Die Zuspitzung der internationalen Lage in den vergangenen Jahren, gipfelnd in der russischen Invasion der Ukraine, hat viele Reaktionen provoziert. In der deutschen Debatte wurde die "Zeit des geordneten Multilateralismus" in Europa und der Welt für beendet erklärt,
Gerade das Beispiel Deutschlands zeigt, wie schwerwiegend diese Entwicklungen sind: Dem Angriff Russlands steht eine deutsche Sicherheitspolitik gegenüber, die auch in der Beschreibung ihrer Insider bereits zuvor ihre Verankerung verloren hatte.
Die verkoppelten Prozesse des Aufstiegs autoritärer Mächte und des "Verfalls" der liberalen Weltordnung haben das von deutscher Einheit und europäischer Integration getragene Gefühl der Deutschen unterminiert, "von Freunden umzingelt"
In diesem Beitrag werden wir zunächst das klassische Verständnis multilateraler Sicherheitspolitik schärfer konturieren, um dann darzulegen, in welcher Dimension Multilateralismus heute besonders umkämpft ist. Im Anschluss zeigen wir Möglichkeiten auf, wie multilaterale Sicherheitspolitik weitergedacht werden kann, um globale Konfliktkonstellationen einzuhegen.
Klassische Grundlagen
Das erste Grundmerkmal des Multilateralismus, die gegenseitige Anerkennung staatlicher Souveränität, geht auf die Zeit des Westfälischen Friedens von 1648 zurück. Anerkennung bedeutete dabei die wechselseitige Anerkennung als souveräne Staaten und damit die wechselseitige Zuschreibung von legitimer staatlicher Handlungsfähigkeit. Souveränität ist prozessual zu denken, das heißt, sie besteht nur dann, wenn sie immer wieder wechselseitig bestätigt wird. Dieses "Überlebensprinzip"
Das zweite Grundmerkmal, diffuse Reziprozität,
Das dritte Grundmerkmal, Inklusivität, bedeutet zum einen, dass Vereinbarungen so formuliert werden, dass eine prinzipielle Offenheit für alle Staaten signalisiert wird, die bereit sind, einen Beitrag zur Lösung des jeweiligen Problems zu leisten. Zum anderen verleiht Inklusivität Vereinbarungen auch ein gewisses Maß an Legitimität, sodass sogar diejenigen, die nicht bereit sind, sich zu beteiligen, Lösungsmaßnahmen zumindest nicht verhindern. Die allgemeinen Verhaltensgrundsätze, die multilateralen Vereinbarungen zugrunde liegen, unterstreichen gerade im sicherheitspolitischen Bereich diese Einbeziehung, indem sie die Unteilbarkeit bestimmter Güter betonen, wie etwa Frieden und Freiheit: Unsicherheit betrifft immer ganze Regionen, ihre Auswirkungen machen nicht vor mentalen und politischen Grenzen Halt.
Das vierte Grundmerkmal, Gewaltfreiheit, zeigt sich darin, dass Staaten bereit sind, sich zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten in multilaterale sicherheitspolitische Rahmen einbinden zu lassen. Beispielhaft sind die Verhandlungen des Helsinki-Prozesses in den 1970er Jahren, als die beiden Bündnissysteme des Kalten Krieges erklärten, zumindest prinzipiell auf gewaltsame Mittel zur Lösung von Problemen zu verzichten. Hinzu kommt, dass die meisten Herausforderungen multilateraler Sicherheitspolitik nicht in einer einmaligen Aktion überwunden werden können, sondern nachhaltige Zusammenarbeit erfordern. Da die Machtverteilung in Konstellationen mit drei oder mehr Teilnehmern in aller Regel asymmetrisch ist und auf wechselnden Koalitionen beruht, ist gezielte Gewaltanwendung zudem deutlich erschwert. Die Herausforderung, breite und handlungsfähige Militärkoalitionen zu bilden,
Diese vier Prinzipien zeigen, dass multilaterale Sicherheitspolitik eine politische Praxis ist, die vor allem eine bestimmte globale Ordnungsstruktur befördert – und erst in zweiter Linie Ausdruck ideeller Überzeugungen ist. Dies wird gerade in aktuellen Debatten deutlich: Während der Multilateralismus der Nachkriegsordnung Ausdruck der globalen Dominanz "westlicher" Ordnungspräferenzen war, zeigen Debatten über das "Ende der liberalen Ordnung" und den "Aufstieg des Autoritarismus", dass das Ordnungsprinzip als solches nicht kritisiert wird und insbesondere die ersten beiden Grundmerkmale kaum in Zweifel gezogen werden. Allerdings wird umso heftiger darüber gestritten, wie ein "wahrer Multilateralismus" im Sinne "demokratischerer internationaler Beziehungen" verstanden werden kann, wie sie von der selbst wenig demokratischen Volksrepublik China gefordert werden.
Zwischen Inklusion und Exklusion
Inklusion ist eines der zentralen Versprechen des Multilateralismus als "Lebensform".
Exklusion stellt sich hier immer als eine graduelle Unterscheidung dar: von gezielten, sektoral begrenzten Zugangsverweigerungen, wie dem Verbot von Firmenübernahmen durch Unternehmen aus einem bestimmten Land, über wirtschaftliche Sanktionen bis hin zum vollständigen Ausschluss anhand eines Freund-Feind-Schemas. Viele dieser Praktiken der Grenzziehung konnten lange Zeit nur durch das Fehlen von Alternativen zu Institutionen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds aufrechterhalten werden, die durch westliche Staaten dominiert waren. In unserer zumindest wirtschaftlich zunehmend multipolaren Gegenwart herrscht jedoch eine paradoxe Situation: Aufsteigende autoritäre Staaten wie China "sezieren und re-kodieren"
Multilaterale Sicherheitspolitik und Demokratie
In der Tat machen es westliche Staaten ihren Herausforderern hier leicht, grundlegende Kritik zu äußern und so die Legitimität klassischer multilateraler Sicherheitsarrangements anzufechten. Nicht nur weisen viele Institutionen tatsächlich kaum zu leugnende Defizite hinsichtlich der Mitwirkungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Gruppen oder Staaten des Globalen Südens auf. Auch der Versuch, diese Ordnung zu stabilisieren, stützt sich oft auf ein Demokratieverständnis, das auf viele der Staaten und Gesellschaften, um deren Loyalität Demokratien und Autokratien ringen, eher exkludierend als inkludierend wirkt.
Das Problem von Initiativen wie der vom ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnson vorgeschlagenen "D10", in der "führende", überwiegend westliche Staaten im Zuge eines "demokratischen Multilateralismus" fundamentale Entscheidungen über globale Sicherheitsprobleme treffen, liegt in ihrem Demokratieverständnis: Demokratie wird auf einen fixen Satz von Werten reduziert. Der Umstand, dass diese Werte selbst das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse mit prinzipiell offenem Ausgang sind, geht dabei ebenso verloren wie das Bewusstsein dafür, welche kulturellen, historischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen diese Entwicklungen erst ermöglicht haben. Demokratie wird enthistorisiert, verdinglicht und damit als umso selbstverständlicher und universaler verstanden. Ähnlich der politischen Verwendung des Narrativs des "demokratischen Friedens", wird Demokratie in Form des demokratischen Multilateralismus zum berüchtigten (hier: sicherheitspolitischen) Hammer für eine Welt, deren Probleme nur aus Nägeln bestehen.
Entgegen der mit Demokratie assoziierten inklusiv-partizipatorischen Grundintention wirkt ein solcher "demokratischer Multilateralismus" wie ein Exklusionsmechanismus: Selbst schuld ist, wer es (noch) nicht geschafft hat, eine Demokratie aufzubauen, obwohl doch das "westliche Vorbild" so offensichtlich ist – so lautet überspitzt die zugrundeliegende Logik. Obwohl entscheidende Voraussetzungen – ehemalige Kolonie statt Kolonialmacht, Peripherie statt Zentrum des globalen Kapitalismus – nicht selten grundverschieden sind, werden damit Staaten ausgeschlossen, die sich zumindest selbst als eine Form der Demokratie verstehen, und das Risiko für Machtrivalitäten steigt.
Ein derart starres Demokratieverständnis politisiert Identitäten und ist kooperativer Sicherheitspolitik wenig zuträglich, nicht zuletzt weil es das Ringen um Deutungshoheit in der Weltpolitik als einen epischen Kampf zwischen Gut und Böse darstellt – ein Bild, in dem weder für "beschädigte" Demokratien innerhalb des westlichen Lagers noch für "kooperative" Autokratien Platz bleibt. Zudem vermag es Realitäten wie den Demokratieverlust auf beiden Seiten des Atlantiks oder aus anhaltenden Rohstoffabhängigkeiten eingegangene Kooperationen mit neuen "verlässlichen und vertrauenswürdigen Partnern"
Ein weiteres Problem der Inklusionsleistung multilateraler Sicherheitsarrangements zeigt sich in unklaren Mitgliedschaftskriterien. Ein Beispiel ist die von Deutschland und Frankreich ins Leben gerufene Allianz für den Multilateralismus: Sie ist zwar ein "Club der Demokratien", mit Blick auf konkrete Mitgliedschaften "ist aber auch nicht gesagt, dass es sich [dabei] auch nur um Demokratien handelt".
Multilaterale Sicherheitspolitik weiterdenken
Das Beharren auf ein solches, im doppelten Sinne exklusives, Demokratieverständnis erscheint weniger als Teil der Lösung, sondern vielmehr als Problem, das die gegenwärtige globale sicherheitspolitische Lage zusätzlich destabilisiert. Die Forderung nach demokratischeren internationalen Beziehungen verlangt eine Antwort auf die Frage, wie multilaterale Sicherheitspolitik als ordnungsstiftende Praxis Formate entwickeln kann, die nicht nur im kleinen Kreis westlicher Demokratien, sondern auch bei anderen (nicht-)staatlichen Akteuren Kooperationsanreize setzen und so eine belastbare globale Sicherheitsarchitektur fördern können.
Wichtig ist hier die Beobachtung, dass der Multilateralismus weniger als strukturierendes Gestaltungsprinzip sicherheitspolitischer Ordnungen abgelehnt, sondern vielmehr über seinen Gehalt gestritten wird. Er hat also immer noch ausreichend Strahlkraft, um einen inklusiven Austausch über globale Sicherheits- und Ordnungsfragen jenseits von Vormachtansprüchen zu ermöglichen. Zwar hat der Konflikt um die Ukraine, etwa mit dem gescheiterten Minsk-Format, fraglos die Begrenzungen multilateraler Konfliktlösungsansätze markiert, aber mit dem ukrainischen EU-Beitrittsgesuch oder dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands eben auch die anhaltende Attraktivität multilateraler Formate. Und die Sanktionen und Waffenlieferungen als Reaktion auf die russische Aggression widerlegen zumindest teilweise Zweifel an der Handlungsfähigkeit multilateraler Koalitionen.
Die Chancen eines nachhaltigen Multilateralismus liegen daher gerade nicht in der instrumentalisierenden Nutzung des Begriffes, sondern in seinem substanziellen Gehalt: Multilateralismus nicht verstanden als ein Code für eine multipolare Weltordnung oder ein Bekenntnis zu bereits existierenden Institutionen, sondern als ein Prinzip, das neue Möglichkeitsräume für einen Austausch auch zwischen Konkurrenten und Gegnern ermöglicht. Multilaterale Formate, die diese Anforderungen erfüllen, müssen in der Lage sein, Akteure in einer kognitiv, aber keinesfalls politisch voraussetzungsfreien Weise einzubinden. Das bedeutet nicht, in einen Dialog zu treten, in dem keine politischen "roten Linien" oder Werte das Feld des Möglichen begrenzen. Aber es setzt voraus, dass Formate und Prozesse keine zusätzlichen, über die inhaltlichen Differenzen hinausgehenden Hürden auf den Weg zu Übereinkünften darstellen, so klein deren gemeinsamer Nenner auch sein mag.
Ein so verstandener nachhaltiger sicherheitspolitischer Multilateralismus bedeutet, alternative, nicht durch starke Assoziationen mit einzelnen Staaten oder Institutionen belastete Foren zu nutzen oder diese neu zu schaffen. Er erfordert, die eigenen demokratischen Überzeugungen in einem prozessualen Sinne ernst zu nehmen und konsequent anzuwenden – gerade gegenüber nicht-demokratischen Akteuren. Denn die Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse, die für einen solchen "kommunikativen Multilateralismus" unerlässlich sind, können ohne demokratische Prinzipien wie der grundsätzlichen Offenheit für alle interessierten Akteure sowie deren gleichwertige Behandlung kaum funktionieren. Multilaterale sicherheitspolitische Formate und Institutionen müssen so reformiert oder entworfen werden, dass sie in fortlaufenden Übersetzungsprozessen ein – manchmal sogar unfreiwilliges – adaptives Lernen im Umgang miteinander ermöglichen.
Konstruktives Misstrauen
Ein Ansatz, der dies befördern könnte, ist die Rückbesinnung auf die vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) während des Kalten Krieges. Dass Vertrauen das "höchste Gut" in der Außen- und Sicherheitspolitik ist,
Von den VSBM bleibt jedoch die Einsicht, dass Vertrauen selbst im Konfliktfall ein Sicherheitsnetz liefern kann, das einen weiteren Austausch ermöglicht. Vertrauen ist eine Form der Komplexitätsreduktion, auf die man sich in unübersichtlichen Situationen verlassen kann. Diese "importiert" aber nichts, etwa im Sinne einer Übernahme fremder Werte. Vielmehr werden diese gemeinsam erarbeitet, beständig überprüft und wirken gerade daher umso verlässlicher. Kurzum: Es geht um ein Design multilateraler Sicherheitsformate, das dabei hilft, Kooperationschancen über For(m)en eines reflektierten gemeinsamen Lernens zu maximieren und Möglichkeitsräume der Zusammenarbeit beständig auszuloten und zu nutzen.
Neue Sicherheitsformate benötigen eine Architektur, in der das Gegenteil des Vertrauens, das Misstrauen, und damit die beständige Überprüfung des Vertrauens im Sinne eines erlernten Vertrauens eingelassen ist. Diese Formate müssen gerade darauf hinweisen, dass man ihnen auch gerechtfertigt misstrauen kann, um wiederum die Prozesse der Vertrauensbildung auf der Grundlage dieser misstrauischen Überprüfung fortzusetzen. Vertrauen bedeutet also auch das gemeinsame Erlernen von Selbst-Vertrauen im Sinne eines gleichzeitig, wenngleich nicht notwendigerweise koordiniert ablaufenden Prozesses der Selbstaufklärung über die fortwährende Angemessenheit der eigenen Wahrnehmung der Welt und des Gegenübers.
Ein Beispiel aus der sicherheitspolitischen Praxis sind multilaterale Foresight-Foren, in denen gemeinsam versucht wird, sich auf denkbare Szenarien zukünftiger Problemstellungen internationaler Politik vorzubereiten.
Hier kommt wieder die demokratische Dimension multilateraler Sicherheitskooperation ins Spiel: In diesen Foren des Austauschs kommt eine Qualität demokratischer Verfahren zum Zuge, die noch viel grundlegender ist als alle von ihr ausgebildeten spezifischen Werte: das Wissen um die Umstrittenheit und Wandelbarkeit dieser Werte. Gerade die in der multilateralen Praxis unerlässlichen Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse sind ohne ein Mindestmaß an prozessualer Demokratie nicht denkbar. Diese Erkenntnis ist keinesfalls gleichbedeutend mit der Annahme, dass sich hieraus eine universale Sicherheitsordnung samt der ebenso universalen Gültigkeit spezifischer demokratischer Werte ableiten ließe. Sie legt aber den Blick frei für das Wechselspiel von Position und Opposition – und damit der prinzipiellen Revidierbarkeit von Wahrnehmungen und Entscheidungen.
Eine weitergedachte multilaterale und demokratische Sicherheitspolitik ist somit möglich. Multilaterale Sicherheitskooperation nach den umrissenen Prinzipien ließe sich zunächst im Rahmen begrenzter Projekte verwirklichen – ohne den Anspruch, unmittelbar zur Lösung akuter Krisen beizutragen. Diese Projekte sollten sich nicht auf einen rein funktionalen Multilateralismus beschränken, in dem die Ergebnisse, nicht aber die Mittel und Partner zählen. Zwar sollten Formate problemspezifisch für alle Teilnehmer offen sein. Sie müssen aber in demokratische Strukturen eingelassen sein, die bereits über die Herleitung des Problems vertrauensbildend wirken können und damit die alte Idee der "gewinnfreien Werbung"
Eine solche Forderung nach mehr Kommunikation klingt nach einer Selbstverständlichkeit. Doch wie der Verweis auf Vertrauen als eine zu wenig beachtete Grundvoraussetzung dieser gemeinsamen Form des Austauschs zeigt, kann eine Neubetrachtung scheinbarer Selbstverständlichkeiten helfen, neue Wege aufzuzeigen und multilaterale Sicherheitskooperationen weiterzudenken.