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Grundrecht unter Druck | In guter Verfassung? | bpb.de

In guter Verfassung? Editorial Alt aber nicht veraltet. Das Grundgesetz im 75. Jahr Verfassungskultur statt Leitkultur. Genutzte und ungenutzte Potenziale des Grundgesetzes Verpasste Chancen? Die gescheiterte DDR-Verfassung von 1989/90 Wehrhafte Demokratie. Vom Wesen und Wert eines schillernden Konzepts Grundrecht unter Druck. Das Recht auf Asyl in den Mühlen der Migrationspolitik Krise des globalen Konstitutionalismus

Grundrecht unter Druck Das Recht auf Asyl in den Mühlen der Migrationspolitik

Marei Pelzer Maximilian Pichl

/ 14 Minuten zu lesen

Das vor 75 Jahren verabschiedete Grundgesetz hat das Recht auf Asyl als individuell einklagbares Grundrecht institutionalisiert. Heute sieht es sich (europa-)rechtlichen und politischen Zumutungen ausgesetzt, die seine Zukunft unklar erscheinen lassen.

Die globalen Flüchtlingszahlen sind in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Kriege und Konflikte wie in Syrien, Afghanistan oder der Ukraine haben menschliches Leid ins Unermessliche steigen lassen und die Zahl derjenigen, die entweder in ein anderes Land flohen oder innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben wurden, laut den Vereinten Nationen auf nun 110 Millionen anschwellen lassen. In die Europäische Union flohen 2023 über eine Million Asylsuchende, von denen knapp 350.000 Menschen in Deutschland einen Asylantrag stellten. Prognosen zu den Folgen der Klimakrise lassen es wenig realistisch erscheinen, dass Flucht und Migration in Zukunft zurückgehen werden.

Angesichts der Wahlerfolge von rechtspopulistischen und extrem rechten Parteien sehen sich die etablierten Parteien mehr und mehr unter Druck, immer restriktiveren Vorschlägen zur Abwehr von Fluchtmigration Gehör zu schenken – oft werden sie sogar selbst zum Treiber der Entrechtung von Schutzsuchenden. Sowohl auf EU-Ebene als auch in der deutschen Flüchtlingspolitik scheint die Reduzierung der Flüchtlingszahlen derzeit das vorrangige Ziel zu sein. So kam es Ende 2023 in der EU zu einer Einigung auf grundlegende Reformen des europäischen Asylrechts. Mit ihnen sollen verpflichtende Grenzverfahren eingeführt, Asylsuchende pauschal auf Drittstaaten verwiesen sowie Sozialleistungen zusammengestrichen werden. Noch stärker als bisher sollen diese Instrumente zukünftig die Kernelemente der europäischen Flüchtlingspolitik ausmachen. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese neuen Entwicklungen noch mit den Vorgaben nicht nur des Grundgesetzes, sondern auch des Unions- und Völkerrechts vereinbar sind.

Lehren aus der Nazizeit

Als vor 75 Jahren das Asylrecht ins Grundgesetz aufgenommen wurde, war dies nicht zuletzt eine Antwort auf das dramatische Versagen der Weltgemeinschaft beim Schutz der Menschen, die vor Nazi-Deutschland fliehen mussten. Das Grundrecht auf Asyl wurde als subjektives Recht ausgestaltet und nicht mehr nur als politischer Gnadenakt eines Staates, der nach freiem Ermessen Schutz gewährt. Wie bedeutsam es ist, gerade als Flüchtling einklagbare Rechte gegenüber dem Staat zu haben, arbeitete die Philosophin Hannah Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus heraus: „Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben (…), wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.“ Doch nicht nur im nationalen Rahmen wurden die Menschenrechte von Flüchtlingen in der Nachkriegszeit etabliert: Mit der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) wurde auf internationaler Ebene erstmals für die Vertragsstaaten verbindlich geregelt, dass Flüchtlinge nicht in ihre Verfolgerstaaten zurückgewiesen werden dürfen. Dieses sogenannte Refoulement-Verbot, das Artikel 33 Absatz 1 GFK vorsieht, beinhaltet das Recht auf Schutz vor Zurückweisung an der Grenze, wenn diese zur Kettenabschiebung in den Verfolgerstaat führen würde. Vergleichbare Garantien finden sich auch in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die europäische Grundrechte-Charta gewährleistet in Artikel 18 das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention und verbietet nach Artikel 19 Kollektivausweisungen. Verglichen mit der Situation von vor mehr als 75 Jahren ist heutzutage ein Zustand erreicht, in dem Flüchtlinge nicht mehr rechtlos gestellt sind, sondern sich auf subjektive Rechte in dafür vorgesehenen Verfahren berufen können.

