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Kleine Geschichte des Islamismus

Gudrun Krämer

/ 15 Minuten zu lesen

Seit den Anfängen des Islamismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich seine Organisations-, Aktions- und Erscheinungsformen deutlich ausdifferenziert. Seitdem ist er in ständiger Bewegung. Phasen der Mäßigung wechseln sich mit solchen der Radikalisierung ab.

Durchaus ungewöhnlich in der Ideengeschichte, lassen sich die Anfänge des Islamismus genau bestimmen, und dies wohl vor allem, weil er nicht allein als Idee beziehungsweise Ideologie auftrat, sondern als organisierte Bewegung. An seinem Anfang steht die 1928 von dem jungen Arabischlehrer Hasan al-Banna (1906–1949) gegründete Muslimbruderschaft, die sich im Verlauf zweier Jahrzehnte von einem provinziellen Frömmigkeitsverein zu einer landesweiten Massenorganisation entwickelte. Auf den Ideen sunnitisch-islamischer Reformer des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts aufbauend, die gemeinhin als Salafiyya bezeichnet werden (nicht zu verwechseln mit den heutigen Salafisten), propagierte al-Banna einen "zeitgenössischen" und in diesem Sinne modernen Islam, der die Muslime geistig und körperlich ertüchtigen und zugleich politisch ermächtigen sollte – ein Empowerment im Zeichen eines seinerseits erneuerten und dynamisierten Islams.

In einer Zeit, in der Ägypten zwar nominell unabhängig war, de facto aber weiterhin im Schatten des britischen Kolonialismus stand, profilierten sich die Muslimbrüder als antikoloniale, antisäkulare und antiliberale Bewegung; ihre Gegner waren neben dem britischen Kolonialismus und dem ebenfalls als kolonial wahrgenommenen Zionismus in Palästina ägyptische Liberale, Freigeister und Sozialisten. Rückhalt fanden die Muslimbrüder nicht nur, wie andere intellektuelle und politische Kräfte ihrer Zeit, unter der neuen städtischen Mittelschicht ("Efendiyya"), sondern auch unter kleinen Angestellten, Ladenbesitzern, Handwerkern, Arbeitern und selbst Bauern. In den 1940er Jahren zogen sie erstmals in nennenswerter Zahl Studenten an. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählten sie bereits mehrere Hunderttausend Mitglieder. Unter der Monarchie war die Muslimbruderschaft die einzige gesellschaftliche und politische Kraft, die sich nicht aus den klientelistischen Netzwerken der landbesitzenden Oberschicht heraus entwickelte, sondern aus der Mitte der Gesellschaft.

Hasan al-Banna vertrat eine Strategie der Reform, die über Graswurzelarbeit und die Mission (arabisch: daʿwa) wirkte, nicht die Revolution. Das Parteiensystem lehnte er ab, stand aber loyal zum ägyptischen Königshaus. Insgesamt war sein Auftreten mehrdeutig, ja widersprüchlich: Während er Behutsamkeit anmahnte, Gewalt gegen Muslime verurteilte und für einen Islam der Mitte warb, predigte er seinen jungen Anhängern in militärischer Diktion den Dschihad und duldete in den 1940er Jahren einen Geheimapparat, der Anschläge auch gegen politische Gegner verübte. Die Widersprüche führten in den eigenen Reihen zu Verwirrung und erregten unter Außenstehenden Misstrauen. Dementsprechend gespalten fällt das Urteil von Zeitgenossen und heutigen Betrachtern über Person und Werk al-Bannas aus.

Aufstieg und Radikalisierung

Der Zweite Weltkrieg und die Gründung des Staates Israel veränderten Politik und Gesellschaften des arabischen Vorderen Orients grundlegend. Zwischen 1949 und 1969 brachte eine Serie von Militärcoups Regime neuen Typs an die Macht, die sich über ihre arabische Identität, soziale Leistungen und die Konfrontation mit Israel legitimierten. Den Putsch der Freien Offiziere in Ägypten unterstützten 1952 auch zahlreiche Muslimbrüder. Sehr rasch zeigte sich allerdings, dass die Offiziere keine autonomen Kräfte neben sich duldeten. Nach einem (gescheiterten) Anschlag auf Gamal Abdel Nasser wurden Mitte der 1950er Jahre Tausende von Muslimbrüdern und anderen Regimekritikern in Lagern interniert, viele gingen in den Untergrund oder ins Exil. Das Exil in den religiös und sozial konservativen arabischen Golfstaaten verstärkte zwei Trends: die Internationalisierung der "islamischen Strömung", wie die gängige arabische Bezeichnung lautet, und ihre konservative Grundhaltung.

