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Vertrautes Misstrauen | Internationale Sicherheit | bpb.de

Internationale Sicherheit Editorial "Verbindungen, die zum Frieden beitragen sollen, werden zu Waffen". Fragen zum Krieg in der Ukraine, dem Globalen Süden und zur Zukunft der internationalen Ordnung Wohin führt der "Epochenbruch"? Konturen einer neuen Ordnung für Europas Sicherheit Vom Krieg zum Frieden. Vertrauen im Konflikt Ende der Abrüstung. Nukleare Rüstungskontrolle heute Vertrautes Misstrauen. Perspektiven eines nachhaltigen Multilateralismus Zwischen den Blöcken. Neutralität und Bündnisfreiheit Klimawandel und internationale Sicherheit

Vertrautes Misstrauen Perspektiven eines nachhaltigen Multilateralismus

Daniel Jacobi Jens Bartsch Gunther Hellmann

/ 14 Minuten zu lesen

Die multilaterale Sicherheitspolitik ist in der Krise. Was zeichnet Multilateralismus überhaupt aus, und in welcher seiner Dimensionen ist er heute besonders umkämpft? Wie kann multilaterale Sicherheitspolitik weitergedacht werden, um zur Lösung von Konflikten beizutragen?

Die Zuspitzung der internationalen Lage in den vergangenen Jahren, gipfelnd in der russischen Invasion der Ukraine, hat viele Reaktionen provoziert. In der deutschen Debatte wurde die "Zeit des geordneten Multilateralismus" in Europa und der Welt für beendet erklärt, aber auch vehement dessen Weiterentwicklung gefordert. Diese Widersprüchlichkeit verwundert nicht, denn zwei Drittel der Deutschen haben den Begriff noch nie gehört oder wissen nicht, was er bedeutet. Diesem Befund steht mit dem russischen Angriffskrieg ein Konflikt mit globalen Auswirkungen auf die Energie- und Nahrungsmittelversorgung gegenüber, der bestehende sicherheitspolitische Problemlagen eskalieren lässt. Zwar wird auch weiterhin allseits beteuert, dass globale Sicherheitsprobleme nur multilateral lösbar seien. Sobald aber wirksame multilaterale Lösungen, etwa gegen die destabilisierenden Auswirkungen des Klimawandels oder den transnationalen Terrorismus, zur Diskussion gestellt werden, scheitern sie allzu oft an nationalen Egoismen.

Gerade das Beispiel Deutschlands zeigt, wie schwerwiegend diese Entwicklungen sind: Dem Angriff Russlands steht eine deutsche Sicherheitspolitik gegenüber, die auch in der Beschreibung ihrer Insider bereits zuvor ihre Verankerung verloren hatte. Was heute als "Zeitenwende" beschrieben wird, begann bereits 2014 mit der russischen Annexion der Krim, der Beschädigung des transatlantischen Bündnisses unter US-Präsident Donald Trump sowie der Renationalisierung Europas im Umfeld des Brexit. Für ein Land, in dessen sicherheitspolitische DNA der Multilateralismus als "Lebensversicherung" integriert ist, sind solche Entwicklungen umso bedrohlicher.

Die verkoppelten Prozesse des Aufstiegs autoritärer Mächte und des "Verfalls" der liberalen Weltordnung haben das von deutscher Einheit und europäischer Integration getragene Gefühl der Deutschen unterminiert, "von Freunden umzingelt" zu sein. Der Krieg in der Ukraine stellt nun die europäische Nachkriegsordnung infrage und damit auch die Zukunft des Multilateralismus als jene sicherheitspolitische Handlungsweise, die über ihre auf Langfristigkeit ausgelegten regelbasierten Arrangements das Fundament für Freiheit, Sicherheit und Wohlstand liefert. Denn inzwischen ist ein globaler Streit darüber entbrannt, was Multilateralismus überhaupt bedeutet, wem er dienen soll und wie multilaterale Sicherheitspolitik künftig aussehen könnte.