Relevanz des Grundgesetzes nach 1993

Trotz der beschriebenen Errungenschaften der Nachkriegszeit gab es immer wieder Versuche, Flüchtlingen den Zugang zu Schutz so weit zu erschweren, dass er faktisch ausgehebelt ist. Mit der Grundgesetzänderung von 1993 etwa ist eine solche „Entkernung des Grundrechts“ bereits weitgehend geschehen, wie Kritiker*innen monieren. Seinerzeit wurde das Asylgrundrecht in Artikel 16a Absatz 2 GG so geändert, dass sich darauf nicht mehr berufen konnte, wer über einen sogenannten sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist war. Aufgrund dieser Regelung können sich seither nur noch Asylsuchende, die mit dem Flugzeug oder per Schiff nach Deutschland kommen, wirksam auf das Asylgrundrecht berufen. Denn der Landweg führt zwangsläufig über einen „sicheren Drittstaat“, da alle Nachbarländer Deutschlands als „sicher“ gelten. In der Folgezeit hat der Asylstatus nach Artikel 16a GG immer mehr an Bedeutung eingebüßt. Statt des klassischen Asylstatus wurde Asylsuchenden vermehrt der Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention erteilt, welcher damals auch als „kleines Asyl“ bezeichnet wurde. Inzwischen ist der GFK-Flüchtlingsstatus auf EU-Ebene umfassend geregelt und damit zur zentralen Schutzkategorie geworden. Hierfür gelten EU-weit dieselben Standards bei der Schutzerteilung, über deren Auslegung der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet.

Wenngleich die Europäisierung des Asylrechts dazu geführt hat, dass das nationalstaatliche Asylgrundrecht an Bedeutung verloren hat, ist es in seiner materiellen Ausgestaltung als Bezugspunkt für die Flüchtlingspolitik durchaus bedeutsam. So kann das Bundesverfassungsgericht in Einzelfällen, wenn etwa Abschiebungen aus dem Flughafenverfahren heraus drohen, nach wie vor wichtige Impulse setzen. Auch im Falle von Sammelabschiebungen nach Afghanistan ist das Gericht in der Vergangenheit wiederholt eingeschritten. Im EU-weiten Vergleich hat zudem die Karlsruher Rechtsprechung zur sozialrechtlichen Gleichstellung von Asylsuchenden mit der übrigen Bevölkerung Maßstäbe gesetzt: Im Jahr 2012 hat das Bundesverfassungsgericht das aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch für Asylsuchende proklamiert. Dass diese damals nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) um bis zu 60 Prozent geringere Leistungen als Hartz-IV-Empfänger*innen bekamen, wurde für verfassungswidrig erklärt. Die Karlsruher Richter*innen haben diese Rechtsprechung zuletzt 2022 in Bezug auf Sozialleistungen in Sammelunterkünften bestätigt. Hinsichtlich der Teilhabe von Flüchtlingen an sozialstaatlichen Gewährleistungen ist das Grundgesetz also nach wie vor höchst relevant.

Obergrenze beim Asyl?

