiv ist und unter anderem für die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington verantwortlich war, sowie der sogenannte Islamische Staat, der aus al-Qaida hervorging und zeitweise in Syrien und im Irak größere Gebiete unter seine Kontrolle bringen konnte.

In quantitativer Hinsicht erheblich bedeutsamer sind jedoch die Strömungen des sogenannten legalistischen Islamismus. Dieser Begriff wurde zunächst von Sicherheitsbehörden benutzt und bezeichnet islamistische Organisationen, "die innerhalb der Rechtsordnung und mit demokratischen Mitteln langfristig eine Neuordnung der Gesellschaft auf der Grundlage eines Islamverständnisses anstreben, das nicht zuletzt von demokratiefeindlichen und grundrechtswidrigen Normen geprägt ist". Die wichtigste Organisation des legalistischen Islamismus ist die bereits skizzierte Muslimbruderschaft, die in zahlreichen Ländern – auch außerhalb der arabischsprachigen Welt – über eine beträchtliche Anhängerschaft verfügt. Zum Spektrum des legalistischen Islamismus gehören auch einige türkische Organisationen, unter anderem die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş. Diese ist auch in Deutschland aktiv. Ferner gehören in diesen Kontext legalistisch operierende Salafisten und Wahhabiten; diese waren unter anderem in Bosnien sehr aktiv. Eine weitere wichtige Bewegung ist die in zahlreichen Ländern aktive Hizb ut-Tahrir, die bereits im Jahr 1953 gegründet wurde und weltweit die Errichtung eines Kalifats anstrebt. Damit kämpft die Organisation explizit für ein Staatskonzept, in dem Demokratie (Volkssouveränität) und umfassende Bürgerrechte nicht vorkommen.

(Legalistischer) Islamismus in Deutschland

Genese und Ausbreitung islamistischer Strömungen stehen zeitlich und inhaltlich in einem engen Zusammenhang mit der Zuwanderung muslimischer Arbeitsmigranten, die 1961 mit dem Abschluss des Anwerbeabkommens mit der Türkei begann. Nahezu alle in Deutschland tätigen islamistischen Strömungen weisen Bezüge zu den skizzierten historischen Kontexten auf.

Der Anfang der 1960er Jahre einsetzende Zuzug muslimischer Arbeitsmigranten war seinerzeit bekanntlich nicht auf Dauer angelegt; sowohl die Arbeitsmigranten selbst als auch deren Arbeitgeber gingen davon aus, dass der Arbeitsaufenthalt begrenzt sein würde. Folglich fanden die kulturellen und religiösen Bedürfnisse der zugezogenen Menschen keine Berücksichtigung. Die Lebensbedingungen der zugewanderten, zumeist männlichen Arbeiter waren eher prekär. Insbesondere für Muslime gab es keine religiöse Infrastruktur: "Für gläubige Muslime gab es daher nur den Gebetsteppich, der vor der Fabrikhalle oder neben der Wohnbaracke einen Platz finden musste." Eine sukzessive Änderung setzte erst mit dem Anwerbestopp 1973 ein, der einer schweren Wirtschaftskrise geschuldet war. Arbeiten im Rotationsprinzip war nun nicht mehr möglich, und die "Gastarbeiter" stellten sich auf eine längere Aufenthaltsdauer ein. Viele Zugewanderte begannen nun, ihre Familien nach Deutschland zu holen. In diese Phase fällt auch die Gründung der ersten Hinterhofmoscheen. Die ab den frühen 1970er Jahren gegründeten Vereine bezogen sich zumeist auf Organisationen, die in der Türkei bereits tätig waren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien nachfolgend die wichtigsten Organisationen genannt.

Gruppen mit Bezügen zur Türkei

In Deutschland ist die Geschichte des legalistischen Islamismus in hohem Maße mit dem türkischen Islamismus verbunden. Die mit Abstand wichtigste und größte Organisation, über die seit vielen Jahren immer wieder sehr kontrovers diskutiert wird, ist die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG). Erste Vereine in Deutschland, die Bezüge zu dieser türkischen Bewegung aufwiesen, entstanden bereits Anfang der 1970er Jahre. Im Anschluss entstanden weitere Organisationen, die der Millî-Görüş-Bewegung zugerechnet wurden, die bis heute tätige Organisation "Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V." wurde 1995 gegründet. Als zentrale Figur der Bewegung gilt der türkische Politiker Necmettin Erbakan. "Erbakans ideologische Basis bestand aus türkischem Nationalismus und einem politischen Islam. Dieser war antiliberal, antisemitisch und gegen religiöse Minderheiten gerichtet." Erbakans Konzept der "gerechten Ordnung" ist nach Auffassung der Verfassungsschutzbehörden mit den Grundprinzipien einer freiheitlichen Demokratie nicht vereinbar. Inwieweit Erbakans Ideologie die heutige Organisation noch prägt und bestimmt, ist unklar und umstritten.

Neben der IGMG gibt es in Deutschland eine Reihe weiterer Organisationen, die über deutliche Bezüge zum türkischen Islamismus verfügen. Genannt seien hier nur der "Kalifatstaat" (Hilafet Devleti), die Furkan-Gemeinschaft sowie Organisationen, die im Übergangsbereich zwischen legalistischem Islamismus und türkischem Rechtsextremismus zu verorten sind. Hierzu zählt unter anderem die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (Avrupa Türk-İslam Birliği, ATİB).

Gruppen mit Bezug zu arabischen Staaten

Die bekannteste international tätige arabisch-islamistische Gruppierung ist die Muslimbruderschaft (MB). Die MB ist bereits seit den 1960er Jahren in Deutschland aktiv. Eine Vorläuferorganisation der "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) wurde ebenfalls schon 1960 gegründet. Formal tritt die IGD erst seit 1982 in Erscheinung. 2018 erfolgte eine Umbenennung, die Organisation firmiert seitdem unter dem Namen "Deutsche Muslimische Gemeinschaft" (DMG). Folgt man den Ausführungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz, dann besteht das Ziel der DMG unter anderem darin, "gegenüber Politik, Behörden und zivilgesellschaftlichen Partnern als Ansprechpartnerin eines vorgeblich gemäßigten, weltoffenen Islam in Erscheinung zu treten". Diese Zielsetzung sei jedoch, so der Verfassungsschutz, infrage zu stellen, da zwischen Funktionären der DMG und namhaften ausländischen Muslimbrüdern zahlreiche Verbindungen bestünden.

Neben der MB sind in Deutschland auch Wahhabiten, legalistische Salafisten und andere Strömungen tätig, die Verbindungen zu arabischen Staaten und zum Iran unterhalten. Hierzu zählen auch Anhänger der in Deutschland seit 2020 verbotenen Hisbollah, deren Zahl hierzulande jedoch eher gering ist.

Transnationale Gruppen

Seit den 1990er Jahren ist die transnational agierende Hizb ut-Tahrir (HuT) ebenfalls mit Aktivitäten in Deutschland sichtbar geworden. Die "Partei der Befreiung" kämpft seit den 1950er Jahren im internationalen Maßstab für die Einführung eines Kalifats. 2003 wurde gegen die HuT in Deutschland ein Betätigungsverbot erlassen. Akteure des Netzwerks sind aber nach wie vor in der Bundesrepublik aktiv. Auf der Straße und im Online-Islamismus treten insbesondere die Gruppen "Muslim Interaktiv", "Generation Islam" und "Realität Islam" in Erscheinung.

Dschihadismus

Bis Mitte der 2000er Jahre waren dschihadistische Akteure eher ein Randphänomen in Deutschland. Eine dramatische Veränderung brachten der syrische Bürgerkrieg und das Auftauchen des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Jahr 2013. Die Gründung eines "Islamischen Staates" auf der Grundlage der Scharia hatte eine enorm mobilisierende Wirkung. Die Zahl der Ausreisen nach Syrien stieg nach dem Juni 2014 stark an, zu dieser Zeit sind mehr als 1000 Personen aus dem militant-islamistischen Spektrum aus Deutschland nach Syrien ausgereist. Zur Hochphase des IS kam es in Europa zu zahlreichen schweren terroristischen Anschlägen, die auch Deutschland erschütterten. Häufig handelte es sich um "angeleitete" Anschläge, für die Netzwerke des IS verantwortlich waren. Dem islamistischen Terrorismus fielen in dieser Zeit in Deutschland und Europa zahlreiche Menschen zum Opfer. Der schwerste islamistische Anschlag dieser Art in Deutschland auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz forderte im Dezember 2016 13 Menschenleben, zuvor waren in Frankreich bei größeren Anschlägen in Paris im November 2015 und in Nizza im Juli 2016 mehr als 200 Menschen ermordet worden. Nach der militärischen Niederlage des Islamischen Staates 2017 im Irak und 2019 in Syrien nahm die Zahl der Anschläge in Europa erheblich ab, jedoch bestand weiterhin eine durchgehend hohe abstrakte terroristische Bedrohungslage. Seit dem Jahr 2024 ist erneut ein starker Anstieg terroristischer Aktivitäten zu verzeichnen. Ausgeführt werden diese Terrorakte zumeist von Einzeltätern, die teilweise auch über Kontakte zu dschihadistischen Strukturen verfügen.

