Um Gegenwart und Zukunft des globalen Islamismus
Seinen Ausgangspunkt findet der globale Islamismus jedoch in der Ideologie von Hasan al-Banna und der Gründung der Muslimbruderschaft im Ägypten der 1920er Jahre. Beides übte großen Einfluss auf den ägyptischen Islamisten Sayyid Qutb aus, dessen Ansichten später führende Al-Qaida-Ideologen prägten, darunter auch Osama bin Laden und Aiman al-Sawahiri. Letzterer schrieb Qutb zu, "der Funke gewesen zu sein, der die islamische Revolution gegen die inneren und äußeren Feinde des Islams entfachte".
Die Muslimbruderschaft und ihre salafistische Weltsicht gehören zu den einflussreichsten Denkschulen der islamistischen politischen Bewegungen und jener Gruppierungen, die Regierungen nach islamischen Prinzipien anstreben. Die Bruderschaft wurde 1928 von Hasan al-Banna als religiöse Wohltätigkeitsorganisation gegründet, die sich der Wiederbelebung der islamischen Werte in Ägypten verschrieb. Im Laufe der Zeit wurde sie zu einem wichtigen Einflussfaktor innerhalb der islamistischen Bewegung und bei der Entwicklung ihrer späteren salafistisch-dschihadistischen Ableger. Während der Zeit der britischen Kolonialherrschaft und der säkularen Politik der ägyptischen Monarchie – und auch unter dem noch strengeren Säkularismus unter dem autoritären Regime Gamal Abdel Nassers – unterstützte die Muslimbruderschaft politische Aktionen, die auf eine Wiederbelebung des Islams sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben abzielten. Politische Gewalt wurde nach dem Staatsstreich von 1952 und insbesondere nach dem gescheiterten Attentat auf Nasser 1954, auf das weitere staatliche Repression folgte, zu einem zentralen Merkmal der Aktivitäten und der ideologischen Entwicklung der Bruderschaft.
In der Wissenschaft werden drei Schulen des Salafismus unterschieden: der quietistische Salafismus, der politische Salafismus und der dschihadistische Salafismus, auch Salafi-Dschihadismus genannt, unter dem sich die meisten sunnitischen Dschihadisten weltweit vereinen. Diese Ideologie ist ein spezifischer Strang des militanten sunnitischen Islamismus und eng mit jenen Gruppen verknüpft, die die Notwendigkeit betonen, zu einem "reinen" Islam zurückzukehren, wie er von den Salaf, den "frommen Vorfahren", praktiziert wurde – und die glauben, dass der gewaltsame Dschihad für diese Rückbesinnung eine religiöse Pflicht eines jeden Gläubigen ist. Im Folgenden geht es um die heutigen Erscheinungsformen dieses globalen Islamismus,
Ideologie des salafistischen Dschihadismus
Der Salafismus ist die vorherrschende Ideologie von Gruppen wie al-Qaida und dem Islamischen Staat und spiegelt die Idee wider, dass der gewaltsame Dschihad der einzige Weg zur Verteidigung der islamischen Welt sei. Bevor sie vom IS als dominante salafistisch-dschihadistische Gruppe an den Rand gedrängt wurde, hatte sich al-Qaida als Speerspitze dieser Bewegung in Stellung gebracht. Während sich die Bestrebungen der Gruppe zunächst vor allem darauf konzentrierten, die USA und "den Westen" aus dem Nahen Osten zu vertreiben – insbesondere von den Militärbasen in Osama bin Ladens Heimatland Saudi-Arabien –, konzentrierte sich al-Qaida später darauf, durch gewaltsame Aktionen die mit den USA verbündeten Regierungen in der Region zu stürzen. In seiner Dschihad-Erklärung gegen die USA von 1996 behauptete bin Laden, dass der Westen und insbesondere die Vereinigten Staaten den Muslimen und ihrer Religion offen feindlich gegenüberstünden. Die einzige Reaktionsmöglichkeit darauf sei extreme Gewalt. Die salafistisch-dschihadistische Ideologie macht dabei in der Regel keinen Unterschied zwischen "dem Westen" und Israel, gemeinhin wird von einer "Kreuzfahrer-Zionisten-Allianz" gesprochen – ein Topos, der auch in Verlautbarungen von anderen islamistischen Gruppierungen auftaucht, sowohl bei Sunniten als auch Schiiten, vom Libanon bis nach Palästina. In seinen Reden forderte bin Laden seine Anhänger auf, sich zur Wehr zu setzen und die Muslime gegen die Vereinigten Staaten zu verteidigen, die gegen die Muslime "einen Ozean der Unterdrückung, der Ungerechtigkeit, des Abschlachtens und der Plünderung" geschaffen hätten.
Abdullah Azzam, ein palästinensischer Islamist, der so etwas wie ein Mentor bin Ladens war, hielt die Weltanschauung der Muslimbrüder für zu provinzlerisch und beschränkt. Anstatt sich auf die lokale Ebene zu konzentrieren, trieb Azzam eine Ideologie voran, die sich auf eine "territoriale Sicht des Islam" gründete, letztlich mit dem Ziel, sämtliche Ungläubige aus muslimischen Ländern zu vertreiben.