Die Muslimbruderschaft hatte sich unter kolonialen Vorzeichen entfaltet. Der radikale, dschihadistische Islam(ismus) hingegen ist als Idee und Bewegung eine postkoloniale Erscheinung. Theoretisch begründet wurde er in der ersten Hälfte der 1960er Jahre von Sayyid Qutb (1906–1966), der sich in den frühen 1950er Jahren (also nach al-Bannas Tod) den Muslimbrüdern angeschlossen hatte. Aufstieg und Radikalisierung der islamischen Bewegung können daher nicht allein mit dem "Scheitern" des arabischen Nationalismus und Sozialismus und der arabischen Niederlage gegen Israel im Junikrieg von 1967 erklärt werden: Qutb wurde bereits vor dem Junikrieg exekutiert und sein radikales Manifest "Wegmarken" um 1964 verbreitet.

Als studierter Literaturwissenschaftler zählte Qutb zu der neuen Kategorie "islamischer" Denker, die auch ohne formale Qualifikation als islamische Religions- und Rechtsgelehrte Anspruch auf religiöses Wissen, ja auf religiöse Autorität erhoben. Er griff bestehende Traditionsfäden auf und verlieh ihnen neues Gewicht und eine neue Färbung. Unter Berufung auf den Koran rückte er das Argument in den Mittelpunkt, das den islamistischen Diskurs über Jahrzehnte bestimmen sollte: Sure 5:44, 45 und 47 zufolge ist derjenige kein Muslim, der "nicht danach urteilt, was Gott herabgesandt hat". Qutb identifizierte das "Herabgesandte" mit der Scharia und verband die koranische Aussage mit dem modernen Konzept der Hakimiyya (der zugrundeliegende Terminus hukm oszilliert zwischen Recht/Urteil und Politik/Herrschaft), das Gott als souveränen "Gesetzgeber" kennzeichnet und menschliche Autonomie und Freiheit nicht allein in rechtlichen Fragen begrenzt. Weitergehend unterschied er eine Gesellschaft, in der Menschen über Menschen herrschen und von Menschen gemachten Gesetzen gehorchen, von einer Gesellschaft, die sich allein Gottes Herrschaft, Urteil und Gesetz unterwirft. Die Absage an menschliche Macht und Willkür – unter einem autoritären Militärregime – zeichnete Qutb in den Augen vieler als Befreiungstheologen aus. Zugleich deutete er den Begriff Jahiliyya (Unwissenheit) von einer Bezeichnung für die vorislamische Epoche, in der die Menschen den Islam nicht gekannt haben konnten, in eine überzeitliche moralische Kategorie um: Jahiliyya war demnach die bewusste, schuldhafte Leugnung der Offenbarung, eine Revolte gegen Gott und gleichbedeutend mit Apostasie. Gegen die Feinde Gottes aber war der Dschihad legitim, möglicherweise sogar Pflicht, selbst wenn diese sich selbst für Muslime hielten. Qutb "erfand" die Neologismen Hakimiyya und Jahiliyya nicht – sie hatte der indo-pakistanische Journalist und Aktivist Abul Ala Maududi (1903–1979) in den 1940er Jahren im kolonialen Indien auf Urdu bereits in ähnlicher Weise belegt. Aber er unterfütterte sie noch überzeugender "islamisch", formulierte sie auf Arabisch und verlieh ihnen damit ungleich größere Wirkung.

Im Gegensatz zu Maududi richtete Qutb seine Kampfansage nicht an eine Kolonialmacht, sondern an das eigene, nasseristische System. Qutb verurteilte den arabischen Nationalismus und Sozialismus nicht, weil diese an Israel oder den selbst geweckten Erwartungen gescheitert wären (das stand vor 1967 noch nicht fest), sondern weil er ihren säkularen Legitimationsanspruch verneinte. Bei aller Schärfe des Urteils wich er einer zentralen Frage jedoch aus: ob nämlich diejenigen, die sich dem gottlosen System unterwarfen, ihren Status als Muslime einbüßten (Fachbegriff: takfir, für ungläubig erklären, "exkommunizieren") und womöglich mit der Waffe bekämpft werden mussten. Die Frage des Takfir schuf in den folgenden Jahrzehnten eine der wichtigsten Trennlinien innerhalb der islamischen Strömung. Eine Generation jüngerer Aktivisten (sogenannte Qutbisten) zog aus Qutbs Befund radikale Konsequenzen. In den 1970er Jahren entstanden an ägyptischen Universitäten militante Organisationen, die in den 1980er Jahren Teile des ländlichen Mittel- und Oberägypten kontrollierten. Die Islamischen Gemeinschaften und die Dschihad-Organisation begrenzten den Takfir (nicht allerdings die Gewalt) auf das herrschende Regime und wurden von diesem mit aller Härte bekämpft.