Auch wenn das Asylgrundrecht des Grundgesetzes wegen der Drittstaatenregelung numerisch keine größere Bedeutung für den Schutz und die Aufnahme von Asylsuchenden mehr hat, stellt es nach wie vor ein individuelles Schutzsystem dar, das jedem Einzelnen die Möglichkeit gewährt, in einem rechtlichen Verfahren Verfolgungsgründe darzulegen. Demgegenüber gibt es in der politischen Debatte seit Jahren Forderungen, eine „Obergrenze“ bei der Gewährung von Asyl einzuführen – mit der Konsequenz, Anträge pauschal abzulehnen, die nach dem Erreichen einer festgelegten Grenze gestellt werden. Der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) brachte beispielsweise eine Asylobergrenze von 200.000 Anträgen pro Jahr ins Spiel.

Tatsächlich war das individuelle Grundrecht auf Asyl Gegenstand intensiver Beratungen im Parlamentarischen Rat, als dieser Ende der 1940er Jahre eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Die Ratsmitglieder standen vor der Frage, ob sie das Asylrecht als individuelles Menschenrecht oder als bloßes Staatsgewährleistungsrecht konzipieren sollten. Letzteres wäre nicht individuell einklagbar gewesen. Einige Vertreter*innen im Parlamentarischen Rat stellten seinerzeit die Frage, ob das Asylrecht nicht beschränkt werden könne. Hermann von Mangoldt (CDU), Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen und Grundrechte, sagte hierzu: „Wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgendetwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müsste an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift wertlos.“ Im Ergebnis entschied sich der Parlamentarische Rat für ein unbeschränktes Recht auf Asyl, das in individuellen Verfahren in Anspruch genommen werden kann. Es wurde letztendlich „wie selbstverständlich zu den Menschenrechten gerechnet“ und in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 Absatz 1 GG gesetzt. Seine Wirkkraft entfaltete das Asylgrundrecht aber erst sehr viel später. In den ersten Jahren der Bundesrepublik gab es praktisch keine individuellen Asylverfahren. Selbst jene Menschen, die vor den politischen Repressionen infolge des Ungarn-Aufstands von 1956 flohen, erhielten in der Bundesrepublik kein politisches Asyl. Erst durch Klagen von Anwält*innen und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wurde das Asylrecht „zurück ins Leben gerufen“.

Auch im Lichte der internationalen Menschenrechte ist eine Obergrenze beim Asyl unter der geltenden Rechtslage nicht möglich. Das Refoulement-Verbot als Herzstück des internationalen Flüchtlingsrechts, das in der Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 33 GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 3 EMRK) verankert ist, verbietet die Zurückschiebung einer Person in eine Situation, wo ihr Folter, Verfolgung oder eine unmenschliche Behandlung droht. Auch der Gefahr von sogenannten Kettenabschiebungen in den Herkunftsstaat ist demnach vorzubeugen. Ob eine solche Gefahr droht, lässt sich nur in einem auf den Einzelfall eingehenden rechtsstaatlichen Verfahren überprüfen. Die Bundesrepublik Deutschland müsste bei Einführung einer Asylobergrenze konsequenterweise aus den genannten Konventionen austreten – würde damit aber zugleich den Menschenrechtsschutz fundamental infrage stellen. Die Debatten in Großbritannien, Ungarn und Österreich, wo aus den Reihen der Regierungsparteien offen mit einem Austritt aus der EMRK gedroht wird, zeigen, dass ein solches Szenario für Deutschland zwar nicht wahrscheinlich, angesichts des Auftriebs des Autoritarismus aber auch nicht völlig ausgeschlossen ist.

Die verfassungs-, europa- und menschenrechtlichen Vorgaben verbieten eine Einführung von Asylobergrenzen. Dennoch hat die Politik abseits von individuellen Asylverfahren zahlreiche rechtskonforme Gestaltungsmöglichkeiten, um den Zugang von Asylsuchenden zu regulieren. Die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge im Rahmen der sogenannten Massenzustromrichtlinie der EU zeigt etwa, dass eine humanitäre Aufnahme größerer Flüchtlingsgruppen auch außerhalb des Asylverfahrens praktikabel geregelt und umgesetzt werden kann. Solche pauschalen Aufnahmeinstrumente bergen aber zugleich die Gefahr, dass sie gegen individuelle Asylverfahren ausgespielt werden: „Der rechtsstaatliche Schutzanspruch darf nicht durch eine interessengeleitete Flüchtlingspolitik verdrängt werden“, so zutreffend der Flüchtlingsforscher Olaf Kleist.

Ausschluss von Sozialleistungen zur Migrationssteuerung?

Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde 1993 als Teil des sogenannten Asylkompromisses eingeführt und stellt ein Sonderregime in der sozialrechtlichen Existenzsicherung von Asylsuchenden und weiteren Gruppen dar. Bis das Bundesverfassungsgericht 2012 die Leistungen des AsylbLG für verfassungswidrig erklärte, hatte der Gesetzgeber 19 Jahre lang keine Anpassung des Leistungsumfangs vorgenommen. Dies stand im Einklang mit dem erklärten politischen Ziel, künftige Asylsuchende davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen. Leistungskürzungen dienten also von Anfang an der Abschreckung. Mit dem „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ von 2019 wurde zuletzt ebenfalls ein weitreichender Ausschluss von Sozialleistungen beschlossen. Personen, die bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat einen Schutzstatus erhalten haben, bekommen demnach keine Leistungen nach dem AsylbLG mehr. Ihnen wird nur noch eine Überbrückungsleistung für zwei Wochen und eine Reisebeihilfe in den zuständigen Staat gewährt, wobei in Härtefällen vorübergehend mehr bezahlt werden kann (Paragraf 1 Absatz 4 AsylbLG). Ob diese Regelung mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht bisher noch nicht entschieden. In seinem Urteil zum AsylbLG hatte das Gericht deutlich gemacht, dass die Gewährleistung dieses Grundrechts nicht von der Dauer des Aufenthalts abhängig gemacht werden kann.

In einem Gutachten des Rechtswissenschaftlers Daniel Thym, das er kürzlich im Auftrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erstellt hat, wird unter anderem der Frage nachgegangen, wie unter der geltenden verfassungsrechtlichen Lage Leistungen an Asylsuchende eingeschränkt beziehungsweise abgesenkt werden können. In diesem Zusammenhang wird eine „Grundgesetzergänzung“ vorgeschlagen, mit der sich die bisherigen verfassungsrechtlichen Vorgaben durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts korrigieren lassen. Der Vorschlag zur Ergänzung des Sozialstaatsgebots in Artikel 20 GG lautet: „Für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind bei der Bestimmung des Existenzminimums und der Anwendung des Gleichheitssatzes die Dauer des bisherigen Aufenthalts, dessen Rechtmäßigkeit und das Leistungsniveau in anderen EU-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.“ Der Vorstoß zielt also darauf ab, für Asylbewerber*innen generell, aber auch für andere Gruppen ohne deutschen Pass Leistungseinschränkungen vornehmen zu können. Die CDU hat sich diesen Vorschlag in ihrem Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm zu eigen gemacht, und zahlreiche Politiker*innen der Unionsparteien, auch aus den Reihen der Ministerpräsidenten (etwa Michael Kretschmer aus Sachsen oder Markus Söder aus Bayern), haben eine entsprechende Verfassungsänderung ins Spiel gebracht.

Eine solche Änderung im Bereich der Grundrechte und Staatsprinzipien wäre juristisch durchaus heikel, weil die sogenannte Ewigkeitsgarantie nach Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes es dem Gesetzgeber verbietet, den unantastbaren Kerngehalt der in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze zu verändern. Geht es um die Menschenwürde als höchstem Wert der Verfassung, beschränkt sich die Ewigkeitsgarantie nicht nur auf den Kerngehalt, sondern dieser Schutz bleibt nach bisheriger Rechtsprechung in vollem Umfang der Verfassungsänderung entzogen. Damit lässt sich das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht durch eine Grundgesetzänderung zurechtstutzen. Durch seine Verortung in der Menschenwürdegarantie stellt es ein absolutes, nicht verfügbares einheitliches Grundrecht dar, das immer am konkreten Bedarf der Betroffenen orientiert ist. Die vorgeschlagene „Verfassungsergänzung“ würde die Rechtsordnung im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot aufspalten. Ein solches Vorhaben ist kaum mit der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes in Einklang zu bringen – zumal hiermit die Strategie verfolgt wird, die Rechtsfolgen der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen.

EU-Grundrechte, GEAS-Reform, Außengrenzen

Im Dezember 2023 haben sich die Europäische Kommission, der Rat der Mitgliedstaaten der EU und die Mehrheit des Europäischen Parlaments auf eine umfassende Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Diese Reform wird innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre in Kraft treten. Migrationsforscher*innen und Menschenrechtsorganisationen sprechen von den weitreichendsten Asylrechtsverschärfungen der vergangenen 30 Jahre. Durch die Reform wird das individuelle Recht auf Asyl beziehungsweise Flüchtlingsschutz zwar auf dem Papier erhalten, durch repressive Instrumente wird der Zugang zu einem vollwertigen Asylverfahren und dem Recht auf Schutz jedoch massiv erschwert. Allerdings müssen die Rechtsänderungen, die noch vor der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2024 verabschiedet werden sollen, mit dem Primärrecht der EU vereinbar sein. Bei der Ausgestaltung des europäischen Grundrechtsschutzes spielt zudem die EMRK eine wichtige Rolle, da diese zur Auslegung der EU-Grundrechtecharta herangezogen wird. Ob die GEAS-Reform auf toxische Art und Weise auf die auch europäisch verbürgten Grundrechte zurückwirkt, wird letztlich wohl von Gerichten zu entscheiden sein.

Einer der am stärksten diskutierten Vorstöße des GEAS-Reformpakets sieht vor, dass Asylsuchende unter bestimmten Voraussetzungen an den europäischen Außengrenzen festgehalten und ihre Asylanträge in einem sogenannten Grenzverfahren behandelt werden sollen. Dazu werden sie zunächst einem „Screening“ unterzogen, in dessen Rahmen unter anderem ihre Identität, ihre Dokumente und ihre Gesundheit überprüft werden. Anschließend soll darüber entschieden werden, welches Verfahren die Asylsuchenden durchlaufen müssen: Für Personen aus Staaten mit einer europaweiten Anerkennungsquote von unter 20 Prozent ist das Grenzverfahren verpflichtend. Die Mitgliedstaaten können dieses Verfahren aber auch für Asylsuchende anwenden, die über vermeintlich sichere Drittstaaten geflohen sind. Das bedeutet in der Praxis, dass auch Syrer*innen oder Afghan*innen, die beispielsweise über Tunesien nach Italien oder über die Türkei nach Griechenland geflohen sind, diesem Verfahren zugeordnet werden – was im Übrigen schon heute in den Verfahren auf den griechischen Inseln so praktiziert wird. Diese Verfahren gelten als Blaupause für das neue GEAS.

In den beschleunigten Grenzverfahren soll zunächst nicht auf die eigentlichen Fluchtgründe der Antragsteller*innen eingegangen werden. Die Behörden fragen also nicht danach, ob zum Beispiel ein syrischer Oppositioneller vor dem Assad-Regime oder eine afghanische Frau vor den Taliban geflohen ist. Stattdessen wird vorrangig nur geprüft, ob die Asylsuchenden zuvor in einem für sie als „sicher“ deklarierten Drittstaat gewesen sind. Ist dies der Fall, sollen sie dorthin abgeschoben werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Asylsuchenden an den Orten des Grenzverfahrens festgesetzt werden sollen, was wohl mit einer De-facto-Inhaftierung der Betroffenen einhergehen wird. Vom Grenzverfahren sind nur unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ausgenommen; alle anderen, selbst Familien mit kleinen Kindern, können festgehalten werden. In Griechenland sind auf den Inseln bereits abgeschlossene Einrichtungen, sogenannte closed controlled centers, entstanden, zu denen Journalist*innen bislang keinen Zugang haben. Die dortigen Verhältnisse für die Betroffenen zu dokumentieren, ist damit bisher unmöglich. Aus der Migrationsforschung und der Dokumentation von Menschenrechtsorganisationen ist aber hinlänglich bekannt, dass große Flüchtlingslager und insbesondere geschlossene Einrichtungen mit haftähnlichen Bedingungen mit Praktiken der Entrechtung und Entwürdigung einhergehen. Die EU-Hotspots auf den griechischen Inseln, wie das im Jahr 2020 abgebrannte Lager Moria, sind hierfür eindrückliche Beispiele. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Lebensbedingungen im Lager Moria nachträglich als „unmenschliche Behandlung“ qualifiziert.

Mit dieser Reform hat sich die Mehrheit der EU-Staaten dafür entschieden, die Verantwortung für Flüchtlingsaufnahme und -schutz auszulagern; zentraleuropäische Staaten wie Deutschland oder Frankreich schieben die Verantwortung für die Erstaufnahme der Flüchtlinge an die Außengrenzen ab. Dort versuchen die Außengrenzstaaten, die Verantwortung an vermeintlich sichere Drittstaaten abzugeben, in denen wiederum Kettenabschiebungen in die Verfolgerstaaten drohen. Der individuelle Schutz vor Verfolgung läuft dadurch faktisch ins Leere, schwere Menschenrechtsverletzungen sind in diesen Ansatz eingepreist. Weil zugleich legale Fluchtwege in die EU fehlen, eine verbindliche Verteilung der Schutzsuchenden nicht beschlossen wurde und die Mitgliedstaaten sich auch nicht auf eine staatlich koordinierte Seenotrettung verständigt haben, wird das Sterben an den Grenzen Europas andauern.

Schon jetzt versuchen politische Akteur*innen, über die beschlossenen Verschärfungen des GEAS hinauszugehen. So plant Italien etwa, Asylverfahren für alle über das Mittelmeer ankommenden Flüchtlinge in Albanien durchzuführen. In Deutschland wird diskutiert, Asylverfahren nach dem Vorbild des britischen „Ruanda-Modells“ an Drittstaaten auszulagern, mit denen die Asylsuchenden in keinerlei Verbindung stehen. Die Ministerpräsident*innenkonferenz hat im Jahr 2023 die Bundesregierung aufgefordert, ein solches Modell zu prüfen. Dabei ist das „Ruanda-Modell“ – ganz unabhängig von der politischen Verantwortungslosigkeit, die solche Vorhaben demonstrieren – schon aus rechtlichen Gründen nicht umsetzbar: Der britische Supreme Court hat das Vorhaben am konkreten Beispiel Ruandas wegen des dortigen defizitären Asylsystems für rechtswidrig erklärt. Die vom Gericht aufgestellten Maßstäbe dürften auch für zahlreiche andere Staaten gelten, über die derzeit diskutiert wird. Und schließlich ist das „Ruanda-Modell“ auch mit dem neuen GEAS nicht vereinbar, weil das Europarecht in jedem Fall eine Verbindung zwischen dem Asylsuchenden und dem Drittstaat verlangt.

Was also bleibt vom Asylrecht im 75. Jahr des Grundgesetzes? Festzuhalten ist, dass das Recht auf Asyl heute in unterschiedlichste verfassungsrechtliche, europarechtliche und menschenrechtliche Bezüge eingebettet ist. Nationale politische Alleingänge bei Asylrechtsänderungen sind im Rahmen der EU faktisch nicht mehr möglich. Zugleich scheinen aber immer mehr EU-Mitgliedstaaten dazu bereit, den Zugang zu diesem Grundrecht zu erschweren oder zu versperren. Geschichte und Gegenwart des Asylrechts zeigen, dass Rechtsschutz für Flüchtlinge aktiv von den Betroffenen selbst, von Wissenschaftler*innen, Anwält*innen und Menschenrechtsorganisationen eingefordert und gegebenenfalls vor Gericht durchgesetzt werden muss. Der Handlungsdruck für eine menschenrechtskonforme Flüchtlingspolitik bleibt hoch.

ist Professorin für das Recht der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences.

ist Professor für Soziales Recht als Gegenstand der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden.