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Ende der Abrüstung | Internationale Sicherheit | bpb.de

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Ende der Abrüstung Nukleare Rüstungskontrolle heute

Jonas Schneider

/ 15 Minuten zu lesen

Die atomare Rüstungskontrolle befindet sich in einer schwierigen Lage. Dennoch sind die negativen Folgen ihrer aktuellen Schwächephase bisher gering. Ebenso wirkt Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht als "Todesstoß" für die Rüstungskontrolle oder die nukleare Ordnung.

In Zeiten zunehmender Spannungen unter Großmächten richtet sich der hilfesuchende Blick naturgemäß auf die Rüstungskontrolle und hier insbesondere auf den Bereich der Kernwaffen. Denn obwohl das Spektrum rüstungskontrollpolitischer Aktivitäten breit ist, verfolgen sie letztlich alle das Ziel, Kriege zu verhindern, speziell solche zwischen nuklearen Großmächten. Die atomare Rüstungskontrolle selbst befindet sich heute in einer schwierigen Phase. Die negativen Folgen ihrer Schwäche sind bislang aber überschaubar.

Das übergeordnete Ziel der Kriegsverhütung spiegelt sich in beiden Strängen der nuklearen Rüstungskontrolle wider: der Risikoreduzierung und der Rüstungsbegrenzung. Maßnahmen zur Risikoreduzierung sollen mittels größerer Transparenz und direkter Kommunikationskanäle die Wahrscheinlichkeit von Kernwaffeneinsätzen senken, vor allem von unabsichtlichen. Schritte zur Rüstungsbegrenzung zielen darauf, durch die Regulierung des Rüstungswettbewerbs die Bedeutung destabilisierender Waffen allseitig zu verringern oder gezielt potenzielle Aggressorstaaten zu "fesseln".

Gegenüber diesem analytischen Verständnis ist die politische Lesart dessen, was genau Rüstungskontrolle ist und was sie leisten soll, meist enger gefasst. In Deutschland etwa wird nukleare Rüstungskontrolle primär als Abrüstung verstanden; beide Begriffe werden oft sogar synonym verwendet. Dabei ist atomare Abrüstung, also die Absenkung der Obergrenzen für die Arsenale, bloß eine mögliche Ausprägung von Rüstungsbegrenzung.

Diese einseitige Sicht fokussiert auf die rüstungskontrollpolitische Erfahrung des Westens mit der Sowjetunion und später Russland von der Auflösung des Ost-West-Konflikts ab Mitte der 1980er Jahre bis 2011, als das Abkommen New START (Strategic Arms Reduction Treaty) in Kraft trat, das bislang letzte Abkommen zwischen den USA und Russland über die Reduzierung ihrer strategischen Offensivwaffen. Diese Periode von 25 Jahren, die mit Blick auf ihre Anfangszeit oft als "goldene Ära" bezeichnet wird, weil Washington und Moskau damals immense Abrüstungsschritte unternahmen, ist jedoch nicht repräsentativ. Heutige Erwartungen an dieser Ausnahmephase festzumachen, verstellte daher den Blick auf den derzeitigen Stand und die Perspektiven der nuklearen Rüstungskontrolle.

Jahrzehnt der Erosion

Spätestens seit 2012 befindet sich die nukleare Rüstungskontrolle in einem Prozess der Erosion. Manche Beobachter datieren den Beginn dieser Phase auf das Jahr 2002, als die US-Regierung unter George W. Bush den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) mit Russland kündigte, um eine nationale Raketenabwehr aufzubauen. Allerdings konnten danach noch weitere Fortschritte bei der Rüstungsbegrenzung erreicht werden: Unter dem 2002 geschlossen SORT-Abkommen (Strategic Offenses Reduction Treaty) wurden die strategischen Atomarsenale der USA und Russlands erheblich verkleinert, noch weiter ab 2011 unter New START.

Die russisch-amerikanische Einigung auf New START und dessen Inkrafttreten markierten aber den Schlussakt der vorherigen zweieinhalb Jahrzehnte. Seit 2012 wurden keine neuen Abkommen mehr erreicht: Das Angebot von US-Präsident Barack Obama 2013, über eine bilaterale Reduzierung der zulässigen stationierten strategischen Nuklearwaffen über New START hinaus von derzeit 1550 auf 1000 zu verhandeln, schlug der Kreml unter dem 2012 ins Präsidentenamt zurückgekehrten Wladimir Putin aus.