Herausforderungen

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass der Islamismus (auch) in Deutschland ein heterogenes Phänomen ist, das für die Sicherheitsbehörden und die Zivilgesellschaft unterschiedliche und vielfältige Herausforderungen mit sich bringt. Zwei dieser Herausforderungen erscheinen besonders dringlich.

Zum einen besteht seit 2024 eine akute Bedrohungslage durch islamistisch motivierte Gewalttäter. Seit einigen Jahren treten vermehrt Einzeltäter in Erscheinung, die Gewaltakte mit Alltagsgegenständen (Messern, Kraftfahrzeugen und Ähnlichem mehr) begehen. Diese Täter verfügen über eine diffuse Ideologie und sind organisatorisch kaum oder gar nicht in die klassischen dschihadistischen Netzwerke eingebunden. Ferner zeigen sich häufig gravierende psychische Störungen. Einige der Täter weisen eine Fluchtgeschichte auf, die mit einer unklaren Bleibeperspektive verbunden ist. Mit den üblichen polizeilichen Mitteln kann dieser neue Tätertypus im Vorfeld einer Tat kaum erfasst werden. Erforderlich ist hier ein Gefährdungsmanagement, in dem Flüchtlingseinrichtungen, Institutionen des Gesundheitswesens (zum Beispiel Psychiatrien) und Polizei dauerhaft zusammenarbeiten.

Erhebliche Herausforderungen bereitet zum anderen das legalistische Spektrum des Islamismus. Insbesondere Akteure, die der Hizb ut-Tahrir nahestehen, praktizieren in Deutschland eine neue hybride Strategie, die systematisch auf den öffentlichen und digitalen Raum zugreift. Derzeit werden der Krieg im Gazastreifen und alltägliche Diskriminierungserfahrungen in Deutschland in einem Diskurs miteinander verbunden, in dem Muslime stets als Opfer erscheinen. Die umfangreichen Aktivitäten von "Muslim Interaktiv", "Realität Islam" und "Generation Islam" generieren ein bipolares Weltbild, in dem Muslime stets von muslimfeindlichen Mächten oder Akteuren bedrängt werden. Vor allem "Muslim Interaktiv" hebt sich seit einigen Jahren deutlich von der üblichen salafistischen Propaganda ab: "Die Frontmänner von ‚Muslim Interaktiv‘, ‚Realität Islam‘ und ‚Generation Islam‘ inszenieren sich nicht als religiöse Autoritäten, sondern als Macher und Macker sowie als popkulturelle Führer einer migrantisch-identitären Jugendbewegung. Trendige Klamotten, Gangsterpose, Rapperhabitus, das Protzen mit Muscle-Cars und Kampfsportkörpern gehören zum Image. Die Ansprache ist selbstbewusst, chauvinistisch und subkulturell. Die Feinde sind Medien, Demokratie, Amerika, Schwächlinge, Homosexuelle und natürlich Israel. Nicht Anpassung, sondern Abgrenzung lautet die Botschaft."

Gegen diese krude Mixtur können die üblichen Präventionsformate nur wenig ausrichten. Die schulische und außerschulische politische Bildung braucht dringend neue Formate, mit denen der vielerorts abgerissene Dialog mit den heterogenen muslimischen Communitys wieder aufgenommen werden kann.

ist Professor für Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft mit dem Schwerpunkt muslimische Wohlfahrtspflege am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.