In einem Essay für den "New Statesman" hat der britische Journalist Jeremy Cliffe jüngst darauf hingewiesen, dass epochale Veränderungen in der Regel ein paar Jahre brauchen, bis sie sich voll entfalten und ihre Folgen sichtbar werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat den 24. Februar 2022 zum Symbol einer "Zeitenwende" in der Geschichte des europäischen Kontinents erklärt. Der russische Angriff auf die Ukraine mit dem Ziel, das Regime in Kyjiw zu stürzen und die Ukraine als "Anti-Russland-Projekt"
Damit geht jenes "Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" zu Ende, welches die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa am 21. November 1990 mit der feierlichen Verabschiedung der Charta von Paris voller Hoffnung ausgerufen hatten.
Kein Weg zurück zum Status quo ante
Bereits vor dem 24. Februar 2022 gab es mehr als genug Anzeichen dafür, dass sich der Kreml durch die etablierten Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung, die in der Charta von Paris in Fortschreibung der Schlussakte von Helsinki von 1975 vereinbart und im Budapester Memorandum 1994 und der Nato-Russland-Grundakte 1997 bestätigt worden waren, nicht mehr gebunden fühlte – obwohl die Sowjetunion und die Russische Föderation diese Prinzipien vertraglich anerkannt hatten. Schon im Krieg gegen Georgien 2008 hatte Russland seine Bereitschaft demonstriert, seine Einflusssphäre mit harter Hand zu verteidigen. 2014 ging der Kreml einen Schritt weiter, annektierte die Krim und entfachte einen Krieg im Osten der Ukraine. Dies hatte ein erhebliches Zerwürfnis mit den EU-Staaten und den USA zur Folge, die daraufhin Sanktionen gegen Russland in Kraft setzten und in der Nato eine Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung einleiteten. Dennoch hielt die EU an der Idee des "selektiven Engagements" mit Russland fest. Gerade die Bundesregierung agierte weiterhin nach dem Prinzip "Wandel durch Handel" beziehungsweise "Annäherung durch Verflechtung". Nur ein Jahr nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim beschloss sie den Bau der Pipeline Nord Stream 2.
Sicherlich spielten in diesem Zusammenhang vor allem ökonomische Interessen eine Rolle. Der Wunsch, "Dialog zu erneuern, Vertrauen wiederaufzubauen und Sicherheit wiederherzustellen",
Im Rückblick ist erkennbar, dass sich der Kreml spätestens 2014 bereits weitgehend aus der europäischen Sicherheitsordnung verabschiedet hatte. Von russischer Seite wurde dies mit dem Hinweis begründet, der Westen habe durch die Intervention der Nato im Kosovo 1999 und den amerikanischen Einmarsch im Irak 2003 die vereinbarten Regeln zuerst gebrochen. Darüber hinaus sei die europäische Spaltung nach dem Ende des Kalten Krieges nie überwunden worden. Stattdessen sei Russland in der von einer expansiven EU und Nato dominierten europäischen Ordnung mehr und mehr an die Peripherie gedrängt und kleingehalten worden, ohne die Möglichkeit, diese Ordnung entscheidend mitzugestalten. Daher sei das europäische Sicherheitssystem nicht inklusiv, sondern ein Konstrukt des Westens, das Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgezwungen wurde, ohne dessen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
Wann genau Moskau sein Interesse an der bestehenden Ordnung verlor, welche Rolle der Westen dabei spielte und ob dieser Prozess unausweichlich war, darüber ist nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine viel gestritten worden.
In zwei Vertragsentwürfen für Abkommen mit den USA und der Nato, die im Dezember 2021 vom russischen Außenministerium veröffentlicht wurden,
Europa im Wettbewerb der Systeme
Ein neues Abkommen mit Moskau über eine europäische Sicherheitsordnung 2.0 ist deshalb nicht zu erwarten, dafür gibt es keine gemeinsame Grundlage. Sicherheit in Europa wird auf absehbare Zeit nicht kooperativ mit Russland organisiert werden können. Stattdessen geht es darum, Sicherheit vor Russland für die Europäer herzustellen. Wladimir Putin hat bewiesen, dass er militärische Mittel zur Durchsetzung seiner politischen Ziele rücksichtslos einsetzt, wann immer er denkt, damit erfolgreich sein zu können. Das muss nicht bedeuten, dass Russland den Krieg über die Grenzen der Ukraine hinaus ausweiten wird – es ist aber auch nicht ausgeschlossen. Die Zukunft wird deshalb wieder von der Eindämmung und Abschreckung russischer Aggression geprägt sein. Dementsprechend haben die Nato-Staaten bereits begonnen, ihre Fähigkeiten zur Abschreckung und Verteidigung des Bündnisgebiets substanziell und nachhaltig zu erhöhen. Sie wollen mehr für Verteidigung ausgeben und die Schlagkraft ihrer Armeen verbessern. Schweden und Finnland wollen Mitglieder der Nato werden, Dänemark hat sich zur Teilnahme an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU entschieden. Die europäische "Friedensdividende" ist aufgebraucht. Anders als erhofft, wird die Bedeutung des Militärischen für die zukünftige Organisation von Sicherheit in Europa nicht ab-, sondern zunehmen.
Das gilt besonders für die nukleare Abschreckung, die viele Beobachter nach dem Ende des Kalten Krieges als überholt angesehen hatten. Im Krieg gegen die Ukraine droht der Kreml mit Nuklearwaffen, um seine expansiven politischen Ziele durchzusetzen. Die Politikwissenschaftler Liviu Horovitz und Lydia Wachs schreiben, es scheine Putins Absicht zu sein, "den konventionellen Angriffskrieg nuklear abzuschirmen".