Als Erfolg gilt seither bereits die Bewahrung des Status quo. Dies betraf konkret New START. Der Vertrag wäre am 5. Februar 2021 ausgelaufen. Weil es keine echte Aussicht auf einen Nachfolgevertrag gab, lag die Verlängerung um fünf Jahre nahe, um die Obergrenzen des Abkommens zu erhalten. US-Präsident Donald Trump knüpfte seine Billigung jedoch an Zusatzkriterien. Erst sein Nachfolger Joe Biden erteilte die bedingungslose Zustimmung zur Verlängerung, Tage bevor New START ersatzlos ausgelaufen wäre.

Nicht erhalten werden konnte der Status quo derweil im Bereich der Mittelstreckenraketen. Der 1988 in Kraft getretene INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty), der Russland und den USA den Besitz, die Produktion und das Testen von landgestützten Raketen mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometern) untersagte, ist 2019 endgültig gescheitert. Moskau hatte über Jahre gegen ihn verstoßen und einen Marschflugkörper dieser Reichweite gebaut. Als der Kreml sich weigerte, den Verstoß zuzugeben, zog sich die Trump-Regierung aus dem Abkommen zurück. Mittlerweile entwickelt auch das US-Militär wieder bodengestützte Mittelstreckenraketen, und selbst die Biden-Administration zieht keine Rückkehr zum alten INF-Vertrag in Betracht.

Ursachen der Erosion

Das Zerbröseln der nuklearen Rüstungskontrollarchitektur ist ein komplexer Prozess. Ein Großteil der Dynamik lässt sich aber auf vier Entwicklungen zurückführen, die sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken.

Eine starke Triebfeder ist der Aufstieg neuer Mächte, die in der Rüstungskonkurrenz "mitmischen". Da alle bisherigen nuklearen Rüstungsbegrenzungsverträge allein die Arsenale von Russland und den USA beschränkten, setzen neue Akteure, die ungebunden aufrüsten, die etablierte Ordnung unter Druck. China, das Obergrenzen für sein Atomarsenal bisher ablehnt, spielt dabei die Hauptrolle. Beijings rasch wachsende Zahl an Mittelstreckenraketen ließ Russland schon Anfang der 2000er Jahre mehrfach in Washington nachfragen, ob man den INF-Vertrag nicht auflösen könne; die USA lehnten jeweils ab. Mittlerweile bauen oder entwickeln im Indopazifik und Mittleren Osten zehn weitere Länder, darunter vier Staaten mit Kernwaffen, landgestützte Mittelstreckenraketen. So ergibt ein vollständiger Verzicht auf diese Raketen allein von Russland und den USA für beide immer weniger Sinn.

Bei den strategischen Waffen ist der Wandel nicht minder fundamental. China ist im Begriff, sein Arsenal an Raketen mit interkontinentaler Reichweite massiv auszubauen und so zur dritten atomaren Großmacht aufzusteigen. Dass Washington und Moskau neue Verträge zur nuklearen Abrüstung schließen, während China ungebremst aufrüstet, ist unrealistisch. Selbst der Status quo gerät unter Druck: Die aufziehende Situation einer nuklearen Tripolarität stellt die USA vor das Problem, mit Beijing bald noch einen zweiten Gegenspieler in Schach halten zu müssen, während Amerikas eigene hierfür relevante Abschreckungskräfte durch New START limitiert werden.

Der zweite Erosionstreiber besteht in der Wiederkehr von Großmachtrivalitäten um regionale Vorherrschaft. Moskaus und Beijings Bestreben, ihren Einfluss in Osteuropa beziehungsweise in Ostasien auf Kosten amerikanischer Partner auszubauen, hat Russland einen Krieg beginnen lassen und das Kriegsrisiko in Asien im vergangenen Jahrzehnt erhöht. In diesem Kontext hat atomare Abschreckung fühlbar an Bedeutung gewonnen, die Rolle von Kernwaffen in den Sicherheitspolitiken der Großmächte und ihrer Partner ist gewachsen. Nukleare Risikoreduzierung wird nun zwar wichtiger; die Fähigkeit, neue solche Schritte zu vereinbaren und umzusetzen, nimmt bei konfliktgeprägten Beziehungen aber ab: Alle Versuche der USA, für Krisen einen direkten Draht zur chinesischen Militärführung aufzubauen, sind ins Leere gelaufen. Auch die Rüstungsbegrenzung wird schwieriger, weil das nukleare Kräfteverhältnis einen langen Schatten auf die Machtrivalitäten wirft: Die Atomarsenale der beteiligten Großmächte sind nicht nur das Sicherheitsnetz für ihre kompetitiven Außenpolitiken. Sie sind selbst eine zentrale Währung im Ringen um Einfluss.

Der dritte für die Rüstungskontrolle problematische Faktor sind technologische Entwicklungen, die die Anforderungen für eine effektive Abschreckung erhöhen. Selbst ein kleines Atomarsenal kann Angreifer gut abschrecken, wenn die für einen Vergeltungsschlag zu nutzenden Raketen nicht vorab zerstört werden können. Diese Unverwundbarkeit besteht, wenn die Raketen von den Angreifern nicht exakt aufzuspüren sind, etwa weil sie an Land auf mobilen Abschussrampen oder verborgen im Ozean auf patrouillierenden U-Booten stationiert sind. Kann ein Angreifer die Waffen dennoch orten und potenziell ausschalten, verliert das Arsenal seine abschreckende Wirkung. In diesem "Versteckspiel" haben sich die Gewichte verschoben: Fortschritte bei der Sensortechnik und Datenverarbeitung lassen es heute möglich erscheinen, auch U-Boote oder straßenmobile Raketen in Echtzeit zu lokalisieren und in Präventivschlägen auszuschalten. Diese neuartige Verwundbarkeit betrifft besonders Nordkorea und China. In der Folge haben beide starke Anreize, ihre Arsenale zu vergrößern. Eine Rüstungsbegrenzung wäre damit erst auf einem höheren Niveau vereinbar.

Die vierte Erosionsursache besteht in innenpolitischen Widerständen in den USA. Die Situation, dass China frei von vertraglichen Zwängen aufrüsten konnte und weiter kann, hat dazu beigetragen, bilaterale Rüstungskontrollverträge als sicherheitspolitisches Instrument in Washington zu diskreditieren. Vor allem in der Republikanischen Partei hat die Unterstützung für eine zurückhaltende US-Kernwaffenpolitik stark nachgelassen. Damit Verträge mit den USA über nukleare Rüstungsbegrenzung in Kraft treten können, müssen sie aber im US-Senat von einer Zweidrittelmehrheit ratifiziert werden. Eine solche überparteiliche Mehrheit zu bilden, ist heutzutage wegen der scharfen politischen Polarisierung in Amerika extrem schwierig: Rüstungskontrollverträge, die nicht auch Beijing binden, durch den Kongress zu bringen, dürfte künftig höchstens noch republikanischen Präsidenten gelingen. Gerade diese werden aber an Rüstungsbegrenzung ohne China kaum noch interessiert sein.

Folgen der Erosion

Bereits vor dem Ukraine-Krieg hatte die schwierige Lage der nuklearen Rüstungskontrolle negative, aber keineswegs dramatische Effekte auf die internationale Politik. Die Gefahr, dass Russland oder die Nato Kernwaffen gegeneinander einsetzen, war 2021 trotz des Zerfalls der Rüstungskontrollarchitektur minimal. Zwar konnte ein Atomschlag, der als Folge eines Unfalls zustande kommt (accidental escalation), nie völlig ausgeschlossen werden. Die Geschichte zeigt jedoch, dass solche Gefahrensituationen fast nur in internationalen Krisen auftreten; abseits von Krisen ist das Risiko verschwindend gering. Die Gefahr von nuklearen Eskalationen, die entstehen, weil in einem Konflikt das militärische Handeln des Gegners falsch interpretiert wird (inadvertent escalation), kann indessen durch effektive Krisenkommunikation fast vollständig beseitigt werden. Zwischen den USA und Russland gibt es erprobte Gesprächskanäle, um diese Risiken einzuhegen – und sie wurden erfolgreich genutzt, etwa vor dem Hintergrund des Krieges in Syrien. Gefährlicher sind die Spannungen in Asien bei Abwesenheit belastbarer Gesprächskanäle mit Beijing und Pjöngjang. Das Ausbleiben ernster Krisen mit China in den vergangenen 25 Jahren hat dies nur verdeckt. In der Nuklearkrise mit Nordkorea 2017 war das Eskalationsrisiko dagegen hoch.

Die Gefahr einer vermehrten Proliferation von Kernwaffen wird oft mit Misserfolgen bei der Rüstungsbegrenzung verknüpft. Pessimisten befürchten schon lange, dass das Stocken bei der nuklearen Abrüstung den Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen (Nuclear Nonproliferation Treaty, NPT) aushöhlt. In dieser Lesart basiert die Stabilität des NPT auf einem Tauschgeschäft, bei dem die Staaten ohne Atomwaffen ihren Verzicht primär daran geknüpft haben, dass die Kernwaffenstaaten langfristig abrüsten. Die Sorge, der mangelnde Fortschritt bei der Abrüstung würde zu NPT-Austritten von Nichtkernwaffenstaaten führen, war jedoch stets übertrieben. Das Festhalten der Atommächte an ihren Arsenalen mag ungerecht sein. Das Überleben des NPT hängt aber nicht von der maximalen Gerechtigkeit seiner Bestimmungen oder deren Umsetzung ab. Entscheidend ist dafür, dass der Vertrag allen Seiten Vorteile bringt und Parteien im Falle ihres NPT-Austritts mit kollektiven Sanktionen der Großmächte rechnen müssen. Kein Staat war bislang bereit, diese Kosten zu tragen.

Obschon die Frustration über Abrüstungsfragen den NPT nie ins Wanken brachte, hat diese Enttäuschung die Polarisierung unter den NPT-Mitgliedern verschärft. Viele Staaten halten die schrittweise Reduzierung der Arsenale, wie sie New START verkörpert, für gescheitert; ein Teil hat sich inzwischen der kompletten sofortigen Ächtung der atomaren Abschreckung verschrieben. Ergebnis ihrer Mühen ist der 2021 in Kraft getretene Atomwaffenverbotsvertrag (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW). Dass sich der Vertrag international durchsetzt, ist allerdings unrealistisch. Dennoch verstärkte er bis zum Ukraine-Krieg die Spaltungen über Atomwaffen: Die Konfliktlinie im NPT zwischen dem auf Abschreckung setzenden Norden, bestehend aus den Kernwaffenstaaten und den US-Alliierten, und dem nicht-nuklearen Globalen Süden ist tiefer geworden. Hinzu kommen Spannungen unter den US-Alliierten darüber, wie rigoros der TPNW abzulehnen sei, weil er sich gegen das Fundament ihrer Allianzen – den Schutz durch nukleare Abschreckung – richtet. Norwegen und Deutschland, die dem TPNW zwar nicht beitreten, aber als einzige Nato-Länder 2021 erklärten, am ersten Treffen der TPNW-Staaten im Juni 2022 als Beobachter teilnehmen zu wollen, hatten damit in der Nato für Streit gesorgt.

Schließlich stellt sich die Frage, ob die Erosion der Rüstungskontrolle ein nukleares Wettrüsten ausgelöst hat. Bisher ist dies nicht der Fall. Seit dem Ende des INF-Vertrags hat weder Moskau noch Washington eine einzige zusätzliche Rakete stationiert, die durch den Vertrag verboten gewesen wäre. Russland besitzt einige solcher Waffen – wie vor 2019. Die USA entwickeln sie, gehen aber nicht den Schritt zur Produktion. Scheinbar genügt die bloße Fähigkeit auf US-Seite, die Raketen zügig bauen zu können, um weitere russische Stationierungen in Europa abzuschrecken.

Im Interkontinentalbereich entwickelt Moskau teils neuartige Systeme, wobei der Gesamtumfang seines Arsenals gleichgeblieben ist. Beijing rüstet bei verbunkerten Raketen stark auf. Washington reagiert darauf bisher nicht: Hier findet mithin eine chinesische Aufholjagd statt, kein trilaterales Wettrennen. Als Konsequenz der amerikanischen Kündigung des ABM-Vertrags 2002 können nur Russlands qualitative Innovationen gelten, nicht Chinas quantitatives Nachziehen. Ausschlaggebend für Letzteres ist eher, dass das Pentagon im vergangenen Jahrzehnt Durchbrüche bei nicht-nuklearen Offensivwaffen erzielt hat, die Chinas Vergeltungsfähigkeit viel stärker gefährden, als es die Raketenabwehr tut, und dass die politische Rivalität mit den USA enorm an Schärfe gewonnen hat.

Nach Russlands Angriff auf die Ukraine

Mehr als ein halbes Jahr, nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat, lassen sich erste Schlüsse ziehen, welche Auswirkungen dieser Krieg auf die atomare Rüstungskontrolle und indirekt auf die internationale nukleare Ordnung hat. Der sichtbarste Effekt war, dass die US-Regierung gleich nach Kriegsbeginn die Vorgespräche über einen Nachfolgevertrag für New START aussetzte. Diesen zuvor schon inhaltlich schwierigen Diskussionen läuft nun die Zeit davon, da der Vertrag 2026 endgültig ausläuft. Die bereits vor dem Krieg starken innenpolitischen Widerstände in den USA gegen bilaterale Rüstungskontrollverträge mit Russland dürften infolge von Putins Angriffskrieg noch wachsen. Bisher jedoch halten beide Staaten die Obergrenzen von New START weiter ein und tauschen, wie im Vertrag vorgesehen, die diesbezüglichen Daten aus. Zudem haben beide Regierungen jüngst erklärt, dass es auch nach 2026 für die strategischen Waffen ihrer Länder Obergrenzen brauche – zur Not auch in nicht-vertraglicher Form.

Die für die nukleare Risikoreduzierung gedachten Kommunikationskanäle zwischen Moskau und Washington scheinen trotz des Krieges weiterhin zu funktionieren. Als etwa Russland im April seine neueste Interkontinentalrakete testete, hat das russische Militär einen etablierten Gesprächskanal genutzt, um das Pentagon vorab darüber in Kenntnis zu setzen und eine ungewollte Eskalation zu vermeiden. Damit die USA und Russland wegen der Ukraine nicht in einen größeren Krieg miteinander geraten, haben sie Anfang März 2022 noch eine Deeskalationshotline zwischen dem US-Militärkommando für Europa und dem Verteidigungsministerium in Moskau eingerichtet. Obschon Schritte zur Risikoreduzierung gefühlt nie genug sind: Die Krisenkommunikation funktioniert; das Risiko unbeabsichtigter Atomschläge erscheint minimal. Das gleiche gilt für das Abfeuern von Kernwaffen als Folge eines Unfalls. Das Risiko dafür ist weiterhin sehr gering, weil Russland trotz aller Drohungen seine Kernwaffen bisher nicht in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hat oder sie aus ihren Lagern geholt hat. Ein voll beabsichtigter Ersteinsatz von Russlands Kernwaffen ist ohnehin extrem unwahrscheinlich.

Eine Nebenwirkung des Ukraine-Krieges ist, dass er viele Fragen zur Proliferation von Kernwaffen aufwirft. Kyjiw hatte 1994 seine von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen abgegeben. Hierbei erhielt es negative Sicherheitsgarantien von Russland, den USA und dem Vereinigten Königreich: Zusagen, dass sie die Ukraine nicht angreifen würden. Könnten künftige nukleare Deals – etwa mit Nordkorea oder Iran – daran scheitern, dass Putins Angriffskrieg solche maßgeschneiderten Garantien entwertet hat? Zudem genießen alle Nichtkernwaffenstaaten des NPT allgemeine negative Sicherheitsgarantien der Vetomächte des UN-Sicherheitsrats. Sind diese nun auch wertlos? Und werden Dritte aus der Lage, dass die Atommacht Russland den Nichtkernwaffenstaat Ukraine überfallen und mit Nukleardrohungen ein direktes Eingreifen der Nato abwenden konnte, die Lehre ziehen, sie bräuchten selbst unbedingt die Bombe?

Diese Proliferationsängste sind unbegründet. Die Führer von Nordkorea und Iran misstrauen den Sicherheitszusagen der USA; das taten sie jedoch auch schon vor dem Ukraine-Krieg und ebenso vor der Besetzung der Krim 2014. Auch alle anderen Staaten, die für Proliferation infrage kommen, würden diesen Entschluss nicht an negativen Sicherheitsgarantien festmachen, egal in welcher Form. Das Schicksal der Ukraine als nicht-nukleares Opfer spiegelt sich indes in Umfragen wider, die etwa in Mittelosteuropa auf eine gestiegene Wertschätzung der Bevölkerung für die Vorteile eigener Kernwaffen hindeuten. Dem gefühlt gestiegenen Abschreckungswert stehen aber weiter enorme Nachteile und Risiken eines Kernwaffenbaus gegenüber, die für die allermeisten Regierungen den Verzicht nahelegen: von Sanktionen über eine Isolation bis zum Risiko eines Militärschlags. Ohnehin besteht das Gros der Proliferationskandidaten aus Partnern und Alliierten der USA, und Washington ist immer noch in der Lage, die Sicherheitsbedürfnisse dieser Länder zu befriedigen.

Moskaus Bruch internationaler Normen in der Ukraine scheint sogar die NPT-Staaten zusammengeschweißt zu haben – zumindest ein wenig: Zwar konnten sich die TPNW-Vertragsstaaten bei ihrem ersten Treffen im Juni 2022 nicht dazu durchringen, Moskaus offensive atomare Drohgebärden zu verurteilen. Die Abschlusserklärung kritisiert "alle und jegliche nuklearen Drohungen" und setzt damit die russischen Tabubrüche mit der Abschreckungspolitik etwa der Nato gleich. Jedoch haben sich dieselben Staaten bei der Überprüfungskonferenz des NPT im August 2022 dann höchst pragmatisch verhalten. Sie haben bei ihren nuklearen Abrüstungsforderungen sehr große Zugeständnisse gemacht, um die Konferenz keinesfalls scheitern zu lassen; erst Russland zerstörte den Konsens. Abseits des NPT-Regimes haben Putins Krieg und nukleare Drohungen auch den Dissens in der Nato über den Umgang mit TPNW-Vertragsstaaten verdrängt – obwohl im Juni auch noch Belgien und die Niederlande als Beobachter am TPNW-Treffen teilnahmen.

Ausblick

Die atomare Rüstungskontrolle befindet sich in keiner einfachen Situation. Bislang sind die Negativfolgen ihrer andauernden Schwächephase jedoch gering. Ebenso wirkt Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht als "Todesstoß" für die Rüstungskontrolle oder die nukleare Ordnung.

Bei der Rüstungsbegrenzung sind die Aussichten für neue Vertragswerke mit Russland allein wegen der Widerstände im US-Kongress sehr schlecht. Es scheint aber möglich, dass sich Washington und Moskau weiter an die Obergrenzen von New START halten, auch falls der Vertrag ersatzlos ausläuft. Ob das gelingt, wird maßgeblich davon abhängen, wie rasch China sein Arsenal an Interkontinentalraketen ausbaut und ob der dann amtierende US-Präsident glaubt, mit dieser Aufrüstung leben zu können, ohne die amerikanischen Nuklearstreitkräfte ebenfalls auszubauen.

Wenn die Bestandsaufnahme zur Rüstungskontrolle eines gezeigt hat, dann wie wertvoll effektive Gesprächskanäle für die nukleare Risikoreduzierung im Krisenfall sind. Zwischen den USA und Russland läuft vieles nicht gut, aber die Krisenkommunikation scheint zu funktionieren. Umso besorgniserregender ist daher das Fehlen solcher Verständigungsmöglichkeiten zwischen den USA und China. Diese zu schaffen, muss eine Hauptaufgabe künftiger Politik sein. Nukleare Rüstungskontrolle darf sich aber nicht in der Risikoreduzierung erschöpfen: Mit der Gegenseite nur regelmäßig vertraut zu sprechen, während die Arsenale wachsen, wird in Demokratien nicht lange durchzuhalten sein.

ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er forscht zu nuklearer Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungspolitik.
E-Mail Link: jonas.schneider@swp-berlin.org