Ein entscheidender Beschleuniger für die Ausbreitung des salafistischen Dschihadismus war dann die sowjetische Invasion in Afghanistan und der darauf folgende Zustrom von Muslimen aus dem gesamten Nahen Osten, die sich den einmarschierenden Truppen entgegenstellten. Bin Laden reiste Anfang der 1980er Jahre, kurz nach Beginn des afghanisch-sowjetischen Krieges (1979–1989), zunächst nach Pakistan und wurde dort zu einem "zentralen Financier der Mudschaheddin".
Al-Qaida und die Taliban
Die sunnitische Gruppierung der Taliban (auf Arabisch: "Schüler") beherrschte zwischen 1996 und 2001 weite Teile Afghanistans. Die Gruppe war die wichtigste aufständische Fraktion, die den Kampf gegen die USA aufnahm, als die ersten amerikanischen Truppen nach den Terroranschlägen von 9/11 im Jahr 2001 in Afghanistan eintrafen. Fast zwei Jahrzehnte nach ihrem Sturz durch das US-Militär stürmten die Taliban im August 2021 zurück an die Macht und übernahmen wieder die Kontrolle über das Land. Sie regieren Afghanistan derzeit auf ähnliche Weise wie in den 1990er Jahren: Sie verweigern Frauen grundlegende Rechte, bieten transnationalen Terrorgruppen wie al-Qaida einen sicheren Hafen und regieren mit eiserner Faust, um die Scharia durchzusetzen. Für andere islamistische Gruppen, etwa die HTS in Syrien, waren die Taliban Inspirationsquelle und Vorbild für eine "gute islamische Staatsführung" – wenngleich insbesondere die HTS durch eine stärkere Einbeziehung von Frauen und größere Toleranz gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten in der Praxis deutlich davon abwich.
Die Ideologie der Taliban beruht auf drei Hauptideen: Erstens vertritt die Gruppe den sogenannten Deobandismus, eine revivalistische Denkschule, die ursprünglich in Indien entstand. Während des afghanisch-sowjetischen Krieges verherrlichten die fundamentalistischen Koranschulen in Afghanistan und Pakistan den Kampf gegen die Sowjets und pochten auf die Gründung eines islamischen Staates.
Als Akteur entstanden die Taliban in den Nachwehen des afghanisch-sowjetischen Krieges beziehungsweise des Bürgerkrieges, der das Land nach dem Fall des afghanisch-kommunistischen Regimes erfasste. Die von ihnen ab Mitte der 1990er Jahre errichtete Regierung bezeichneten sie als "Islamisches Emirat Afghanistan", die Art und Weise ihres Regierens bestand vor allem in einer besonders strengen Auslegung der Scharia. Ihre "Religionspolizei" setzte unter anderem durch, dass Frauen zur Vollverschleierung eine Burka tragen und Männer sich einen Bart mit gewisser Länge wachsen lassen mussten.
Während die Taliban in Afghanistan an Macht gewannen, wurden die Aktivitäten von al-Qaida, das sich zwischenzeitlich im Sudan angesiedelt hatte, 1996 weitgehend unterbunden. Viele ihrer Kämpfer wurden ausgewiesen, nachdem die sudanesische Regierung unter zunehmenden internationalen Druck geraten war, effektiver gegen die Terrorgruppe vorzugehen. Die Taliban luden al-Qaida daraufhin nach Afghanistan ein, wo die Organisation ihre Finanzen wieder aufbauen und ihr Netzwerk erheblich ausweiten konnte. Von diesem neuen afghanischen Zufluchtsort aus veröffentlichte Osama bin Laden 1996 und 1998 seine beiden "Kriegserklärungen" an die USA.
Al-Qaida verhalf den Taliban in den 1990er Jahren zu wichtigen finanziellen Einnahmen und füllte auch deren kämpfende Reihen wieder auf. Im Gegenzug genoss die Terrororganisation einen sicheren Hafen in Afghanistan, von wo aus sie weltweite Anschläge planen konnte. Aus einem Bericht des US-Außenministeriums vom Juli 2001 geht hervor, dass US-Diplomaten und -Beamte die Taliban bei dreißig verschiedenen Gelegenheiten gedrängt hatten, bin Laden auszuliefern, auszuweisen oder aufzugeben.
Islamischer Staat
Der Islamische Staat hat sich als die strengste aller salafi-dschihadistischen Gruppen erwiesen und stellt mit seiner strikten Auslegung der Scharia sogar al-Qaida in den Schatten. Die vom IS praktizierte Form des Islam wurde treffend als "ungebändigter Wahhabismus" beschrieben, der es, um seine Mission der "Reinigung der Glaubensgemeinschaft" voranzutreiben, als eine Notwendigkeit ansieht, alle jene zu töten, die ihm als Ungläubige gelten.
Das Festhalten der Gruppe an einer solch strengen und unnachgiebigen Auslegung des Islam erinnert an die Al-Qaida-Abspaltung "Al-Qaida im Irak" (AQI) – selbst die Führungsspitze von al-Qaida sah die extreme Gewalt des IS als kontraproduktiv an.
Die Ideologie des IS beruht auf einer extremistischen Lesart der islamischen Schriften,
Der Aufstieg des Islamischen Staates hat nicht nur die Unterschiede zwischen den programmatischen Inhalten der salafistisch-dschihadistischen Gruppen, sondern auch jene zwischen den bevorzugten Regierungsformen deutlich hervortreten lassen. Al-Qaida und IS unterscheiden sich sowohl in Bezug auf die ideologischen Ziele als auch in Hinblick auf die Mittel, um diese zu erreichen. Während al-Qaida für einen allmählichen ideologischen Wandel eintritt und sich darauf konzentriert, die muslimischen Communitys zu erreichen und ihre Unterstützung zu gewinnen, bevor sie die ihrer Ansicht nach "abtrünnigen" Regierungen stürzen, verfolgt der Islamische Staat das Ziel, Regierungen und Strukturen ohne viel Aufhebens auszuschalten und die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Die ungemein schnelle Errichtung des inzwischen zerstörten Kalifats beruhte nicht auf dem Ansatz "Herz und Verstand", sondern auf brutalen Taktiken zur Durchsetzung von Kontrolle. Was die Regierungsführung anbelangt, so übt al-Qaida nie direkt die Regierungsgewalt aus, sondern unterstützt stattdessen lokale Bewegungen über ihr großes Netzwerk von Partnerorganisationen. Anders der IS in Syrien und im Irak: In den von ihm kontrollierten Gebieten baute er ein Regierungssystem auf, das neben religiösen Projekten auch bildungspolitische, juristische, sicherheitspolitische und infrastrukturelle Maßnahmen umfasste. Auch wenn der IS weit davon entfernt war, eine stabile oder gar als "gerecht" empfundene Herrschaft zu errichten, konnte er doch kurzfristig das Regierungsvakuum im Irak und in Syrien nutzen, um an Legitimation zu gewinnen.
Haiʾat Tahrir asch-Scham
Neben den Taliban in Afghanistan gibt es eine weitere islamistische Gruppe mit salafistisch-dschihadistischen Wurzeln, die derzeit einen Nationalstaat regiert. In Syrien übt die Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) de facto die Regierungsgeschäfte aus, nachdem sie im Dezember 2024 das Regime von Baschar al-Assad gestürzt hat. An der HTS zeigt sich manche Entwicklung des globalen Islamismus, zumal diese Gruppe zweifellos als Modell für andere islamistische Gruppen dienen wird. Zugleich zeigt sich an ihr auch das sich wandelnde Wesen dieser Gruppen, denen oft fälschlicherweise ein unerschütterliches und starres Bekenntnis zu einem einzigen Ideenpool zugeschrieben wird, obwohl sie mitunter, nicht zuletzt aus Eigeninteresse, Allianzen wechseln und Zielsetzungen ändern.
Die ursprünglich als Al-Nusra-Front bekannt gewordene Gruppe wurde 2012 in Syrien gegründet, spaltete sich aber im folgenden Jahr bereits vom Islamischen Staat ab.
Während Experten für Terrorismusbekämpfung noch darüber diskutierten, ob die jüngste Umbenennung von JFS in HTS als eine echte Loslösung von al-Qaida zu werten sei, wurde im Laufe des Jahres 2017 deutlich, dass die Abspaltung tatsächlich mehr als nur eine nominelle Umbenennung bedeutete. Abu Sulayman al-Muhajir, ein ranghoher Anführer der Al-Nusra-Front, bestätigte die Abspaltung von al-Qaida, während deren Vordenker Abu Muhammad al-Maqdisi öffentlich den Bruch zwischen HTS und al-Qaida kritisierte und die HTS für die Abspaltung verantwortlich machte.
Spätestens im Sommer 2019 traten die ideologischen, strategischen und taktischen Differenzen zwischen HTS und al-Qaida offen zutage. Die HTS verlagerte ihren Schwerpunkt vom transnationalen Dschihadismus auf einen stärker ortsgebundenen, auf Syrien konzentrierten Ansatz, der darauf abzielte, das Assad-Regime zu stürzen und eine islamische Staatsführung in Syrien zu errichten, statt einen globalen Dschihad zu führen. Die Gruppe erklärte öffentlich ihre Bereitschaft, sich an einen von der Türkei, dem Iran und Russland ausgehandelten Waffenstillstand zu halten. Überdies nahm die HTS an Wahlen teil, übergab die Macht in ihrem Einflussbereich an eine technokratische (nicht: theokratische) Regierung und bemühte sich in regelmäßigen Abständen darum, einen politischen Dialog mit westlichen Ländern zu etablieren.
Bevor sie im November und Dezember 2024 Damaskus stürmte, hatte die HTS jahrelang die Provinz Idlib und andere Teile im Nordwesten Syriens unter ihrer Kontrolle. Ob sie sich mittelfristig als stabiler Akteur in ganz Syrien und verlässlicher Partner des Westens etablieren kann, steht derzeit in den Sternen. Ihre bisherigen Wandlungen lassen dies aber nicht ausgeschlossen erscheinen.
Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff, Dresden