Um die sich abzeichnende neue Sicherheitsordnung in Europa zu beschreiben, ist vielfach von einem "neuen Kalten Krieg" gesprochen worden.
Jedoch trägt der Vergleich mit dem "Kalten Krieg" nur sehr begrenzt, denn die Situation heute ist völlig anders. Während die Welt im Zeitalter der Bipolarität von zwei Großmächten in Atem gehalten wurde, die die internationalen Beziehungen fast vollständig dominierten, ist die heutige Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen eingebettet in einen alles überwölbenden globalen Konflikt zwischen den USA und China. Unabhängig davon, wer die US-Präsidentschaftswahl 2024 gewinnt, wird die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China bleiben und sich voraussichtlich noch weiter verschärfen. Für beide Seiten ist diese Rivalität das Prisma, durch das sie auf ihre Beziehungen zum Rest der Welt schauen. Der Krieg in der Ukraine hat die amerikanische Aufmerksamkeit nun vorläufig zurück nach Europa gebracht, aber die Priorität liegt weiter im indopazifischen Raum. In Zeiten knapper Ressourcen ist jede finanzielle Investition in Europa eine Investition, die nicht in Asien getätigt wird.
Die Bereitschaft der USA, in die europäische Sicherheit zu investieren, wird daher perspektivisch begrenzter sein als in der Vergangenheit. Die Europäer werden in Zukunft eine viel größere Rolle bei der konventionellen Abschreckung Russlands spielen und sich auch um eventuelle sicherheitspolitische Krisen in ihrer Nachbarschaft, etwa auf dem westlichen Balkan, selbst kümmern müssen. Angesichts der massiven Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Regionen wie Nord- oder Westafrika oder den Nahen Osten durch drohende Hungersnöte sowie der immer weiter eskalierenden Klimakrise ist absehbar, dass die Krisen und Konflikte in diesen Regionen eher zu- als abnehmen werden. Ob und wie schnell die Europäer in der Lage sein werden, ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen, ob und wie sehr die USA sicherheitspolitisch in Europa engagiert bleiben und ob sie zumindest ihre Nukleargarantie weiter glaubhaft aufrechterhalten – die Antworten auf all diese Fragen werden die zukünftige Sicherheitsordnung in Europa entscheidend bestimmen.
Die "Zeitenwende" ist mehr als nur der Bruch zwischen Russland und dem Westen. Sie besteht in einem grundsätzlichen Wandel des internationalen Systems, weg von der regelbasierten internationalen Ordnung und hin zu einem Wettbewerb der Systeme. Dabei geht es, wie der China-Experte Mikko Huotari 2021 schrieb, nicht in erster Linie "um einfache Dichotomien wie Kapitalismus/Demokratie oder Kommunismus/Diktatur (…), sondern um den Umgang mit einem Einparteienstaat, der sich erfolgreich in den globalen Kapitalismus integriert und ihn umstrukturiert, internationale Regeln gestaltet und die Diktatur unter digitalen Bedingungen neu erfindet".
Sowohl China als auch Russland haben sich in den vergangenen Jahren vermehrt nicht-militärischer Mittel der Einflussnahme bedient, um den Westen zu spalten und das europäische Projekt zu torpedieren. In beiden Fällen hat sich die Idee, dass eine enge wirtschaftliche Verflechtung zu einer Annäherung und einer demokratischen Öffnung gen Westen führen würde, als Trugschluss entpuppt. Stattdessen nutzen sowohl Russland als auch China diese gezielt als Waffe aus. Wie gefährlich es ist, sich in einem strategisch wichtigen Bereich von einem Akteur abhängig zu machen, der die Ausnutzung dieser Abhängigkeit als Mittel für hybride Kriegsführung instrumentalisiert, bekommt Deutschland gerade in Form einer massiven Energiekrise zu spüren. Die Schlachtfelder des 21. Jahrhunderts sind auch die Infrastruktur und die Institutionen der Globalisierung.
Europäische Handlungsfähigkeit und Resilienz
Der Politikwissenschaftler Frank Sauer hat einmal bemerkt, dass die Zukunft die schlechte Angewohnheit habe, "sich oftmals ganz anders zu entwickeln, als es das Verlängern von Trendlinien zuvor erwarten ließ".
In ihrer Grundsatzrede zur neuen nationalen Sicherheitsstrategie sagte Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht im September 2022, Deutschlands Führungsrolle bestehe darin, der europäischen Friedensordnung "die Kraft zu geben, die Freiheit und Demokratie, Wohlstand und Stabilität" garantiere.
Die Europäer haben ein großes Interesse daran, den Konflikt mit Russland nicht eskalieren zu lassen – gleichzeitig sind sie bereit, ihn bis auf Weiteres auszuhalten. Bislang hat Russlands Angriffskrieg dazu geführt, dass die Mitgliedstaaten der Nato und der EU so geeint wie lange nicht mehr zusammenstehen. Diese Einheit hat sich als sehr wirkungsvoll erwiesen. Die Führung im Kreml hat immer wieder demonstriert, dass sie alles daransetzt, einen Keil zwischen die Mitgliedstaaten der Nato zu treiben. Dies zu verhindern, ist wesentlicher Bestandteil europäischer Daseinsfürsorge.