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Zwischen den Blöcken Neutralität und Bündnisfreiheit

Heinz Gärtner

/ 13 Minuten zu lesen

In Situationen der Polarisierung können kleinere Staaten einem Bündnis beitreten oder neutral und bündnisfrei bleiben. Neutralität kann eine Sicherheitsgarantie sein. Was zeichnet Neutralität und Bündnisfreiheit aus? Welche Rolle spielten neutrale Staaten im Kalten Krieg?

Neutralität bedeutet die Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg oder einem bewaffneten Konflikt zwischen Staaten oder anerkannten Parteien in einem Bürgerkrieg. Einem neutralen Staat ist es laut dem Haager Abkommen von 1907 verboten, sein Territorium fremden Truppen zur Stationierung oder für die Austragung von kriegerischen Handlungen zur Verfügung zu stellen. Insbesondere darf ein dauerhaft neutraler Staat keinem militärischen Bündnis angehören und keine Abkommen über kollektive Verteidigung schließen.

Mit Beginn des Kalten Krieges verlegte sich der Schwerpunkt dieser Definition von der Nichtteilnahme an zwischenstaatlichen Kriegen und militärischen Konflikten auf die Nichtteilnahme an militärischen Bündnissen. Denn die Mitgliedstaaten eines Bündnisses verpflichten sich individuell und gemeinsam, Mitgliedern, die von außerhalb des Bündnisses bedroht oder angegriffen werden, unter Einschluss militärischer Mittel zu Hilfe zu kommen. So enthält etwa der Gründungsvertrag der Nato in Artikel V eine explizite Beistandsverpflichtung.

Ebenso wie Neutralität bedeutet Bündnis- oder Blockfreiheit den Verzicht auf Bündnismitgliedschaft. Bündnisfreie Staaten versuchen, die Verwicklung in Kriege von Bündnissen (entrapment) zu reduzieren, riskieren aber, im Notfall alleine gelassen zu werden (abandonment). Dafür nehmen sie eine kompromisslose Haltung zwischen rivalisierenden Bündnissen ein, die nicht notwendigerweise in offene Feindseligkeiten verwickelt sein müssen, aber ein konflikt- und spannungsgeladenes Verhältnis zueinander haben. Das traf insbesondere auf die Beziehungen zwischen den Blöcken im Kalten Krieg zu.

Anomalie des Kalten Krieges

Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Grenzverläufe zwischen den von den Siegermächten eroberten Territorien bei den Konferenzen von Teheran 1943 und Jalta 1945 bestätigt, und es entstanden politisch-militärische Einflusszonen in Europa. Sie wurden abgesichert: durch die USA mit dem Marshall-Plan und der Truman-Doktrin von 1947, durch die Sowjetunion mit dem Putsch in der Tschechoslowakei 1948 sowie den Interventionen in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968. Auch über Europa hinaus wurde diese Einteilung weitgehend respektiert: Die USA mischten sich nicht direkt in Osteuropa oder der Mandschurei ein, die Sowjetunion akzeptierte die Nato-Präsenz in Europa, die Dominanz der USA in Lateinamerika und das Bündnis mit Japan. Es entstand "der lange Frieden", die Blöcke festigten sich.

Neutrale Staaten waren in der Zeit der Blockkonfrontation die Ausnahme. Sie waren nicht Teil des Kalten Krieges, sondern die Anomalie. Sie versuchten, einerseits selbst außerhalb der Blöcke zu bleiben und andererseits zu verhindern, dass die Blockbildung auf die Staaten des Globalen Südens übergriff. Zugleich konnten sie zur Konfliktverminderung beitragen. Im Rahmen des KSZE-Prozesses ab 1973 bildeten die sogenannten N+N-Staaten einen losen Zusammenschluss der neutralen und nicht-paktgebundenen blockfreien Staaten Europas, die weder der Nato noch dem Warschauer Pakt angehörten und eine Vermittlungs- und Brückenfunktion zwischen den Blöcken einnahmen. So übernahmen sie etwa die Gastgeberrolle für Gipfeltreffen, wie etwa Finnland für die KSZE, und wurden Sitze internationaler Organisationen, wie etwa Österreich und die Schweiz für Institutionen der Vereinten Nationen. Diese Funktion wurde von den USA und der Sowjetunion nicht nur respektiert, sondern auch gewünscht.

Polarisierungen und Neutralität

Die Bipolarität der durch die Militärbündnisse Nato und Warschauer Pakt geprägten internationalen Sicherheitsordnung endete 1989/91. In der anschließenden Phase der Unipolarität blieb die Nato unter Führung der USA als alleiniges Militärbündnis übrig. Dennoch prägten Kriege diese Phase, etwa in Kuwait 1991/92, während des Zerfalls Jugoslawiens in den 1990er Jahren, in Afghanistan ab 2001 und im Irak 2003.

Für die neutralen Staaten war diese Periode schwierig, denn Unipolarität geht mit dem Streben einer Macht nach globaler Dominanz einher, entlang der Vorstellung "mit uns oder gegen uns". So wurden etwa US-Botschafter in neutralen Staaten vorstellig und beklagten, dass diese zu wenig für die Nato-Operation in Afghanistan beitragen würden. Aktivitäten außerhalb des Bündnisses, wie die Entsendung von Friedenstruppen im Rahmen der Vereinten Nationen, wurden seitens der USA nicht als ausreichend eingestuft.

Das "unipolare Moment" währte nicht permanent, und Diagnosen einer Multipolarität entwarfen eine mit dem "Rise of the Rest" eingeläutete "post-amerikanische Welt". Tatsächlich geht es heute um eine Tripolarität. Die US-Sicherheits- und Verteidigungsdoktrinen sprechen von einer Großmachtkonkurrenz und identifizieren vor allem die mit den USA rivalisierenden Mächte China und Russland als Gefahrenquelle.

Polarisierung geht meist mit Ideologie- und Bündnisbildung einher. Die Idee des US-Präsidenten Joe Biden einer "Allianz der Demokratien", um dem weltweit zunehmenden Autoritarismus entgegenzutreten, ist ein Anzeichen für ideologische Polarisierung und den Versuch, eine globale Bündnis- und Blockbildung herzustellen. Dabei sind die USA nicht konsequent. Letztendlich gilt für sie das Primat der Geopolitik. So zählen die autokratisch regierten Staaten Saudi-Arabien, Ägypten, Vietnam oder die Philippinen von Rodrigo Duterte und das Indien von Narendra Modi zum Kreis der Partner, wenn es um geopolitische Interessen geht.

Die umgekehrte Schlussfolgerung, dass es eine "Allianz der Autokratien" gebe, trägt jedoch nicht der Tatsache Rechnung, dass China sich im Frühjahr 2022 vorsichtig von der russischen Invasion in der Ukraine distanziert und sich im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über eine Resolution enthalten hat, in der Russlands Angriff verurteilt wurde. China ist das Prinzip der Nichteinmischung anderer Staaten in innere Angelegenheiten wichtig. Dass sich Beijing an Moskau orientieren würde, ist ein Argument aus den 1950er Jahren, als man im Westen einen monolithischen Kommunismus annahm. Russlands Kampf gegen "Nazismus" und für Russifizierung sowie historische Reminiszenzen von Peter dem Großen besitzen außerhalb Russlands kaum Anziehungskraft, weshalb Moskau zu militärischen Mitteln greift, um seinen Einfluss zu wahren. Chinas Initiative für eine "Neue Seidenstraße" hat hingegen eine Soft-power-Kapazität, die über wirtschaftliche Interessen hinausgeht und die Lebensqualität vieler Menschen verbessern kann.

Neben den bereits existierenden Bündnissen wie der Nato und der Nachfolgeorganisation des Warschauer Paktes, der Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS), werden neue gegründet. Das 2021 geschlossene australisch-britisch-amerikanische Bündnis AUKUS sowie der 2017 neu ins Leben gerufene quatrilaterale Sicherheitsdialog der USA, Indiens, Japans und Australiens (Quad) richten sich gegen die angenommene chinesische Bedrohung. Die Abraham-Accords von 2020 zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain richten sich gegen Iran.

Russland hat außer der OVKS keine funktionierenden Bündnisse, allerdings Verbündete in Osteuropa, im Mittleren Osten und in Lateinamerika. China unterhält keine Bündnisse, baut aber ein globales Netzwerk von Partnern auf, mit der "Neuen Seidenstraße" als wichtiges Instrument. Dabei handelt es sich um eine Vielzahl von bilateralen Beziehungen, die für China multilateralen Charakter haben. China dominiert auch die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die derzeit noch keinen Bündnischarakter besitzt.

In Situationen der Polarisierung haben kleinere Staaten zwei Optionen. Entweder sie lehnen sich an eine Großmacht an (bandwagoning) und treten einem Bündnis bei, um die eigene Sicherheit zu erhöhen und sich wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Diese Bündnismitgliedschaft kann freiwillig erfolgen, wie bei den meisten Nato-Mitgliedern, oder erzwungen sein, wie im Falle des Warschauer Paktes während des Kalten Krieges. Sie bekommen in der Regel Schutzversprechen für den Fall eines Konflikts, wie etwa mit Artikel V im Nato-Vertrag. Sie laufen aber auch Gefahr, in fremde und Großmachtkonflikte hineingezogen zu werden, weil sie als Gegenleistung für das Schutzversprechen auch die Verpflichtung eingehen, selbst dann anderen Staaten Schutz zu gewähren, wenn es nicht im eigenen Interesse liegt.

Alternativ können sie neutral und blockfrei bleiben. Um nicht in einen Großmachtkonflikt verwickelt zu werden, muss dieser Status glaubhaft und berechenbar sein. Das bedeutet, dass ein neutraler Staat schon in Friedenszeiten seine Neutralität und Blockfreiheit unzweideutig vermitteln muss. Er muss immer wieder klarstellen, dass er nicht anstrebt, einem Militärbündnis beizutreten, und nicht an fremden Kriegen teilnehmen oder fremde Truppen auf seinem Territorium stationieren wird. Eine zusätzliche Garantie wäre eine völker- und verfassungsrechtlich abgesicherte Neutralität.

Um abandonment zu vermeiden, muss ein neutraler Staat zwei Bedingungen erfüllen. Zum einen darf er keine Bedrohung darstellen, also zum Beispiel nicht die Absicht vermitteln, einem von einer Seite als feindlich wahrgenommenen Bündnis beizutreten. Zum anderen muss er nützlich sein. Er kann die Funktion eines Pufferstaates übernehmen oder bestimmte Dienste anbieten, wie Vermittlungstätigkeiten, die Gastgeberrolle für Verhandlungen und Gipfeltreffen oder diplomatische Initiativen. Damit kann sich der neutrale Staat sehr gute Sicherheitsgarantien erwerben.

Finnland und Schweden

Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 haben die bislang neutralen Staaten Finnland und Schweden die Absicht bekundet, der Nato beizutreten, und in der aktuellen Polarisierung der internationalen Ordnung eine Bündniszugehörigkeit vor Neutralität und Blockfreiheit gewählt.

Während des Kalten Krieges war Neutralität für Finnland ein Kernstück seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei war die finnische Neutralität ohne jegliche rechtliche Verpflichtungen politisch definiert. Ihr unmittelbarer Zweck bestand letztlich darin, die Spannungen an der sowjetisch-finnischen Grenze zu verringern. Neutralität war für Finnland ein Instrument, sich gegen sowjetische Vereinnahmung zu wehren. Ende 1947 hatte die Sowjetunion bilaterale Verträge mit Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei abgeschlossen – bis auf Jugoslawien alles Länder, die auch dem Warschauer Pakt beitraten. Um das zu vermeiden, bestand Finnland bei Abschluss des Finnisch-Sowjetischen Vertrags 1948 auf die Formulierung, dass es "außerhalb von Großmachtkonflikten" bleiben wolle. Neutralität wurde nicht erwähnt. Erst nachdem Österreich 1955 neutral geworden war, verlangte Finnland, dass seine Neutralität zumindest in eine bilaterale Erklärung aufgenommen werde, um die im Vertrag vorgesehenen "Konsultationen" zu begrenzen.

Auch die schwedische Außenpolitik hatte sich ab 1949 neutral ausgerichtet, um zu vermeiden, Verpflichtungen gegenüber den Großmächten einzugehen. Das wurde durch den Finnisch-Sowjetischen Freundschaftsvertrag und die Mitgliedschaft Dänemarks und Norwegens in der Nato möglich: Denn wäre auch Schweden der Nato beigetreten, hätte die Sowjetunion Finnland in den Warschauer Pakt gedrängt. Wäre umgekehrt Finnland Mitglied des Warschauer Paktes geworden, wäre die Mitgliedschaft Schwedens in der Nato wahrscheinlich gewesen. Schweden und Finnland dienten also auch als Pufferstaaten zwischen den Nato-Ländern Dänemark und Norwegen und der Sowjetunion. Während der Entspannungspolitik ab den 1970er Jahren versuchte Schweden, eine skandinavische Kooperation über die Blöcke hinweg aufzubauen. Die neue Formel hieß "bündnisfrei im Frieden, um im Krieg neutral zu bleiben". Damit glaubte Schweden, zu einem neuen Kräfteverhältnis in Europa beizutragen, sich aber gleichzeitig im Falle eines bewaffneten Konflikts zwischen Ost und West heraushalten zu können. Die schwedischen Streitkräfte sollten jeglichen Eindruck vermeiden, mit einer der Großmächte in Verbindung zu stehen. Schweden sollte keine außenpolitischen Bindungen eingehen, die seine Fähigkeit, in einem bewaffneten Konflikt neutral zu bleiben, direkt oder indirekt gefährden würde.

Ihre Entscheidung, nun doch der Nato beizutreten, begründeten Finnland und Schweden mit der Sicherheitsgarantie des Bündnisses, die die Ukraine nicht gehabt habe. Über die technische Zusammenarbeit im Rahmen der Nato-Partnerschaft für den Frieden hinaus gehen beide Staaten nun Beistandsverpflichtungen ein und werden in die Kommandostruktur der Nato integriert. Für Russland bedeutet dieser Schritt Finnlands und Schwedens eine Niederlage, und es ist von einer Stationierung russischer Streitkräfte und Raketen entlang der finnischen Grenze auszugehen – worauf die Nato entsprechend reagieren wird. Die Nato-Mitgliedschaften Finnlands und Schwedens mögen also abschreckend wirken, im Konfliktfall gegebenenfalls aber auch eskalierend, denn dann wäre ganz Europa betroffen. Ein Konflikt an der 1300 Kilometer langen finnisch-russischen Grenze könnte im schlimmsten Fall einen Nuklearkrieg auslösen.

Neutralität als Sicherheitsgarantie

In der Geschichte gab es kaum Fälle, bei denen glaubhaft neutrale Staaten Ziel eines Angriffs wurden, außer im Zuge von großen Kriegen. Historisch gesehen, wurde Neutralität fast immer dann militärisch verletzt, wenn auch ein Bündnis angegriffen wurde. So griff etwa das Deutsche Reich 1914 Belgien, das seit 1839 ein neutrales Königreich war, ebenso an wie Frankreich und Serbien, die Bündnisverpflichtungen innerhalb der Entente abgeschlossen hatten. Ausnahmen waren etwa Mexiko 1846 und Hawaii 1898, die die USA sich einseitig einverleibten.

Hingegen können Bündnisse einen eskalierenden Effekt haben. Dies gilt etwa für die Bündnisbildungen vor dem Ersten Weltkrieg. Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn der österreichische Kaiser Franz-Josef 1907 dem Rat des britischen Königs Edward VII. gefolgt wäre, die Allianz mit Deutschland aufzugeben und gemeinsam mit anderen friedlichen Staaten eine Neutralitätspolitik zu verfolgen? Studien belegen, dass je stärker und häufiger die Bündnisverpflichtungen eines Staates sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass dieser Staat in Kriege verwickelt wird. Für kleinere Staaten gilt zudem, dass sie durch ihre Mitgliedschaft in Bündnissen ihre diplomatische Flexibilität verlieren, außenpolitische Krisen ohne Eskalation zu bewältigen.

Manchmal wird militärisch schwächeren Staaten aber keine Wahl gelassen. Das bekannteste Beispiel ist der "melanesische Dialog" im Vorfeld des Peloponnesischen Krieges im 5. Jahrhundert v. Chr., als Melos im Krieg neutral bleiben wollte und daraufhin von Athen vernichtet wurde. Auch einige der kleindeutschen Staaten, wie Hannover, Hessen-Cassel und Nassau, mussten sich im Vorfeld des Deutschen Krieges 1866 Österreich oder Preußen anschließen und wurden nach der Niederlage Österreichs Mitglieder des Deutschen Bundes.

Neutralität für die Ukraine?

Im Fall der Ukraine war nicht ihr neutraler Status ein Motiv für Russlands Invasion, sondern ihre Absicht, einem aus russischer Sicht feindlichen Bündnis beizutreten. Hier können zwei Analogien aus der Zeit des Kalten Krieges Orientierung über eine mögliche Entwicklung geben: das Neutralitätsmodell Österreichs und die seinerzeit für Deutschland diskutierten Neutralitätsentwürfe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Österreich wie Deutschland von den vier Siegermächten besetzt. Indem es sich 1955 für permanente Neutralität entschied, vermied es im Unterschied zu Deutschland eine dauerhafte Besetzung und Teilung. Österreichs permanente Neutralität wurde völkerrechtlich abgesichert: Die Neutralitätserklärung von 1955 wurde von dem Staatsvertrag begleitet, der es Österreich untersagt, sich Deutschland anzuschließen ("Anschlussverbot"). Ein derartiges Verbot wäre im Falle einer Neutralitätserklärung der Ukraine auch mit Blick auf den Nachbarn Russland denkbar.

Die ausländischen Soldaten verließen Österreich 1955. Im Neutralitätsgesetz bekannte sich Österreich dazu, seine Unabhängigkeit und Neutralität "mit allen zu Gebote stehenden Mitteln" zu verteidigen, was es als "bewaffnete Neutralität" interpretierte. Allerdings war dem Land der Besitz von offensiven Raketen verboten – ein Verbot, das Mitte der 1990er Jahre aufgehoben wurde. Der Verzicht auf offensive Lenkwaffen könnte vor dem Hintergrund der russischen Forderung einer "Entmilitarisierung" auch für die Ukraine ein gangbarer Kompromiss sein.

US-Präsident Dwight D. Eisenhower signalisierte zudem, das neutrale Österreich zu verteidigen, obwohl es nicht Teil der Nato war. Als Österreich den Flüchtlingen aus Ungarn während der Krise 1956 großzügig Hilfe leistete und es von der Sowjetunion beschuldigt wurde, Ausbildungslager für die Aufständischen zu betreiben und Waffen über die ungarische Grenze zu schmuggeln, und Moskau erklärte, es würde diese Art von Neutralität nicht akzeptieren, drohte das US-Außenministerium sogar, dass "ein Angriff der Sowjetunion auf Österreichs Neutralität den dritten Weltkrieg bedeuten" würde. Ähnlich wie seinerzeit Österreichs Neutralität könnte eine Neutralität oder Bündnisfreiheit der Ukraine als Pufferstaat heute sowohl für den Westen als auch für Russland nützlich und daher verteidigungswürdig sein.

Nachdem Österreich 1955 neutral geworden war, wurde auch über die Einbettung eines vereinigten Deutschland in eine neutrale Zone in der Mitte Europas diskutiert. George F. Kennan, der nach 1947 als US-Botschafter in Moskau das Konzept der Eindämmungspolitik entwickelte und nicht an die Haltbarkeit der Teilung Europas und Berlins glaubte, unterbreitete 1956/57 einen entsprechenden Vorschlag. Die US-Senatoren Hubert H. Humphrey und William F. Knowland legten ihrerseits Entwürfe einer neutralen Zone in Mitteleuropa nach dem Vorbild Österreichs bei gleichzeitigem Rückzug amerikanischer und sowjetischer Truppen aus West- beziehungsweise Ostdeutschland vor. Auch der Vorsitzende der britischen Labour-Party Hugh Gaitskell entwickelte entsprechende Ideen. Der polnische Außenminister Adam Rapacki verband 1957 ein mögliches disengagement der Truppen aus Deutschland mit dem Vorschlag über "atomwaffenfreie Zonen" in Mitteleuropa.

Diese Pläne einer Wiedervereinigung um den Preis der Herauslösung Deutschlands aus dem westlichen Bündnis wurden jedoch von der Bundesregierung unter Konrad Adenauer abgelehnt. Er war der Auffassung, dass eine feste Verankerung der Bundesrepublik im Westblock einen Rückzug der Sowjetunion aus Mitteleuropa und ein vereinigtes Deutschland zur Folge haben werde. Die unmittelbare und mittelbare Folge bestand allerdings in einer Verfestigung der Blöcke.

Angesichts der russischen Annexion der Krim und des Krieges in der Ost-Ukraine stand bereits 2014 eine Neutralität der Ukraine im Raum. Die Ukraine hätte auf einen Beitritt zur Nato verzichten und Russland seine Unterstützung der Milizen in der Ost-Ukraine aufgeben müssen. Doch weder die Ukraine noch die Nato oder Russland waren dazu bereit. Als Alternative droht der Ukraine eine permanente Teilung, ähnlich der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg oder auch Koreas nach dem Koreakrieg 1953. Dieses Ergebnis würde einen neuen Eisernen Vorhang von Murmansk entlang der finnisch-russischen, baltisch-russischen und polnisch-weißrussischen Grenzen durch die Ukraine bis zum Schwarzen Meer zur Folge haben. Russland müsste sich dann mit einer Rumpfukraine im Westen mit Nato-Kandidatenstatus abfinden.

Für eine engagierte Neutralität

Die Welt befindet sich in einem Großmachtkonflikt zwischen den USA, China und Russland. Der Kampf um Einflusszonen erinnert an den Kalten Krieg. Der russische Präsident glaubt, den Einfluss seines Landes mit Krieg sichern zu müssen. Im Kalten Krieg gab es viele dieser Versuche, die alle scheiterten.

Neutrale Staaten dürfen nicht Teil dieser globalen und regionalen Auseinandersetzung sein. Sie können aber Diplomatie und Vermittlung anbieten. Sie stellen für Großmächte, anders als Bündnisse, keine Bedrohung dar. Zugleich sind neutrale Staaten nicht wertneutral und dürfen es auch im Krieg nicht sein. Im Gegenteil bedeutet "engagierte Neutralität", Stellung zu nehmen zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Neutrale Staaten können sich in den Vereinten Nationen, in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik engagieren und an Friedensoperationen teilnehmen, wenn sie von den Vereinten Nationen autorisiert sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heinz Gärtner, Internationale Sicherheit: Definitionen von A–Z, Baden-Baden 2008.

  2. Vgl. Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1: Textteil, Wien 1991, S. 477.

  3. John Lewis Gaddis, The Long Peace: Elements of Stability in the Postwar International System, in: International Security 4/1986, S. 99–142.

  4. Charles Krauthammer, The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs 1/1990, S. 23–33.

  5. Fareed Zakaria, The Post-American World, New York 2008.

  6. So etwa die "National Security Strategy", die "National Defense Strategy" und die "Nuclear Posture Review".

  7. Vgl. Alice Ekman, China and the Battle of Coalitions: The "Circle of Friends" versus the Indo-Pacific Strategy, European Institute for Security Studies, Chaillot Paper 174/2022.

  8. Vgl. Maartje Abbenhuis, An Age of Neutrals Great Power Politics, 1815–1914, Cambridge 2014, S. 172.

  9. Vgl. J. David Singer/Melvin Small, National Alliance Commitments and War Involvement, 1815–1945, in: Peace Research Society (International) Papers 5/1966, S. 109–140; Daniel S. Geller/J. David Singer, Nations at War. A Scientific Study of International Conflict, Cambridge 1998, S. 62ff.

  10. Vgl. J. David Singer/Volker Krause, Minor Powers, Alliances, and Armed Conflict: Some Preliminary Patterns, in: Heinz Gärtner/Erich Reiter (Hrsg.), Small States and Alliances, Heidelberg–New York 2001, S. 15–25.

  11. Zit. nach Bild-Telegraph, 7.11.1956.

  12. Vgl. George F. Kennan, Im Schatten der Atombombe: Eine Analyse der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen von 1947 bis heute, Köln 1982, S. 21.

  13. Vgl. Heinz Gärtner, Kiew sollte sich Neutralität Österreichs ansehen, 3.3.2014, Externer Link: http://www.derstandard.at/story/1392686995883; Henry Kissinger, To Settle the Ukraine Crisis, Start at the End, 5.3.2014, Externer Link: http://www.washingtonpost.com/opinions/2014/03/05/46dad868-a496-11e3-8466-d34c451760b9_story.html.

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ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und leitet den Beirat des International Institute for Peace (IIP).
E-Mail Link: heinz.gaertner@univie.ac.at