Der Konstitutionalismus der Nachkriegszeit ist in der Krise. In den 1990er Jahren schien die liberale Demokratie als Regierungsform für einen kurzen Moment alternativlos zu sein. Dies gilt heute nicht mehr – jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt. Globale Indizes stellen seit mehreren Jahren eine Abnahme von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fest. Länder wie die USA, die einst als Vorbild des demokratischen Konstitutionalismus galten oder wie Südafrika als neue Hoffnungsträger für eine demokratischere und gerechtere Gesellschaft gefeiert wurden, sind dies heute vielfach nicht mehr. Machtverfall, Wohlstandsverluste und politische Dysfunktionalitäten sind häufig zugleich Symptome und Ursachen der Krise.
Aber geht es dabei tatsächlich auch um eine Krise des Konstitutionalismus oder vielleicht „nur“ um eine des Liberalismus oder womöglich der Verfassungsgerichtsbarkeit?
Ein solches Verständnis erscheint uns als zu eng. Rechtsvergleichende Studien zeigen seit geraumer Zeit, dass zentrale Institutionen und Prinzipien des Konstitutionalismus heute selten durch militärischen Putsch oder Ermächtigungsgesetz beseitigt werden, sondern vielmehr über längere Zeiträume hinweg durch rechtsförmige Instrumente geschwächt und ausgehöhlt werden.
Aber nicht nur unmittelbare Angriffe auf entsprechende Institutionen schwächen den Konstitutionalismus. Auch Vertrauensverluste in das politische System können ähnliche Effekte erzeugen, sei es in Kombination mit entsprechenden Angriffen auf die jeweiligen Institutionen und Prinzipien, sei es als Ursache für diese. Dabei bestehen erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Staaten; einige gemeinsame Linien lassen sich aber ausmachen. Dazu gehört etwa die Schwächung etablierter Parteien und die damit teils verbundene Schwächung der Regierungs- beziehungsweise Leistungsfähigkeit staatlicher Akteure, die zu einem Attraktivitätsverlust des Modells des demokratischen Verfassungsstaats führt. Vor allem in diesen Attraktivitätsverlusten, die sich zugleich als Legitimitätsverluste des Konstitutionalismus zeigen, sehen wir die zentrale Gefahr für den Konstitutionalismus der Nachkriegszeit.
Wir wollen dies im Folgenden an vier Länderbeispielen aus unterschiedlichen Weltregionen verdeutlichen – den USA, Brasilien, Indien und Südafrika –, die wir mit Blick auf ihre Größe und politische und symbolische Bedeutung ausgewählt haben. Anschließend fragen wir, welche Konsequenzen sich aus alledem für den Konstitutionalismus auch in Europa und Deutschland ergeben.
Krisensymptome in den Vereinigten Staaten
Die Vereinigten Staaten von Amerika waren lange Zeit die wichtigste und mächtigste Demokratie der Welt. Ihre Bilanz der Demokratieförderung im Ausland war zwar stets gemischt, zudem dauert die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen kolonialen und imperialen Geschichte noch an. Trotzdem waren die USA militärisch, wirtschaftlich und symbolisch lange das globale Gegengewicht zu autoritären Mächten: historisch zur Sowjetunion, heute vor allem zu China. Die globalen Auswirkungen einer Erosion der amerikanischen Demokratie sind deshalb, sowohl symbolisch als auch de facto, größer als bei jeder anderen Demokratie.
Nach den üblichen Indikatoren für Demokratie und Freiheit rangieren die USA derzeit auf ungefähr gleichem Niveau wie Argentinien, Griechenland, die Mongolei, Polen oder Rumänien: allesamt freie Systeme, aber viele davon deutlich fragiler, als wir es gewohnt sind, die USA zu betrachten.