In die Jahre 1978/79 fielen vier Ereignisse, die ursächlich nicht miteinander verbunden waren, der islamischen Strömung jedoch neue Impulse verliehen: der ägyptische Friedensschluss mit Israel, die Iranische Revolution, die sowjetische Invasion in Afghanistan und die Besetzung der Großen Moschee in Mekka. Der ägyptische Friedensschluss mit Israel in Camp David stieß im Land selbst und in der arabischen Welt auf heftige Kritik und trug maßgeblich zur Ermordung Anwar as-Sadats durch die Islamischen Gemeinschaften im Jahr 1981 bei. Der Sturz des hochgerüsteten und von den USA unterstützten Schah-Regimes hingegen wurde auch in linken und nationalistischen Kreisen als Revolution gefeiert. Erst als sich die Konsolidierung einer klerikalen Ordnung abzeichnete, die Ayatollah Khomeinis umstrittene Lehre von der Herrschaft des Rechtsgelehrten (persisch: velayat-e faqih) in die Praxis umsetzte, gingen sunnitische Islamisten und selbst die von Iran geförderte zwölferschiitische Hisbollah auf Distanz, die Khomeinis Doktrin nicht im heimischen Libanon realisiert sehen wollte. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan wiederum schuf 1979 einen neuen Fokus des islamischen Widerstands neben Palästina und dem je eigenen Land und leistete seiner Internationalisierung weiteren Vorschub. In den Folgejahren entwickelte sich die Organisation al-Qaida (al-Qaeda, Die Basis) unter Osama bin Laden zur einflussreichsten transnationalen dschihadistischen Organisation.

Die Regime in Ägypten, Pakistan und dem Sudan versuchten der islamischen Kritik im Allgemeinen und der islamistischen Opposition im Besonderen durch eine "Anwendung" der Scharia im eigenen Land den Boden zu entziehen. Dennoch entfaltete sich zwischen Algerien, Saudi-Arabien, Syrien und Tschetschenien die islamische Bewegung in ihren unterschiedlichen Facetten. Islamisten, die den Dschihad gegen Muslime als islamwidrig ablehnten, erweiterten über soziales Engagement und politische Arbeit (den "Marsch durch die Institutionen") ihren Rückhalt in der Gesellschaft, auch unter Frauen. Dessen ungeachtet blieb der Islamismus im Wesentlichen ein städtisches Phänomen; nur im Jemen besaßen Islamisten eine nennenswerte ländlich-tribale Basis. Weitgehend unabhängig vom organisierten Islamismus machte sich zwischen Malaysia, den arabischen Golfstaaten, der Türkei und Ägypten eine "Islamisierung" von Wirtschaft, Kultur und Bildung, Mode, Geschmack und Konsum bemerkbar, die ihre Kritiker als neoliberal inspirierten "Marktislam" einstuften.

"Der Islam ist die Lösung"

Knapp zusammengefasst, zielt der Islamismus darauf ab, auf einem bestimmten Territorium und in letzter Konsequenz auf globaler Ebene alle Dimensionen individuellen, gemeinschaftlichen und staatlichen Lebens im Lichte eines spezifischen Islamverständnisses umzugestalten, das nicht menschliche Autoritäten, sondern allein Koran und Sunna als Fundament islamischen Lebens und Denkens anerkennt, die Scharia als umfassende Rechts- und Werteordnung versteht, die es integral "anzuwenden" gilt, und in den frühen Musliminnen und Muslimen die Vorbilder für muslimisches Leben im Hier und Heute sieht. Im Mittelpunkt stehen – bei aller Kritik an Ungerechtigkeit, Armut und Krankheit, die durchaus mobilisierend wirkt – nicht die Wirtschaft und soziale Ungleichheit, sondern Moral, Recht und Herrschaft. Zumindest die Vertreter des politischen Islams propagieren eine islamische Ordnung als moralisch überlegene Alternative zu allen anderen Weltanschauungen und Systemen, insbesondere aber zu der als westlich markierten liberal-säkularen Moderne.

In einer Situation der Unübersichtlichkeit, des Wandels, der Ambivalenzen und der Widersprüche soll der Islam die Identität und Authentizität der Muslime wahren und zugleich Eindeutigkeit und Klarheit schaffen. Die Denkfiguren von Ganzheit und Stärke, Spaltung und Schwäche, moralischer Integrität und moralischem Verfall (im Arabischen meist "Korruption"), Authentizität und Entfremdung und der Moderne als Verlusterfahrung sind vertraut, werden hier allerdings mit der Kritik am kolonialen Westen verknüpft. Indem die westliche und daher nach islamistischer Lesart koloniale Moderne den Islam von einem way of life auf eine bloße Religion (im Sinne des Glaubens und bestimmter gottesdienstlicher Akte) verkürzte, schuf sie nicht Gewinn (die Befreiung aus den Fesseln der Religion), sondern den Verlust von Einheit, Reinheit und Macht. Gegen das aufklärerische Ideal individueller Autonomie und Selbstbestimmung wird die Scharia als von Gott geschaffenes und von Menschen allenfalls im Detail veränderbares Gefüge von Normen und Werten in Stellung gebracht. Die für die Moderne charakteristische gesellschaftliche Differenzierung soll eine auf Koran, Sunna und Scharia gegründete, allumfassende islamische Ordnung überwinden. Die Losung "Der Islam ist die Lösung" steht für diesen ganzheitlichen Anspruch.

Muslimische Kritik am Islamismus

Der Islamismus war unter Musliminnen und Muslimen von Beginn an umstritten. Nicht selten ist zu hören, er habe mit dem Islam nichts zu tun und stelle vor allem in Gestalt des politischen Islams einen Missbrauch der Religion dar. Nun lässt sich rasch zeigen, dass der Islam von früher Stunde an politisch genutzt wurde und auch heute jenseits der islamistischen Strömung politisch genutzt wird, ohne dass dies als Missbrauch denunziert würde. Mit Blick auf das Textverständnis und die Ausrichtung an den "frommen Vorfahren" sind die Grenzen zwischen dem sunnitischen Mainstream und einem islamistischen Islamverständnis nicht immer leicht zu ziehen. Dagegen stößt die Verabsolutierung des islamistischen Islamverständnisses als einzig authentischer, gleichermaßen reiner und wahrer Lehre auf Kritik. Gleiches gilt für die These vom islamischen Staat als notwendiger Voraussetzung der Islamizität von Individuum und Gesellschaft (die in der Vergangenheit an die Anerkennung eines Imams oder Kalifen gebunden war). Gerade an dieser Stelle offenbart sich der moderne Charakter des Islamismus, der zwar, wie der arabische Nationalismus, den angeblich von europäischen Kolonialmächten aufgezwungenen modernen Territorial- und Nationalstaat ablehnt, inhaltlich jedoch unübersehbar von modernen Staats- und Rechtskonzeptionen inspiriert ist.

Auf der Ebene islamistischer Praxis treten die Konflikte deutlich hervor: Im Kern geht es um die Legitimität diskursiver und physischer Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige, zugespitzt auf den Dschihad und die "Exkommunikation" von Menschen, die sich selbst als Musliminnen und Muslime verstehen (Takfir). Angestoßen durch die von Algerien und Tunesien über Nigeria bis Tschetschenien und Bali reichende Spirale islamistischer und staatlicher Gewalt, namentlich aber durch die Anschläge des 11. Septembers 2001 und die Aktionen des sogenannten Islamischen Staats (IS/Daesh), kommen Theoretiker des Dschihads ebenso zu Wort wie ihre Kritiker. Häufig vermischen sich dabei theologische, juristische und pragmatische Argumente. Die Legitimität auch des bewaffneten Dschihads steht nicht infrage, solange er der Verteidigung des Islams und der Muslime gegen innere und äußere Feinde dient, wobei die Grenze zwischen Verteidigung und Angriff in jedem Fall zu definieren bleibt. Kontrovers diskutiert wird Gewalt gegen Andersdenkende, Andersgläubige (Juden, Christen, Hindus oder Jesiden, aber auch Schiiten im Fall sunnitischer und Sunniten im Fall schiitischer Dschihadisten) oder Nichtgläubige, denen keine als offensiv oder feindselig eingestuften Äußerungen oder Taten nachgewiesen werden. Neu hinzugekommen ist die Auseinandersetzung um Selbstmordattentate beziehungsweise Selbstopferungsakte, die historisch zwar nicht unbekannt sind – verwiesen sei auf die sogenannten Assassinen des 12. und 13. Jahrhunderts –, nun jedoch in verändertem Rahmen als Terror oder Terrorismus verhandelt werden.

Grundsätzlicher argumentieren diejenigen, die, wiederum unter Berufung auf Koran und Sunna, eine an der Mitte (arabisch: wasaṭ) orientierte Mäßigung (wasaṭiyya) zur wahrhaft islamischen Haltung erklären. Den Aufruf zu Maß, Mitte und Ausgewogenheit kennt man aus der aristotelischen, der konfuzianischen und auch der islamischen Tradition; in seiner aktuellen politischen Formulierung lässt er sich in die 1960er Jahre zurückverfolgen. Seine Anwälte befürworten, was radikale Denker und militante Aktivisten zutiefst ablehnen: die goldene Mitte, die vorsichtige Abwägung von Kosten und Nutzen, die Rücksichtnahme auf Verluste unter Freund und Feind. So gut islamisch verankert die Mäßigung auch ist, hat sie doch zwei Schwachstellen: Sie wird auch von autoritären Regimen gefordert und gefördert, und sie lässt sich ungleich schlechter medial inszenieren als der dschihadistische Kampf.

Ordnungsversuche

Seit den 1980er Jahren ist die islamisch-islamistische Strömung hochgradig aufgefächert in Theoretiker und Aktivisten mit je eigenen Prioritäten, Aktions- und Organisationsformen, die auch untereinander um Aufmerksamkeit, Anhänger und Ressourcen konkurrieren. Dementsprechend schwierig gestalten sich die Versuche, das Feld konzeptionell und begrifflich zu ordnen. Grundsätzlich unterscheiden viele zunächst einmal zwischen einem (apolitischen) quietistischen und einem aktivistischen oder "politischen Islam"; manche identifizieren selbst im prinzipiell gewaltbejahenden Lager dschihadistisch-salafistische und quietistisch-dschihadistische Positionen. Im aktivistischen (politischen) Lager erkennen sie mit Blick auf sein Verhältnis zur bestehenden Ordnung und zu nicht-islamistischen Musliminnen und Muslimen – und damit zugleich zu Gewalt, Dschihad und Takfir – auf der einen Seite moderate, pragmatische und legalistische, das heißt die jeweilige Rechts- und Verfassungsordnung respektierende Kräfte, selbst wenn sie diese nicht als genuin islamisch anerkennen (Muslimbrüder und verwandte Organisationen zwischen Marokko, Jordanien und dem Jemen). Auf der anderen Seite – und hier werden die Kategorien rasch unscharf – sehen sie fundamentalistische, radikale, militante, revolutionäre, extremistische, dschihadistische oder terroristische Kräfte. Abgegrenzt werden gelegentlich auch Integrationisten (die innerhalb ihrer Gesellschaft wirken und an formalen politischen Prozessen partizipieren wollen) von Isolationisten (die dieses ablehnen und sich aus der Gesellschaft zurückziehen). Andere unterscheiden zwischen gemeinschafts- und staatszentrierten Ansätzen, die vorrangig also entweder die muslimische Gemeinschaft in ihrem Sinne islamisieren oder den Staat erobern wollen. Schließlich differenzieren manche zwischen Organisationen, die sich auf den nahen Feind (das eigene Regime, die eigene Gemeinschaft oder Gesellschaft) oder den fernen Feind (in der Regel die USA und "den Westen") konzentrieren. Wie schnell zu erkennen ist, gibt es zwischen diesen Kategorien Überschneidungen.

Leichter fällt die Einordnung mit Blick auf Organisationsformen und Aktionsradien des Islamismus. Vor allem seit der Jahrtausendwende differenzieren sich lokal verankerte, transnational vernetzte und global agierende Gruppierungen immer weiter aus. Von den Anschlägen des 11. Septembers 2001 vorangetrieben, lösten sich wichtige Organisationen von ihren lokalen Ursprüngen, nach den Muslimbrüdern und der Islamischen Befreiungspartei/Hizb ut-Tahrir namentlich al-Qaida, in begrenzterem Umfang auch die aus Nordnigeria stammende Organisation Boko Haram; einige bildeten über regelrechte Franchise-Unternehmen jenseits ihres Ursprungsgebiets neue regionale Schwerpunkte, so etwa al-Qaida im Maghreb oder auf der Arabischen Halbinsel, der Islamische Staat in Westafrika, Zentralasien und Westeuropa. Dagegen sind die palästinensische Hamas, die libanesische Hisbollah, die türkische AKP, die philippinische Abu-Sayyaf-Gruppe, die afghanischen Taliban und die somalischen Al-Shabaab-Milizen zwar transregional vernetzt, agieren im Wesentlichen aber auf lokaler beziehungsweise einzelstaatlicher Ebene. Vergleichsweise neu ist das Phänomen der individuellen, von keiner Organisation gesteuerten Radikalisierung über das Internet und soziale Medien, die nicht nur in Westeuropa viel Aufmerksamkeit gefunden hat.

Revision und Selbstkritik

Insgesamt sind nicht nur die Raster kompliziert – vieles befindet sich im Fluss. Auch Islamisten sind, so abstrakt und absolut sie argumentieren mögen, in konkrete Zusammenhänge eingebunden, interagieren mit ihrem Umfeld, nutzen Chancen ("Opportunitätsstrukturen") und vermeiden gegebenenfalls Risiken für sich und andere. Häufig konfligieren dabei Dogmatismus und Pragmatismus. Auch Islamisten lernen aus Erfahrung, überdenken eigene Annahmen und Strategien und üben gelegentlich sogar öffentlich Selbstkritik. So schworen im Jahr 2000 – und damit vor 9/11 – die ägyptischen Islamischen Gemeinschaften der Gewalt ab und warnten die muslimische Jugend vor al-Qaida. Jede Anpassung, Revision oder Selbstkritik wird – häufig sehr kritisch – im islamistischen Lager kommentiert, wobei sich die Kontrahenten nicht selten mit theologischen oder strategischen Argumenten gegenseitig für ungläubig erklären.

Dass die Revision nicht zwangsläufig in eine "gemäßigte" Richtung weist, belegt das Beispiel des Salafismus, der vielfach gleichbedeutend mit Islamismus oder politischem Islam verwandt wird, obgleich Salafistinnen und Salafisten sich die längste Zeit nicht auf die Islamisierung von Staat und Gesellschaft, sondern quietistisch auf die Kultivierung des eigenen Selbst und der "Frömmigkeit" konzentrierten (daher englisch auch pietist Islam, was wiederum nicht mit einem "pietistischen Islam" gleichzusetzen ist). "Salafi" bezeichnet heute Musliminnen und Muslime, die sich auch in alltäglichen Belangen am Vorbild des Propheten Muhammad und der ersten Generationen von Musliminnen und Muslimen (arabisch: as-salaf as-salih, die "frommen Vorfahren") orientieren. Vor allem seit der Arabischen Rebellion der Jahre 2010 bis 2012 haben sich allerdings auch Salafisten politisiert und eigene, salafistische Parteien gegründet.

Etwa in die gleiche Zeit fällt die Abkehr prominenter Islamistinnen und Islamisten vom politischen Aktivismus, die in der Forschung unter dem Stichwort "Postislamismus" diskutiert wird. Das Musterbeispiel bietet die tunesische Ennahda-Bewegung ("Renaissance", "Wiedergeburt") unter Rachid al-Ghannouchi, die 2016 in aller Form ihre politische von der religiösen Arbeit trennte – ein Schritt, der sich als Anerkennung des säkularen Prinzips verstehen lässt – und eine Partei gründete, die sich als wertkonservativ, aber nicht islamistisch definierte und zu einer demokratisch-freiheitlichen Ordnung bekannte. Unabhängig davon, ob Postislamismus das geeignete Konzept ist – auch in früheren Jahrzehnten hatten Islamisten verschiedentlich von einer "islamischen Demokratie" gesprochen –, belegt auch diese Wende, wie gut der Begriff der "Strömung" den Islamismus in seiner permanenten Bewegung erfasst.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für die frühe Muslimbruderschaft vgl. Richard P. Mitchell, The Society of the Muslim Brothers, New York–Oxford 1993 [1969]; Brynjar Lia, The Society of the Muslim Brothers in Egypt. The Rise of an Islamic Mass Movement 1928–1942, Reading 1999; Gudrun Krämer, Der Architekt des Islamismus. Hasan al-Banna und die Muslimbrüder, München 2022.

  2. Vgl. Henri Lauzière, The Making of Salafism. Islamic Reform in the Twentieth Century, New York 2016.

  3. Vgl. Carrie Rosefsky Wickham, The Muslim Brotherhood. Evolution of an Islamist Movement, Princeton–Oxford 2013; Victor J. Willi, The Fourth Ordeal. A History of the Muslim Brotherhood in Egypt, 1928–2018, Cambridge 2021; Mathias Ghyoot, Brothers Behind Bars. A History of the Muslim Brotherhood from the Palestine War to Egypt’s Prisons, Oxford 2025.

  4. Aus der reichhaltigen Literatur vgl. Giedre Šabasevičiute, Sayyid Qutb. An Intellectual Biography, Syracuse NY 2021.

  5. Vgl. Sayed Khatab, The Power of Sovereignty. The Political and Ideological Philosophy of Sayyid Qutb, London 2006.

  6. Vgl. Camilla Adang et al. (Hrsg.), Accusations of Unbelief in Islam: A Diachronic Perspective on Takfir, Leiden 2016; Justyna Nedza, Takfīr im militanten Salafismus. Der Staat als Feind, Leiden 2020.

  7. Vgl. exemplarisch Janine A. Clark, Islam, Charity, and Activism. Middle-Class Networks and Social Welfare in Egypt, Jordan, and Yemen, Bloomington–Indianapolis 2004; Marie Vannetzel, The Muslim Brothers in Society. Everyday Politics, Social Action, and Islamism in Mubarak’s Egypt, Kairo 2020.

  8. Vgl. auch Karin Van Nieuwkerk, Performing Piety. Singers and Actors in Egypt’s Islamic Revival, Austin 2013. Zur Kritik vgl. Patrick Haenni, L’islam de marché. L’autre révolution conservatrice, Paris 2005; Mona Atia, Building a House in Heaven. Pious Neoliberalism and Islamic Charity in Egypt, Minneapolis–London 2013.

  9. Vgl. Mariella Ourghi, Muslimische Positionen zur Berechtigung von Gewalt. Einzelstimmen, Revisionen, Kontroversen, Würzburg 2010; als Beispiel ElSayed Amin, Reclaiming Jihad. A Qur’anic Critique of Terrorism, Leicester 2014.

  10. Vgl. Bettina Gräf, The Concept of wasaiyya in the Work of Yūsuf al-Qaraḍāwī, in: dies./Jakob Skovgaard-Petersen (Hrsg.), Global Mufti. The Phenomenon of Yūsuf al-Qaraḍāwī, New York 2009, S. 213–238; Carsten Polanz, Das ganze Leben als Ğihād. Yūsuf al-Qaraḍāwī und der multidimensionale Einsatz auf dem Wege Allahs, Berlin 2016.

  11. Vgl. Tilman Seidensticker, Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen, München 20164.

  12. Vgl. Joas Wagemakers, A Quietist Jihadi: The Ideology and Influence of Abu Muhammad al-Maqdisi, Cambridge 2012.

  13. Vgl. Clemens Holzgruber, Divine Empowerment and State-Building. Salafi-Jihadi Debates on Tamkīn, Territorial Consolidation and Islamic Governance, Dissertation, Freie Universität Berlin 2024.

  14. Vgl. Roel Meijer (Hrsg.), Global Salafism. Islam’s New Religious Movement, London 2009; Behnam T. Said/Hazim Fouad (Hrsg.), Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg/Br. 2014.

  15. Am Beispiel Ägyptens vgl. Niklas Hünseler, Demokratie und Scharia. Vorstellungen politischer Herrschaft der Daʿwa Salafiyya, Ägyptischen Muslimbruderschaft und Wasaṭ-Partei, Baden-Baden 2020.

  16. Vgl. Asef Bayat (Hrsg.), Post-Islamism. The Changing Faces of Political Islam, Oxford 2013.

  17. Vgl. Menno Preuschaft, Tunesien als islamische Demokratie? Rāšid al-Ġannūšī und die Zeit nach der Revolution, Münster 2011; Andrew F. March, What Is "Muslim" about Tunisia’s "Muslim Democrats"?, Middle East Brief 142/2021, Brandeis University. Für Ägypten nach der Arabellion vgl. Hünseler (Anm. 15).

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ist emeritierte Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin.