Die globalen Flüchtlingszahlen sind in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Kriege und Konflikte wie in Syrien, Afghanistan oder der Ukraine haben menschliches Leid ins Unermessliche steigen lassen und die Zahl derjenigen, die entweder in ein anderes Land flohen oder innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben wurden, laut den Vereinten Nationen auf nun 110 Millionen anschwellen lassen.
Angesichts der Wahlerfolge von rechtspopulistischen und extrem rechten Parteien sehen sich die etablierten Parteien mehr und mehr unter Druck, immer restriktiveren Vorschlägen zur Abwehr von Fluchtmigration Gehör zu schenken – oft werden sie sogar selbst zum Treiber der Entrechtung von Schutzsuchenden. Sowohl auf EU-Ebene als auch in der deutschen Flüchtlingspolitik scheint die Reduzierung der Flüchtlingszahlen derzeit das vorrangige Ziel zu sein. So kam es Ende 2023 in der EU zu einer Einigung auf grundlegende Reformen des europäischen Asylrechts. Mit ihnen sollen verpflichtende Grenzverfahren eingeführt, Asylsuchende pauschal auf Drittstaaten verwiesen sowie Sozialleistungen zusammengestrichen werden. Noch stärker als bisher sollen diese Instrumente zukünftig die Kernelemente der europäischen Flüchtlingspolitik ausmachen. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese neuen Entwicklungen noch mit den Vorgaben nicht nur des Grundgesetzes, sondern auch des Unions- und Völkerrechts vereinbar sind.
Lehren aus der Nazizeit
Als vor 75 Jahren das Asylrecht ins Grundgesetz aufgenommen wurde, war dies nicht zuletzt eine Antwort auf das dramatische Versagen der Weltgemeinschaft beim Schutz der Menschen, die vor Nazi-Deutschland fliehen mussten. Das Grundrecht auf Asyl wurde als subjektives Recht ausgestaltet und nicht mehr nur als politischer Gnadenakt eines Staates, der nach freiem Ermessen Schutz gewährt. Wie bedeutsam es ist, gerade als Flüchtling einklagbare Rechte gegenüber dem Staat zu haben, arbeitete die Philosophin Hannah Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus heraus: „Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben (…), wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.“
Relevanz des Grundgesetzes nach 1993
Trotz der beschriebenen Errungenschaften der Nachkriegszeit gab es immer wieder Versuche, Flüchtlingen den Zugang zu Schutz so weit zu erschweren, dass er faktisch ausgehebelt ist. Mit der Grundgesetzänderung von 1993 etwa ist eine solche „Entkernung des Grundrechts“ bereits weitgehend geschehen, wie Kritiker*innen monieren.
Wenngleich die Europäisierung des Asylrechts dazu geführt hat, dass das nationalstaatliche Asylgrundrecht an Bedeutung verloren hat, ist es in seiner materiellen Ausgestaltung als Bezugspunkt für die Flüchtlingspolitik durchaus bedeutsam. So kann das Bundesverfassungsgericht in Einzelfällen, wenn etwa Abschiebungen aus dem Flughafenverfahren heraus drohen, nach wie vor wichtige Impulse setzen. Auch im Falle von Sammelabschiebungen nach Afghanistan ist das Gericht in der Vergangenheit wiederholt eingeschritten. Im EU-weiten Vergleich hat zudem die Karlsruher Rechtsprechung zur sozialrechtlichen Gleichstellung von Asylsuchenden mit der übrigen Bevölkerung Maßstäbe gesetzt: Im Jahr 2012 hat das Bundesverfassungsgericht das aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch für Asylsuchende proklamiert.
Obergrenze beim Asyl?
Auch wenn das Asylgrundrecht des Grundgesetzes wegen der Drittstaatenregelung numerisch keine größere Bedeutung für den Schutz und die Aufnahme von Asylsuchenden mehr hat, stellt es nach wie vor ein individuelles Schutzsystem dar, das jedem Einzelnen die Möglichkeit gewährt, in einem rechtlichen Verfahren Verfolgungsgründe darzulegen. Demgegenüber gibt es in der politischen Debatte seit Jahren Forderungen, eine „Obergrenze“ bei der Gewährung von Asyl einzuführen – mit der Konsequenz, Anträge pauschal abzulehnen, die nach dem Erreichen einer festgelegten Grenze gestellt werden. Der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) brachte beispielsweise eine Asylobergrenze von 200.000 Anträgen pro Jahr ins Spiel.
Tatsächlich war das individuelle Grundrecht auf Asyl Gegenstand intensiver Beratungen im Parlamentarischen Rat, als dieser Ende der 1940er Jahre eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Die Ratsmitglieder standen vor der Frage, ob sie das Asylrecht als individuelles Menschenrecht oder als bloßes Staatsgewährleistungsrecht konzipieren sollten. Letzteres wäre nicht individuell einklagbar gewesen. Einige Vertreter*innen im Parlamentarischen Rat stellten seinerzeit die Frage, ob das Asylrecht nicht beschränkt werden könne. Hermann von Mangoldt (CDU), Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen und Grundrechte, sagte hierzu: „Wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgendetwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müsste an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift wertlos.“
Auch im Lichte der internationalen Menschenrechte ist eine Obergrenze beim Asyl unter der geltenden Rechtslage nicht möglich.
Die verfassungs-, europa- und menschenrechtlichen Vorgaben verbieten eine Einführung von Asylobergrenzen. Dennoch hat die Politik abseits von individuellen Asylverfahren zahlreiche rechtskonforme Gestaltungsmöglichkeiten, um den Zugang von Asylsuchenden zu regulieren. Die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge im Rahmen der sogenannten Massenzustromrichtlinie der EU zeigt etwa, dass eine humanitäre Aufnahme größerer Flüchtlingsgruppen auch außerhalb des Asylverfahrens praktikabel geregelt und umgesetzt werden kann. Solche pauschalen Aufnahmeinstrumente bergen aber zugleich die Gefahr, dass sie gegen individuelle Asylverfahren ausgespielt werden: „Der rechtsstaatliche Schutzanspruch darf nicht durch eine interessengeleitete Flüchtlingspolitik verdrängt werden“, so zutreffend der Flüchtlingsforscher Olaf Kleist.
Ausschluss von Sozialleistungen zur Migrationssteuerung?
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde 1993 als Teil des sogenannten Asylkompromisses eingeführt und stellt ein Sonderregime in der sozialrechtlichen Existenzsicherung von Asylsuchenden und weiteren Gruppen dar. Bis das Bundesverfassungsgericht 2012 die Leistungen des AsylbLG für verfassungswidrig erklärte, hatte der Gesetzgeber 19 Jahre lang keine Anpassung des Leistungsumfangs vorgenommen. Dies stand im Einklang mit dem erklärten politischen Ziel, künftige Asylsuchende davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen.
In einem Gutachten des Rechtswissenschaftlers Daniel Thym, das er kürzlich im Auftrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erstellt hat, wird unter anderem der Frage nachgegangen, wie unter der geltenden verfassungsrechtlichen Lage Leistungen an Asylsuchende eingeschränkt beziehungsweise abgesenkt werden können.
Eine solche Änderung im Bereich der Grundrechte und Staatsprinzipien wäre juristisch durchaus heikel, weil die sogenannte Ewigkeitsgarantie nach Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes es dem Gesetzgeber verbietet, den unantastbaren Kerngehalt der in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze zu verändern.
EU-Grundrechte, GEAS-Reform, Außengrenzen
Im Dezember 2023 haben sich die Europäische Kommission, der Rat der Mitgliedstaaten der EU und die Mehrheit des Europäischen Parlaments auf eine umfassende Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt.
Einer der am stärksten diskutierten Vorstöße des GEAS-Reformpakets sieht vor, dass Asylsuchende unter bestimmten Voraussetzungen an den europäischen Außengrenzen festgehalten und ihre Asylanträge in einem sogenannten Grenzverfahren behandelt werden sollen. Dazu werden sie zunächst einem „Screening“ unterzogen, in dessen Rahmen unter anderem ihre Identität, ihre Dokumente und ihre Gesundheit überprüft werden. Anschließend soll darüber entschieden werden, welches Verfahren die Asylsuchenden durchlaufen müssen: Für Personen aus Staaten mit einer europaweiten Anerkennungsquote von unter 20 Prozent ist das Grenzverfahren verpflichtend. Die Mitgliedstaaten können dieses Verfahren aber auch für Asylsuchende anwenden, die über vermeintlich sichere Drittstaaten geflohen sind. Das bedeutet in der Praxis, dass auch Syrer*innen oder Afghan*innen, die beispielsweise über Tunesien nach Italien oder über die Türkei nach Griechenland geflohen sind, diesem Verfahren zugeordnet werden – was im Übrigen schon heute in den Verfahren auf den griechischen Inseln so praktiziert wird. Diese Verfahren gelten als Blaupause für das neue GEAS.
In den beschleunigten Grenzverfahren soll zunächst nicht auf die eigentlichen Fluchtgründe der Antragsteller*innen eingegangen werden. Die Behörden fragen also nicht danach, ob zum Beispiel ein syrischer Oppositioneller vor dem Assad-Regime oder eine afghanische Frau vor den Taliban geflohen ist. Stattdessen wird vorrangig nur geprüft, ob die Asylsuchenden zuvor in einem für sie als „sicher“ deklarierten Drittstaat gewesen sind. Ist dies der Fall, sollen sie dorthin abgeschoben werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Asylsuchenden an den Orten des Grenzverfahrens festgesetzt werden sollen, was wohl mit einer De-facto-Inhaftierung der Betroffenen einhergehen wird. Vom Grenzverfahren sind nur unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ausgenommen; alle anderen, selbst Familien mit kleinen Kindern, können festgehalten werden.
Mit dieser Reform hat sich die Mehrheit der EU-Staaten dafür entschieden, die Verantwortung für Flüchtlingsaufnahme und -schutz auszulagern; zentraleuropäische Staaten wie Deutschland oder Frankreich schieben die Verantwortung für die Erstaufnahme der Flüchtlinge an die Außengrenzen ab. Dort versuchen die Außengrenzstaaten, die Verantwortung an vermeintlich sichere Drittstaaten abzugeben, in denen wiederum Kettenabschiebungen in die Verfolgerstaaten drohen. Der individuelle Schutz vor Verfolgung läuft dadurch faktisch ins Leere, schwere Menschenrechtsverletzungen sind in diesen Ansatz eingepreist. Weil zugleich legale Fluchtwege in die EU fehlen, eine verbindliche Verteilung der Schutzsuchenden nicht beschlossen wurde und die Mitgliedstaaten sich auch nicht auf eine staatlich koordinierte Seenotrettung verständigt haben, wird das Sterben an den Grenzen Europas andauern.
Schon jetzt versuchen politische Akteur*innen, über die beschlossenen Verschärfungen des GEAS hinauszugehen. So plant Italien etwa, Asylverfahren für alle über das Mittelmeer ankommenden Flüchtlinge in Albanien durchzuführen. In Deutschland wird diskutiert, Asylverfahren nach dem Vorbild des britischen „Ruanda-Modells“ an Drittstaaten auszulagern, mit denen die Asylsuchenden in keinerlei Verbindung stehen. Die Ministerpräsident*innenkonferenz hat im Jahr 2023 die Bundesregierung aufgefordert, ein solches Modell zu prüfen. Dabei ist das „Ruanda-Modell“ – ganz unabhängig von der politischen Verantwortungslosigkeit, die solche Vorhaben demonstrieren – schon aus rechtlichen Gründen nicht umsetzbar: Der britische Supreme Court hat das Vorhaben am konkreten Beispiel Ruandas wegen des dortigen defizitären Asylsystems für rechtswidrig erklärt. Die vom Gericht aufgestellten Maßstäbe dürften auch für zahlreiche andere Staaten gelten, über die derzeit diskutiert wird.
Was also bleibt vom Asylrecht im 75. Jahr des Grundgesetzes? Festzuhalten ist, dass das Recht auf Asyl heute in unterschiedlichste verfassungsrechtliche, europarechtliche und menschenrechtliche Bezüge eingebettet ist. Nationale politische Alleingänge bei Asylrechtsänderungen sind im Rahmen der EU faktisch nicht mehr möglich. Zugleich scheinen aber immer mehr EU-Mitgliedstaaten dazu bereit, den Zugang zu diesem Grundrecht zu erschweren oder zu versperren. Geschichte und Gegenwart des Asylrechts zeigen, dass Rechtsschutz für Flüchtlinge aktiv von den Betroffenen selbst, von Wissenschaftler*innen, Anwält*innen und Menschenrechtsorganisationen eingefordert und gegebenenfalls vor Gericht durchgesetzt werden muss. Der Handlungsdruck für eine menschenrechtskonforme Flüchtlingspolitik bleibt hoch.