Diese Entwicklung wird personifiziert durch den Erfolg Donald Trumps und symbolisiert durch den 6. Januar 2021, den Tag des bewaffneten Angriffs auf den amerikanischen Kongress mit dem Ziel, den verfassungsmäßigen Regierungswechsel nach den Präsidentschaftswahlen zu verhindern. Aber beides sind Symptome, keine Ursachen: Sie manifestieren lediglich nach außen den zunehmenden Verfall des demokratischen Konstitutionalismus in den USA, der seinerseits auf frühere strukturelle Veränderungen zurückzuführen ist.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung des amerikanischen Parteiensystems, die ihrerseits verschiedene Ursachen hat. „Gerrymandering“, der Zuschnitt von Wahlbezirken nach parteipolitischen Erwägungen, hat etwa viele Bezirke – einschließlich der meisten Sitze im Repräsentantenhaus – zu sicheren Sitzen für die eine oder andere Partei gemacht. Die entscheidende Wahl ist deshalb zunehmend die Vorwahl (Primary), bei der die Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien gekürt werden. In Vorwahlen setzen sich jedoch typischerweise extremere Kandidaten durch, weil weniger Menschen an ihnen teilnehmen und diejenigen, die es tun, tendenziell politisch aktiver sind und radikalere politische Ansichten vertreten. Gemäßigte Wähler können deshalb am Wahltag in vielen Fällen nur zwischen Kandidatinnen und Kandidaten wählen, die weniger gemäßigt sind als sie selbst.
Diese Veränderungen begannen lange vor Donald Trump, sind aber wichtig, um den Erfolg eines Kandidaten zu erklären, der 2016 keinesfalls der Wunschkandidat seiner Partei war. Sein Aufstieg lässt sich auch schwer erklären ohne die Deregulierung von Radio und Fernsehen in den 1980er und 1990er Jahren, wodurch rechtliche Verpflichtungen der Sender auf Fairness und Unparteilichkeit abgeschafft wurden, die seit 1934 bestanden. Die ursprünglichen Trump-Fans, allen voran der Fernsehsender Fox News, sind die Konsequenzen dieser deregulierten Medienlandschaft.
Das Ergebnis ist ein System, in dem es immer schwieriger geworden ist, zu regieren.
Hinzu kommt, dass auch politische Mehrheiten nicht zwingend zu Wahlerfolgen führen. Instrumente wie Gerrymandering oder sogenannte Voter-ID-Laws, die dazu dienen, die Wahlbeteiligung bestimmter Gruppen – etwa jüngst zugewanderter Personen – zu reduzieren, sind dafür mitverantwortlich. Der Hauptgrund liegt aber tief in der verfassungsrechtlichen Struktur der USA als Bundesstaat verwurzelt und in der Tatsache, dass der US-Senat Territorium statt Menschen repräsentiert: Alle Bundesstaaten sind hier mit zwei Senatorinnen oder Senatoren vertreten, unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl. Auch der Präsident oder die Präsidentin wird nicht von einer Mehrheit des Volkes gewählt, sondern von einem Wahlkollegium. In diesem spielt zwar die Bevölkerungszahl eine wichtigere Rolle als im Senat, aber auch hier liegt ein Ungleichgewicht zugunsten dünn besiedelter Staaten vor. Die zunehmende Urbanisierung hat diese ungleiche Gewichtung verschärft, von der vor allem die Republikaner profitieren, die in ländlichen Gegenden mehr Unterstützung finden, während Demokraten in Städten ihre Hochburgen haben. Die Republikaner haben deshalb zwar fast nie eine Stimmenmehrheit, gewinnen aber trotzdem etwa die Hälfte der Sitze im Senat oder im Wahlkollegium. Der Senat und der Präsident wiederum ernennen die Bundesrichter, einschließlich jener des Obersten Gerichtshofs.
Darunter leidet nicht nur das Vertrauen in die jeweilige Regierung, sondern auch die traditionelle Erzählung von den USA als Zitadelle der Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Dabei nehmen beide Seiten die Verteidigung dieser Tradition für sich in Anspruch. Progressiven erschien der Traum einer echten pluralistischen US-Demokratie, die nicht mehr von weißen Männern dominiert wird, verlockend nah – und dieser Traum scheint nun blockiert und verraten. Rechte fürchten dagegen den Verlust der politischen Identität der USA als weißes christliches Land – und versuchen, diese gegen die Bedrohungen von links und aus dem Ausland zu schützen beziehungsweise sie wiederherzustellen.
In der bisherigen Betrachtung fehlt eine zentrale Institution der amerikanischen Demokratie: der Supreme Court. Seine Abwesenheit ist nicht zufällig, da der Oberste Gerichtshof vielfach seine eigene Rolle, etwa in der Kontrolle politischer Prozesse, beschränkt hat. Er hat es zum Beispiel abgelehnt, gegen offensichtlich parteiisches Gerrymandering oder Voter-ID-Gesetze einzuschreiten. Zumindest ein Teil dieser Zurückhaltung dürfte nicht nur als zynische Parteipolitik zu verstehen sein, sondern auch als Reaktion auf die scharfe Kritik an seiner Intervention in Präsidentschaftswahlen im Fall Bush v. Gore und als Ausdruck einer konservativen Präferenz für richterliche Zurückhaltung.
Fragile Demokratie Brasilien
Brasilien ist der größte und bevölkerungsreichste Staat Lateinamerikas und steht – anders als die USA – in einer langen Tradition autokratischer Herrschaft und militärischer Coups. Die brasilianische Verfassung von 1988 beendete diese Ära und vollzog den Systemwechsel hin zu einem demokratischen Verfassungsstaat. Gleichwohl blieb die brasilianische Demokratie politisch instabil: Von sechs demokratisch gewählten Präsidenten wurden drei aus dem Amt entfernt, durch Amtsanklage (Impeachment) oder aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen.
Eine wesentliche Ursache für diese Instabilität ist auch in Brasilien die Schwäche vieler Parteien. Dies gilt vor allem für die Parteien des sogenannten Centrão, eines losen Zusammenschlusses zentristischer Parteien, die selbst oft politische Richtungsänderungen durchlaufen und deren Abgeordnete immer wieder zwischen einzelnen Parteien des Blocks wechseln.
Diese Schwäche des politischen Systems hat umgekehrt zu einer Stärkung der Justiz geführt, die viele in Brasilien nicht nur positiv sehen. Insbesondere im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Korruptionsskandals unter den Regierungen von Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff wurde die zunehmende Medienprominenz einzelner Richter auch als Justizpopulismus kritisiert.
Unter der Präsidentschaft des Rechtsautoritären Bolsonaro, der im Laufe seiner Karriere mit acht unterschiedlichen Parteien assoziiert war, gewann darüber hinaus auch das Militär durch die Ernennung entsprechender Personen zu Regierungsmitgliedern wieder stärkeren Einfluss in der brasilianischen Politik. Der den US-Ereignissen nachempfundene Angriff auf die brasilianischen politischen Institutionen nach der Wahlniederlage Bolsonaros 2022 blieb freilich erfolglos und führte nicht zu einem Militärputsch. Auch gelang es Bolsonaro während seiner Regierungszeit nur bedingt, politische Institutionen in Brasilien für sich zu vereinnahmen und legislative Reformen durchzusetzen, für die er teils nicht die notwendigen Mehrheiten gewinnen konnte beziehungsweise bei denen er vom brasilianischen Supreme Court gestoppt wurde.
Brasilien ist deshalb nicht so sehr ein Fall der Erosion demokratischer Verfassungsstaatlichkeit, als vielmehr eine fragile Demokratie.
Hybrides Regime Indien
Indien galt lange Zeit als größter demokratischer Verfassungsstaat der Welt. Die Institutionalisierung der indischen Demokratie gehört zweifellos zu den großen Erfolgsgeschichten des demokratischen Konstitutionalismus im 20. Jahrhundert, die auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit verdient.
Unter der seit 2014 regierenden rechtsautoritären Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premierminister Narendra Modi ist aber auch der indische Konstitutionalismus unter Druck geraten. Zwar gilt auch hier, dass zentrale Institutionen und Mechanismen wie Gerichte und Wahlen nach wie vor existieren. Trotzdem ist die praktische Funktions- und Kontrollfähigkeit verfassungsrechtlicher Sicherungen vielfach unterminiert worden. Indien wird deshalb heute in den einschlägigen Demokratieindizes als „hybrides Regime“ eingestuft, das zwischen vollständiger Demokratie und vollständiger Autokratie liegt.
Diese Entwicklung spiegelt sich sowohl in formellen rechtlichen Änderungen wider als auch in der Erosion demokratiefördernder Normen wie Toleranz und der Akzeptanz politischer Opposition als grundsätzlich legitim
Umfassendere Strategien zur Kontrolle der Medienlandschaft ergänzen diese Maßnahmen gegen Einzelpersonen und einzelne Bevölkerungsgruppen. Dazu gehören etwa eine Praxis der selektiven Lizenzvergabe für Fernsehanbieter, bei der kritischen Betreibern der Zuschlag vielfach versagt bleibt, und ein Trend zur zunehmenden Konzentration der Medienlandschaft in den Händen einer Gruppe einflussreicher Einzelpersonen, oft in politischer Nähe zur BJP.
Auch parlamentarische Kontrollmöglichkeiten wurden seit dem Regierungsantritt Modis abgebaut. Dies zeigt sich etwa am Bedeutungsverlust parlamentarischer Ausschüsse, die heute nur noch einen stark reduzierten Teil der eingebrachten Gesetzentwürfe vorab prüfen.
Selbst die Kontrollfähigkeit der indischen Justiz, einschließlich des einst so mächtigen Supreme Courts, wurde in den vergangenen Jahren zunehmend beschränkt, mit dem Ergebnis, dass rechtlich zweifelhafte Reformvorhaben der Modi-Regierung ohne justizielle Intervention passieren konnten. Zwar übt die Regierung nach wie vor keine unmittelbare Kontrolle über die Auswahl neuer Richterinnen und Richter aus, die in der Hand der Richterschaft liegt, sie beeinflusst die Justiz aber durch eine Blockadepolitik bei Ernennungen und durch Anreize für Richter in Form von in Aussicht gestellten Positionen nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt.
Die Erosion des demokratischen Konstitutionalismus in Indien erfolgt insofern durch eine inkrementelle Strategie der kleinen Schritte.
Transformativer Verfassungsstaat Südafrika
Das Ende des Apartheidregimes in Südafrika durch den Übergang zur Demokratie im Jahr 1994 wurde weltweit gefeiert. Südafrikas neue Verfassung von 1996 entwarf einen Bauplan für eine neue, gerechtere Gesellschaft und erhielt folgerichtig das Etikett einer „transformativen Verfassung“.
Dreißig Jahre später stellt das Auseinanderklaffen von Verfassungszielen und Verfassungswirklichkeit eine ernsthafte Bedrohung für diese Verfassungsordnung dar. Vieles hat sich in der Zwischenzeit verändert, nicht jedoch, dass Südafrika eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt geblieben ist. Während die Wohlhabenden zunehmend unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen angehören, bleibt die arme, arbeitslose, landlose, frustrierte Unterschicht überwiegend schwarz. Dies stellt eine Hypothek für eine Verfassung dar, deren Legitimität mit der Transformation verknüpft war – besonders dann, wenn der Eindruck entsteht, dass gerade jene Verfassung weitergehenden gesellschaftlichen Wandel bremst.
Wenn gesellschaftlicher Wandel der entscheidende Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg der südafrikanischen Verfassung ist, dann steht der African National Congress (ANC) als zentraler Akteur des Post-Apartheid-Konstitutionalismus für diesen unterbliebenen Wandel. Zwar hat die Partei seit dreißig Jahren (echte) Mehrheiten bei nationalen Wahlen gewonnen und mit seiner Macht die Verfassungsordnung nach 1994 gestützt.
Zum ersten Mal seit 1994 steht die Wahlmehrheit des ANC ernsthaft infrage. Die Partei hat sich von einer politisch dominanten Befreiungsbewegung zu einem Bündnis gewandelt, das vor allem versucht, an der Macht zu bleiben und an seinen Patronagenetzwerken festzuhalten. Bedenken hinsichtlich eines zu starken politischen Einflusses auf den staatlichen Rundfunk bestehen schon länger. Trotzdem gelten in Südafrika Meinungs- und Pressefreiheit, Wahlen waren bislang frei und fair, und die Autorität der Gerichte wurde respektiert. Letzteres hat sich in den vergangenen Jahren jedoch deutlich verschlechtert, insbesondere, als der Konflikt zwischen dem ANC und den Gerichten in der Ära Zuma seinen Höhepunkt erreichte. Angriffe auf Richter und die Verfassung, die einst selten waren, sind nun häufiger anzutreffen.
Wie Südafrika die Herausforderungen der Transformation bewältigen wird, bleibt abzuwarten. Klar ist aber, dass die politische Unterstützung dieser Verfassungsordnung erneuerungsbedürftig ist.
Und Europa?
Nicht nur im Rest der Welt, auch in Europa werden Verfallserscheinungen des demokratischen Konstitutionalismus sichtbar. Ungarn stellt dabei wohl das Musterbeispiel einer verfassungsstaatlichen Erosion entlang dreier typischer Achsen dar: der Manipulation des Wahlsystems, einer Vereinnahmung beziehungsweise Entmachtung unabhängiger Institutionen und der Verdrängung kritischer Stimmen aus der Medienlandschaft und zunehmend auch der Zivilgesellschaft insgesamt. Doch nicht alle Verschiebungen der Politik nach „rechts“ sind zwingend mit einer umfassenderen rechtsautoritären Agenda verknüpft. Dies dürfte etwa für die Tory-Regierung Großbritanniens gelten, die zwar über die Frage der Verbringung von Migranten nach Ruanda und den daraus resultierenden Konflikt mit dem Supreme Court mit dem Feuer der Verfassungskrise spielt,
In Deutschland wiederum ist der demokratische Verfassungsstaat bisher fest verwurzelt. Dies muss in Zukunft aber nicht zwingend so bleiben. Die größten strukturellen Herausforderungen für den Konstitutionalismus in weiten Teilen Europas und auch in Deutschland sind die Schwächen der traditionellen Parteiensysteme und die zunehmende Öffnung der Demokratie auf Akteure jenseits der professionellen Medien und Parteiapparate.
Für den Umgang mit diesen komplexen Herausforderungen legen unsere Fallbeispiele zwei Lehren nahe. Sie zeigen erstens, warum es ein Fehler ist, sich nur auf die Aufrechterhaltung der verfassungsrechtlichen Kernprinzipien zu konzentrieren. Die grundsätzliche Fähigkeit des politischen Systems, die Erwartungen seiner Bürger zu erfüllen und ihr Vertrauen zu gewinnen, ist von zentraler Bedeutung. Kurz gesagt: Verfassungsrechtlicher Erfolg hat viel mit Erfolg in anderen Bereichen zu tun. Es geht nicht nur darum, den Verfassungsstaat vor seinen Feinden zu schützen. Auch für den Erfolg des Grundgesetzes und der Demokratie in Deutschland waren das „Wirtschaftswunder“ und die Funktionsfähigkeit des politischen Systems essenziell.
Zweitens sollte aber dieses Argument nicht davon ablenken, dass Recht auch hier eine wichtige Rolle spielt. Die Erosion der Demokratie ist heute wie in der Vergangenheit nicht einfach die Konsequenz einer aufgrund externer Krisen wütenden und gespaltenen Gesellschaft. Rechtliche Regelungen selbst können spalten, wie das Beispiel des US-Wahlrechts zeigt. Und Recht reagiert nicht immer hinreichend auf jene, die gesellschaftliche Spaltung vorantreiben, wie etwa die Entwicklung manipulativer Medien belegt. Ob und wie der demokratische Konstitutionalismus überlebt und gedeiht, ist deshalb auch eine Frage des Rechts und rechtlicher Reformen.