In diesem Beitrag werden wir zunächst das klassische Verständnis multilateraler Sicherheitspolitik schärfer konturieren, um dann darzulegen, in welcher Dimension Multilateralismus heute besonders umkämpft ist. Im Anschluss zeigen wir Möglichkeiten auf, wie multilaterale Sicherheitspolitik weitergedacht werden kann, um globale Konfliktkonstellationen einzuhegen.

Klassische Grundlagen

Das erste Grundmerkmal des Multilateralismus, die gegenseitige Anerkennung staatlicher Souveränität, geht auf die Zeit des Westfälischen Friedens von 1648 zurück. Anerkennung bedeutete dabei die wechselseitige Anerkennung als souveräne Staaten und damit die wechselseitige Zuschreibung von legitimer staatlicher Handlungsfähigkeit. Souveränität ist prozessual zu denken, das heißt, sie besteht nur dann, wenn sie immer wieder wechselseitig bestätigt wird. Dieses "Überlebensprinzip" funktioniert als ultimative (Anerkennungs-)Regel internationaler Politik in dem Sinne, dass es sowohl das Konzept des Staates als auch das einer internationalen Staatengemeinschaft überhaupt erst konstituiert.

Das zweite Grundmerkmal, diffuse Reziprozität, lässt sich aus dieser Wechselseitigkeit ableiten. Aber wechselseitige Anerkennung allein unterscheidet Multilateralismus noch nicht ausreichend von uni- und bilateralen Praktiken. Während unilaterales Vorgehen ohne jegliche Form der Reziprozität auskommt, sind im Falle bilateraler Wechselseitigkeit Vorteile und direkte Gegenleistungen in Form spezifischer Reziprozität für beide Teilnehmer leicht kalkulierbar: In einem quid pro quo ist oft abzusehen, welche Reaktion zu erwarten ist. Wegen seiner Grundstruktur mit drei oder mehr Teilnehmern zeichnet sich multilaterales Handeln dagegen meist durch eine diffuse Reziprozität aus: Vorteile werden nicht als direkte Gegenleistungen, sondern in Form eines groben Ausgleichs über einen längeren Zeitraum verrechnet. Dabei kommen Vorteile allen beteiligten Akteuren auf der Grundlage einvernehmlich festgelegter Prinzipien zu. Zentral ist hier der Begriff der "Einvernehmlichkeit": Während bilaterale Arrangements nur eine Zweierbeziehung strukturieren müssen, eröffnet sich über eine Teilnehmerzahl von drei oder mehr ein weitaus größeres Feld an Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten. Die ab drei Teilnehmern notwendig werdende systematische Einbeziehung heterogener Sichtweisen, aber auch möglich werdender Rollen – des vermittelnden, störenden oder "lachenden" Dritten – führen zu anderen Formen der Institutionalisierung. Das zeigt sich im Vergleich von Sicherheitsarrangements: Reichte in der Zweierbeziehung der Supermächte des Kalten Krieges noch ein einziges "rotes Telefon", um Eskalationen zu verhindern, sind in heutigen Konfliktsituationen fast immer komplexere Lösungen gefragt, die eine Einbindung von nicht-staatlichen Gruppen, Nachbarstaaten oder Regionalmächten erfordern.

Das dritte Grundmerkmal, Inklusivität, bedeutet zum einen, dass Vereinbarungen so formuliert werden, dass eine prinzipielle Offenheit für alle Staaten signalisiert wird, die bereit sind, einen Beitrag zur Lösung des jeweiligen Problems zu leisten. Zum anderen verleiht Inklusivität Vereinbarungen auch ein gewisses Maß an Legitimität, sodass sogar diejenigen, die nicht bereit sind, sich zu beteiligen, Lösungsmaßnahmen zumindest nicht verhindern. Die allgemeinen Verhaltensgrundsätze, die multilateralen Vereinbarungen zugrunde liegen, unterstreichen gerade im sicherheitspolitischen Bereich diese Einbeziehung, indem sie die Unteilbarkeit bestimmter Güter betonen, wie etwa Frieden und Freiheit: Unsicherheit betrifft immer ganze Regionen, ihre Auswirkungen machen nicht vor mentalen und politischen Grenzen Halt.

Das vierte Grundmerkmal, Gewaltfreiheit, zeigt sich darin, dass Staaten bereit sind, sich zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten in multilaterale sicherheitspolitische Rahmen einbinden zu lassen. Beispielhaft sind die Verhandlungen des Helsinki-Prozesses in den 1970er Jahren, als die beiden Bündnissysteme des Kalten Krieges erklärten, zumindest prinzipiell auf gewaltsame Mittel zur Lösung von Problemen zu verzichten. Hinzu kommt, dass die meisten Herausforderungen multilateraler Sicherheitspolitik nicht in einer einmaligen Aktion überwunden werden können, sondern nachhaltige Zusammenarbeit erfordern. Da die Machtverteilung in Konstellationen mit drei oder mehr Teilnehmern in aller Regel asymmetrisch ist und auf wechselnden Koalitionen beruht, ist gezielte Gewaltanwendung zudem deutlich erschwert. Die Herausforderung, breite und handlungsfähige Militärkoalitionen zu bilden, sieht man nicht nur am Beispiel der UN, sondern auch bei der Konstruktion von "Koalitionen der Willigen".

Diese vier Prinzipien zeigen, dass multilaterale Sicherheitspolitik eine politische Praxis ist, die vor allem eine bestimmte globale Ordnungsstruktur befördert – und erst in zweiter Linie Ausdruck ideeller Überzeugungen ist. Dies wird gerade in aktuellen Debatten deutlich: Während der Multilateralismus der Nachkriegsordnung Ausdruck der globalen Dominanz "westlicher" Ordnungspräferenzen war, zeigen Debatten über das "Ende der liberalen Ordnung" und den "Aufstieg des Autoritarismus", dass das Ordnungsprinzip als solches nicht kritisiert wird und insbesondere die ersten beiden Grundmerkmale kaum in Zweifel gezogen werden. Allerdings wird umso heftiger darüber gestritten, wie ein "wahrer Multilateralismus" im Sinne "demokratischerer internationaler Beziehungen" verstanden werden kann, wie sie von der selbst wenig demokratischen Volksrepublik China gefordert werden. Die aktuellen Anfechtungen des Multilateralismus beziehen sich somit weniger auf diesen als ordnendes Makroprinzip als auf seine Ausgestaltung auf der Mikroebene und darauf, was wie in welchen multilateralen Formaten umgesetzt werden soll – und wer diese kontrolliert.

Zwischen Inklusion und Exklusion

Inklusion ist eines der zentralen Versprechen des Multilateralismus als "Lebensform". Erst dadurch, dass die Teilnahme im Prinzip allen offen steht, die bereit sind, diese Lebensform zu übernehmen und ihre Regeln zu befolgen, kann er zur Grundlage einer regelbasierten Weltordnung werden. In der Praxis erfordert multilaterales Handeln dennoch die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern – und damit implizit den Ausschluss derjenigen, die nicht ausdrücklich einbezogen sind. Mehr noch: Die meisten multilateralen Institutionen und Koalitionen haben nicht nur einen begrenzten Kreis tatsächlicher, sondern auch potenzieller Mitglieder. Selbst oft als universell angesehene Institutionen wie die UN verschließen ihre Türen für nicht von (allen) ihren Mitgliedern anerkannte Staaten. Wer nicht die Kriterien eines "staatlichen" Akteurs erfüllt, kann nicht einmal einen Aufnahmeantrag stellen.

Exklusion stellt sich hier immer als eine graduelle Unterscheidung dar: von gezielten, sektoral begrenzten Zugangsverweigerungen, wie dem Verbot von Firmenübernahmen durch Unternehmen aus einem bestimmten Land, über wirtschaftliche Sanktionen bis hin zum vollständigen Ausschluss anhand eines Freund-Feind-Schemas. Viele dieser Praktiken der Grenzziehung konnten lange Zeit nur durch das Fehlen von Alternativen zu Institutionen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds aufrechterhalten werden, die durch westliche Staaten dominiert waren. In unserer zumindest wirtschaftlich zunehmend multipolaren Gegenwart herrscht jedoch eine paradoxe Situation: Aufsteigende autoritäre Staaten wie China "sezieren und re-kodieren" zentrale Bausteine der "westlichen" Ordnungsdebatten rund um den Multilateralismus, um diesen zum Aufbau einer Ordnung mit von ihnen kontrollierten Alternativ-Organisationen zu nutzen. Zentrales Feld dieser versuchten Umschriften etablierter Exklusions- und Inklusionspraktiken ist dabei die Forderung nach einer "demokratischeren" und inklusiveren globalen Sicherheitsgovernance.

Multilaterale Sicherheitspolitik und Demokratie

In der Tat machen es westliche Staaten ihren Herausforderern hier leicht, grundlegende Kritik zu äußern und so die Legitimität klassischer multilateraler Sicherheitsarrangements anzufechten. Nicht nur weisen viele Institutionen tatsächlich kaum zu leugnende Defizite hinsichtlich der Mitwirkungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Gruppen oder Staaten des Globalen Südens auf. Auch der Versuch, diese Ordnung zu stabilisieren, stützt sich oft auf ein Demokratieverständnis, das auf viele der Staaten und Gesellschaften, um deren Loyalität Demokratien und Autokratien ringen, eher exkludierend als inkludierend wirkt.

Das Problem von Initiativen wie der vom ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnson vorgeschlagenen "D10", in der "führende", überwiegend westliche Staaten im Zuge eines "demokratischen Multilateralismus" fundamentale Entscheidungen über globale Sicherheitsprobleme treffen, liegt in ihrem Demokratieverständnis: Demokratie wird auf einen fixen Satz von Werten reduziert. Der Umstand, dass diese Werte selbst das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse mit prinzipiell offenem Ausgang sind, geht dabei ebenso verloren wie das Bewusstsein dafür, welche kulturellen, historischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen diese Entwicklungen erst ermöglicht haben. Demokratie wird enthistorisiert, verdinglicht und damit als umso selbstverständlicher und universaler verstanden. Ähnlich der politischen Verwendung des Narrativs des "demokratischen Friedens", wird Demokratie in Form des demokratischen Multilateralismus zum berüchtigten (hier: sicherheitspolitischen) Hammer für eine Welt, deren Probleme nur aus Nägeln bestehen.

Entgegen der mit Demokratie assoziierten inklusiv-partizipatorischen Grundintention wirkt ein solcher "demokratischer Multilateralismus" wie ein Exklusionsmechanismus: Selbst schuld ist, wer es (noch) nicht geschafft hat, eine Demokratie aufzubauen, obwohl doch das "westliche Vorbild" so offensichtlich ist – so lautet überspitzt die zugrundeliegende Logik. Obwohl entscheidende Voraussetzungen – ehemalige Kolonie statt Kolonialmacht, Peripherie statt Zentrum des globalen Kapitalismus – nicht selten grundverschieden sind, werden damit Staaten ausgeschlossen, die sich zumindest selbst als eine Form der Demokratie verstehen, und das Risiko für Machtrivalitäten steigt.

Ein derart starres Demokratieverständnis politisiert Identitäten und ist kooperativer Sicherheitspolitik wenig zuträglich, nicht zuletzt weil es das Ringen um Deutungshoheit in der Weltpolitik als einen epischen Kampf zwischen Gut und Böse darstellt – ein Bild, in dem weder für "beschädigte" Demokratien innerhalb des westlichen Lagers noch für "kooperative" Autokratien Platz bleibt. Zudem vermag es Realitäten wie den Demokratieverlust auf beiden Seiten des Atlantiks oder aus anhaltenden Rohstoffabhängigkeiten eingegangene Kooperationen mit neuen "verlässlichen und vertrauenswürdigen Partnern" kaum mehr abzubilden.

Ein weiteres Problem der Inklusionsleistung multilateraler Sicherheitsarrangements zeigt sich in unklaren Mitgliedschaftskriterien. Ein Beispiel ist die von Deutschland und Frankreich ins Leben gerufene Allianz für den Multilateralismus: Sie ist zwar ein "Club der Demokratien", mit Blick auf konkrete Mitgliedschaften "ist aber auch nicht gesagt, dass es sich [dabei] auch nur um Demokratien handelt". Ebenfalls Teil der Allianz sind "wichtige Partner" wie etwa Jordanien. Auch der von US-Präsident Joe Biden ausgerufene Summit of Democracies sowie das D10-Strategieforum zwingen dazu, die Frage zu stellen, welcher Staat denn genau als "echte" oder "führende" Demokratie gelten kann und wer diese Abwägung in der Praxis trifft. In der Beantwortung dieser Fragen zeigt sich zum einen, dass bereits manche westliche Staaten hinsichtlich ihrer Demokratiequalität nicht besonders gut abschneiden. Zum anderen stützen die resultierenden Formate wiederum die Wahrnehmung, dass künftige Lösungsansätze zu einer globalen Sicherheitsordnung lediglich aus den ohnehin dominanten Staaten des Westens kommen könnten – und möglicherweise in letzter Konsequenz vor allem diesen zugutekämen.

Multilaterale Sicherheitspolitik weiterdenken

Das Beharren auf ein solches, im doppelten Sinne exklusives, Demokratieverständnis erscheint weniger als Teil der Lösung, sondern vielmehr als Problem, das die gegenwärtige globale sicherheitspolitische Lage zusätzlich destabilisiert. Die Forderung nach demokratischeren internationalen Beziehungen verlangt eine Antwort auf die Frage, wie multilaterale Sicherheitspolitik als ordnungsstiftende Praxis Formate entwickeln kann, die nicht nur im kleinen Kreis westlicher Demokratien, sondern auch bei anderen (nicht-)staatlichen Akteuren Kooperationsanreize setzen und so eine belastbare globale Sicherheitsarchitektur fördern können.

Wichtig ist hier die Beobachtung, dass der Multilateralismus weniger als strukturierendes Gestaltungsprinzip sicherheitspolitischer Ordnungen abgelehnt, sondern vielmehr über seinen Gehalt gestritten wird. Er hat also immer noch ausreichend Strahlkraft, um einen inklusiven Austausch über globale Sicherheits- und Ordnungsfragen jenseits von Vormachtansprüchen zu ermöglichen. Zwar hat der Konflikt um die Ukraine, etwa mit dem gescheiterten Minsk-Format, fraglos die Begrenzungen multilateraler Konfliktlösungsansätze markiert, aber mit dem ukrainischen EU-Beitrittsgesuch oder dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands eben auch die anhaltende Attraktivität multilateraler Formate. Und die Sanktionen und Waffenlieferungen als Reaktion auf die russische Aggression widerlegen zumindest teilweise Zweifel an der Handlungsfähigkeit multilateraler Koalitionen.

Die Chancen eines nachhaltigen Multilateralismus liegen daher gerade nicht in der instrumentalisierenden Nutzung des Begriffes, sondern in seinem substanziellen Gehalt: Multilateralismus nicht verstanden als ein Code für eine multipolare Weltordnung oder ein Bekenntnis zu bereits existierenden Institutionen, sondern als ein Prinzip, das neue Möglichkeitsräume für einen Austausch auch zwischen Konkurrenten und Gegnern ermöglicht. Multilaterale Formate, die diese Anforderungen erfüllen, müssen in der Lage sein, Akteure in einer kognitiv, aber keinesfalls politisch voraussetzungsfreien Weise einzubinden. Das bedeutet nicht, in einen Dialog zu treten, in dem keine politischen "roten Linien" oder Werte das Feld des Möglichen begrenzen. Aber es setzt voraus, dass Formate und Prozesse keine zusätzlichen, über die inhaltlichen Differenzen hinausgehenden Hürden auf den Weg zu Übereinkünften darstellen, so klein deren gemeinsamer Nenner auch sein mag.

Ein so verstandener nachhaltiger sicherheitspolitischer Multilateralismus bedeutet, alternative, nicht durch starke Assoziationen mit einzelnen Staaten oder Institutionen belastete Foren zu nutzen oder diese neu zu schaffen. Er erfordert, die eigenen demokratischen Überzeugungen in einem prozessualen Sinne ernst zu nehmen und konsequent anzuwenden – gerade gegenüber nicht-demokratischen Akteuren. Denn die Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse, die für einen solchen "kommunikativen Multilateralismus" unerlässlich sind, können ohne demokratische Prinzipien wie der grundsätzlichen Offenheit für alle interessierten Akteure sowie deren gleichwertige Behandlung kaum funktionieren. Multilaterale sicherheitspolitische Formate und Institutionen müssen so reformiert oder entworfen werden, dass sie in fortlaufenden Übersetzungsprozessen ein – manchmal sogar unfreiwilliges – adaptives Lernen im Umgang miteinander ermöglichen.

Konstruktives Misstrauen

Ein Ansatz, der dies befördern könnte, ist die Rückbesinnung auf die vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) während des Kalten Krieges. Dass Vertrauen das "höchste Gut" in der Außen- und Sicherheitspolitik ist, ist offenbar so selbstverständlich, dass zu wenig darüber nachgedacht wird, was zu tun ist, wenn es fehlt. Eine entscheidende Frage ist daher, wie das unumgängliche Vertrauen in politischen Beziehungen so gestärkt werden kann, dass es eine ordnungsstiftende Kraft entfaltet. Hier geht es nicht um das sich aus einer Vielzahl von persönlichen Interaktionen ergebende Vertrauen einzelner Akteure in ihre jeweiligen Gegenüber. Gleichzeitig kann es aber auch keine Lösung sein, individualistische Vertrauensbegriffe lediglich um eine systemische Dimension zu erweitern, also einer Dimension des Vertrauens, die sich nicht mehr auf das Handeln konkreter Personen bezieht, sondern auf Symbole, die wie etwa Geld oder Recht das unhinterfragte Funktionieren weltgesellschaftlicher Organisationszusammenhänge repräsentieren. Denn auch auf der systemischen Ebene hat die Vielzahl der Krisen und überbordenden Unsicherheitserfahrungen diese Basis des Vertrauens untergraben.

Von den VSBM bleibt jedoch die Einsicht, dass Vertrauen selbst im Konfliktfall ein Sicherheitsnetz liefern kann, das einen weiteren Austausch ermöglicht. Vertrauen ist eine Form der Komplexitätsreduktion, auf die man sich in unübersichtlichen Situationen verlassen kann. Diese "importiert" aber nichts, etwa im Sinne einer Übernahme fremder Werte. Vielmehr werden diese gemeinsam erarbeitet, beständig überprüft und wirken gerade daher umso verlässlicher. Kurzum: Es geht um ein Design multilateraler Sicherheitsformate, das dabei hilft, Kooperationschancen über For(m)en eines reflektierten gemeinsamen Lernens zu maximieren und Möglichkeitsräume der Zusammenarbeit beständig auszuloten und zu nutzen.

Neue Sicherheitsformate benötigen eine Architektur, in der das Gegenteil des Vertrauens, das Misstrauen, und damit die beständige Überprüfung des Vertrauens im Sinne eines erlernten Vertrauens eingelassen ist. Diese Formate müssen gerade darauf hinweisen, dass man ihnen auch gerechtfertigt misstrauen kann, um wiederum die Prozesse der Vertrauensbildung auf der Grundlage dieser misstrauischen Überprüfung fortzusetzen. Vertrauen bedeutet also auch das gemeinsame Erlernen von Selbst-Vertrauen im Sinne eines gleichzeitig, wenngleich nicht notwendigerweise koordiniert ablaufenden Prozesses der Selbstaufklärung über die fortwährende Angemessenheit der eigenen Wahrnehmung der Welt und des Gegenübers.

Ein Beispiel aus der sicherheitspolitischen Praxis sind multilaterale Foresight-Foren, in denen gemeinsam versucht wird, sich auf denkbare Szenarien zukünftiger Problemstellungen internationaler Politik vorzubereiten. Hier erhöht die Vielzahl der Beobachter nicht nur die Expertise, sondern auch die Zahl denkbarer und vor allem gemeinsam erwartbarer Szenarien. Zudem geht es in diesen Austauschprozessen darum, Dispositionen zur gegenseitigen Überprüfung offenzulegen. Diesen kann man zunächst intuitiv misstrauen, um sich dann im Austausch darüber zu informieren, ob ihnen tatsächlich (nicht) zu trauen ist. Auch ein solcher Prozess wird kaum in ein umfassendes generalisiertes Vertrauen in den jeweils anderen münden. Aber ein denkbares Ergebnis könnte das allseitige Vertrauen darauf sein, zumindest wieder in der Lage zu sein, über das Gleiche zu sprechen, wenn von Konzepten wie einem "demokratischen Multilateralismus" die Rede ist – ohne dabei notwendigerweise das Verständnis des anderen zu übernehmen.

Hier kommt wieder die demokratische Dimension multilateraler Sicherheitskooperation ins Spiel: In diesen Foren des Austauschs kommt eine Qualität demokratischer Verfahren zum Zuge, die noch viel grundlegender ist als alle von ihr ausgebildeten spezifischen Werte: das Wissen um die Umstrittenheit und Wandelbarkeit dieser Werte. Gerade die in der multilateralen Praxis unerlässlichen Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse sind ohne ein Mindestmaß an prozessualer Demokratie nicht denkbar. Diese Erkenntnis ist keinesfalls gleichbedeutend mit der Annahme, dass sich hieraus eine universale Sicherheitsordnung samt der ebenso universalen Gültigkeit spezifischer demokratischer Werte ableiten ließe. Sie legt aber den Blick frei für das Wechselspiel von Position und Opposition – und damit der prinzipiellen Revidierbarkeit von Wahrnehmungen und Entscheidungen.

Eine weitergedachte multilaterale und demokratische Sicherheitspolitik ist somit möglich. Multilaterale Sicherheitskooperation nach den umrissenen Prinzipien ließe sich zunächst im Rahmen begrenzter Projekte verwirklichen – ohne den Anspruch, unmittelbar zur Lösung akuter Krisen beizutragen. Diese Projekte sollten sich nicht auf einen rein funktionalen Multilateralismus beschränken, in dem die Ergebnisse, nicht aber die Mittel und Partner zählen. Zwar sollten Formate problemspezifisch für alle Teilnehmer offen sein. Sie müssen aber in demokratische Strukturen eingelassen sein, die bereits über die Herleitung des Problems vertrauensbildend wirken können und damit die alte Idee der "gewinnfreien Werbung" in eine neue Form multilateraler Kommunikation übersetzen. Das bedeutet, nicht aktiv zu "missionieren", sondern auf Ausstrahlungseffekte zu setzen, die sich aus Formen des offenen Austauschs und ihrer Problemlösungskompetenz ergeben können.

Eine solche Forderung nach mehr Kommunikation klingt nach einer Selbstverständlichkeit. Doch wie der Verweis auf Vertrauen als eine zu wenig beachtete Grundvoraussetzung dieser gemeinsamen Form des Austauschs zeigt, kann eine Neubetrachtung scheinbarer Selbstverständlichkeiten helfen, neue Wege aufzuzeigen und multilaterale Sicherheitskooperationen weiterzudenken.

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
E-Mail Link: jacobi@soz.uni-frankfurt.de

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
E-Mail Link: bartsch@soz.uni-frankfurt.de

ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
E-Mail Link: g.hellmann@soz.uni-frankfurt.de