Die Rede von der „wehrhaften Demokratie“ hat in jüngster Zeit einen völlig neuen Verbreitungsgrad erreicht. Politiker fordern sie ein, der öffentlich-rechtliche Rundfunk ruft sie zum Jahresmotto aus, sie wird zum allgemein geteilten Bekenntnis hunderttausender Demonstranten, die Zeichen gegen einen politischen Rechtsruck setzen wollen. Demokratische Wehrhaftigkeit scheint zum Heils- und Hoffnungsversprechen in einer Zeit der Krisenstimmung geworden zu sein, welche die westlichen Demokratien spätestens seit dem Jahr 2016 erfasst hat, als das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten eine Erschütterung des liberalen Selbstverständnisses verursachten, von dem sich Europa bis heute nicht erholt hat. Im Gegenteil: Der Aufschwung des Rechtspopulismus hat sich seither fortgesetzt, und die politischen Rezepte zu seiner Bekämpfung bleiben weiterhin Mangelware. Dieser Befund trifft mittlerweile europaweit zu, und der Verdacht liegt nahe, dass die Beschwörung einer selbstbewussten und verteidigungsbereiten Demokratie proportional zur Notlage an Lautstärke zunimmt. War sie früher nur der Gegenstand von Sonntagsreden, ist nun Vorsicht geboten, dass sich die Dauerpräsenz des Appells an alle Demokraten, sich ihrer Gegner zu erwehren, nicht abnutzt oder zur Ausstellung der Hilflosigkeit wird.
Krise allenthalben
Unleugbar scheint die Einsicht, dass die demokratische Ordnung fragiler und unsicherer wirkt als lange Zeit gedacht.
Sicherlich lässt sich die Dramatik der Krisendiagnostik im deutschen Fall relativieren, sobald man den Wandel der Parteiensysteme und die Stärke rechtspopulistischer Kräfte in Nachbarländern wie Österreich, den Niederlanden oder Frankreich betrachtet. Doch selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, welche die oppositionelle Infragestellung der Regierung institutionalisiert hat und die Kritik – und damit häufig auch die Suggestion einer Krise in Permanenz – zu ihrem Wesensmerkmal zählt, hat die Sorge um die Zukunftsfähigkeit der Demokratie doch eine neue Qualität erreicht. Die Fortschrittsgewissheit früherer Jahre, als die parlamentarische Demokratie zum Nonplusultra westlicher Regierungskunst erklärt wurde, ist nachhaltig erschüttert. Nicht mehr die Vertiefung und Erweiterung, die „Demokratisierung der Demokratie“,
Eben weil die Demokratie stetem Wandel unterworfen bleibt und im Sinne des frühen bundesrepublikanischen Demokratieerziehers Dolf Sternberger eine „lebende Verfassung“ ist,
Weimars Scheitern
Zwar ist die Selbstgefährdung der Demokratie, ihr potenzielles Abgleiten in Anarchie, Demagogie oder Autokratie, ein von alters her bekannter Topos politischer Reflexion. Doch die Zeitgenossenschaft der Oktoberrevolution und des Bolschewismus sowie des „Marsches auf Rom“ und des Faschismus führte seinerzeit unter politischen Beobachtern und Theoretikern zu einer intensiven Reflexion über Szenarien der Machtübernahme respektive über Präventionsmaßnahmen, um eine solche zu verhindern. Der Staatsrechtler Carl Schmitt etwa meinte die Schwachstelle des Liberalismus darin zu erkennen, dass dieser unfähig sei, sich seiner Feinde zu erwehren. Dabei drohte der demokratischen Ordnung, so Schmitt, nicht in erster Linie Gefahr vonseiten einer „antidemokratischen Mehrheit“. Sondern bereits der legale Zugriff auf staatliche Macht böte die Möglichkeit, die Legitimität eines demokratischen Willens auszuhebeln. Schmitt betonte zu Recht einen zentralen Aspekt der parlamentarischen Demokratie: das „Offenhalten der gleichen Chance, die Mehrheit, das heißt die politische Macht zu gewinnen“. Hellsichtig erkannte er, dass „der bloße Besitz der staatlichen Macht einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutretenden zusätzlichen politischen Mehrwert“ bewirke, nämlich „eine über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit“.
Für Schmitt lag die Gefährdung der Weimarer Republik eben nicht einfach in dem Umstand, dass ihre Verfassung per Mehrheitsentscheid außer Kraft gesetzt und damit die demokratische Ordnung beseitigt werden konnte, sondern darin, dass Verfassungsgegner in einem gezielten Angriff konkurrierende legale Mittel ausnutzen konnten, um ein neues Regime zu etablieren. Insofern könne man die gleiche Chance „selbstverständlich nur demjenigen offenhalten, von dem man sicher ist, daß er sie einem selber offenhalten würde“.
Ex negativo hatte Schmitt damit das Problem beschrieben, auf das eine Demokratie stößt, die sich ihrer Existenz nicht sicher sein kann. Er ignorierte freilich die Möglichkeiten der Republikschutzgesetzgebung, welche auch die damalige Verfassung bot, um ihre Feinde zu bekämpfen. Am Ende fehlte vor allem der politische Wille, sie anzuwenden – auch beim antiliberalen Schmitt, der seinen Hauptgegner im österreichischen Staatsrechtslehrer Hans Kelsen fand. Kelsen war ein aufrechter liberaler Sozialdemokrat, dessen normative und definitorische Askese die Demokratie jedoch auf die Mehrheitsregel beschränkte. Die Demokratie sei „diejenige Staatsform“, so Kelsen, „die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt“.
Militante Demokratie
Kelsens theoretisch begründeter Verzicht auf staatliche Verteidigungsmaßnahmen zum Erhalt der Demokratie rief seine Kritiker auf den Plan. Insbesondere nach erfolgter Machtübertragung an die Nationalsozialisten entwickelte sich eine intensive Debatte über die versäumten Chancen und die daraus zu ziehenden Lehren für die verbliebenen Demokratien, die sich von innen und außen weiterhin bedroht sahen. Der Staatsrechtler und Max-Weber-Schüler Karl Loewenstein sollte im amerikanischen Exil das Konzept der „militant democracy“ entwickeln. Es verdankt sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung, und Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert: „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen.“
Seine umfangreiche Ausarbeitung aus dem Jahr 1937 lieferte eher eine Bestandsaufnahme bisher praktizierter Staatsschutzmaßnahmen (Parteienverbote, Verbote staatsfeindlicher Organisationen, Bestrafung von Hochverrat, Verbot von Waffenbesitz, Ahndung von Hass und Volksverhetzung und anderes mehr) und war gleichzeitig ein Dokument der Desillusionierung. Sich mit dem irrationalen Ideengehalt des Faschismus auseinanderzusetzen, hielt er kaum für erfolgversprechend; jede Aufklärungsbemühung komme zu spät. Stattdessen sei es nötig, „Feuer mit Feuer“ zu bekämpfen.
In späteren Jahrzehnten ist diese Haltung wegen ihrer „Kreuzzugmentalität“ immer wieder kritisiert worden. Zu den Auswüchsen eines McCarthyismus, der politische Gegner zu Vogelfreien machte, und zur missionarischen Vorstellung eines democracy building sind leicht Verbindungen herstellbar. Spätestens nach dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine lassen sich allerdings die Aporien der damaligen Situation wieder besser verstehen. Bei einer Würdigung von Loewensteins kämpferischer Entschlossenheit wird man die fehlende theoretische Stringenz – Bürgerrechte außer Kraft zu setzen, um „fundamentale Rechte“ zu verteidigen – eventuell mit anderen Augen sehen. Auch Loewenstein war das wesentliche Argument Kelsens nicht entgangen, in der Festigung der demokratischen Kultur das wirksamste Remedium gegen Autoritarismus zu sehen. Seine empirischen Befunde bestätigten, dass die westlichen Demokratien und parlamentarischen Monarchien weitgehend stabil blieben, die jungen Republiken wie Spanien, Österreich, Polen oder Deutschland, denen es an demokratischer Erfahrung fehlte, indessen zugrunde gingen.
Wehrhafte Demokratie als Krisenlösung?
Die Politikwissenschaft und die Staatsrechtslehre neigen dazu, die Idee einer begrifflich pazifizierten „streitbaren Demokratie“ als ein praxisorientiertes Modell zu behandeln, dessen Erfolg schließlich im Grundgesetz der Bundesrepublik zu besichtigen sei.
In ideengeschichtlicher Perspektive ebnete die „militante Demokratie“ zwar den Weg zu einem robusten Demokratieverständnis, aber Loewensteins Konzept verdeutlicht vor allem, in welche Dilemmata sich liberale Demokraten verstricken, wenn sie bereits jenseits demokratischer Mehrheiten operieren und die vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der demokratischen Ordnung gar nicht mehr ergreifen können. „Militant Democracy“ erscheint dann als Produkt einer existenziellen Bewährungskrise der Demokratie. Die Probleme fangen freilich schon mit einer angemessenen Eindeutschung des Begriffes an, denn man darf nicht übersehen, dass die abgemilderten Formen der „wehrhaften“ oder „streitbaren Demokratie“ erst nachträgliche Übersetzungen sind. In den 1930er Jahren lag der Begriff der Militanz näher; er hatte innenpolitische und außenpolitische Evidenz. Innenpolitisch, weil es wirklich darum ging, militarisierten Kampfverbänden der extremistischen Parteien zu begegnen, außenpolitisch, weil die revisionistische Außenpolitik und der kriegerische Expansionswille des Nationalsozialismus Gegenwehr verlangten.
Wenn Zeitdiagnostiker, Historiker und Politikwissenschaftler heute den Vergleich zur Zwischenkriegszeit ziehen,
Der wichtigste Unterschied besteht allerdings darin, dass die liberale Demokratie seinerzeit noch eine neue Errungenschaft war. Demokratie war ein Zukunftsbegriff, an den sich eine Fülle von Erwartungen und Hoffnungen knüpfte, aber mit ihm waren noch kaum Erfahrungen verbunden. Eigentlich kann man in Europa erst seit 1918 davon sprechen, dass die liberale Demokratie mit freiem und gleichem Wahlrecht, repräsentativer parlamentarischer Regierungsform, Gewaltenteilung und Garantie von Grundrechten Verfassungsgeltung erlangte und zum führenden Modell wurde. Die Frage, wie die Demokratie dauerhaft zu sichern und gegen ihre Feinde zu schützen ist, wurde in dem Moment relevant, als sich in der Massendemokratie neue totalitäre Ideologien anschickten, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen – unter Berufung auf einen vermeintlichen Volks- beziehungsweise Mehrheitswillen.
Für die Zeitgenossen schienen Joseph Goebbels’ Worte von der liberalen Demokratie, die „ihren Todfeinden die Mittel selbst stellte“, durch die sie vernichtet werden konnte, unmittelbar evident.
Dies macht auch die Grenzen jeder normativen Demokratietheorie deutlich, die stets auch mit dem Unverfügbaren zu tun hat: mit sozialpsychologischen Dynamiken, Hoffnungen und Ängsten, Utopien und Schreckensbildern der Bürger, die sich schwer berechenbar auf den demokratischen Prozess auswirken. Ausgerechnet der formalistische und rechtspositivistische Hans Kelsen erinnert die Staatsrechtler und Politikwissenschaftler daran, dass Verfassungen den Gegebenheiten der sozialen und politischen Wirklichkeit in unvorhersehbarer Weise ausgeliefert bleiben müssen.
In gewisser Weise zeigt die Aufgabe, das Konzept einer „wehrhaften Demokratie“ festzuzurren, eine Strukturanalogie zu anderen Paradoxa der Demokratietheorie, wie dem Widerstandsrecht und dem „zivilen Ungehorsam“. Während das Widerstandsrecht als Notwehr der Bürger gegen den Machtmissbrauch der Regierenden gilt, kommt dem „zivilen Ungehorsam“ die Rolle zu, legitime normative Gründe gegen eine Legalordnung vorzubringen, die sich von den Werten der Verfassung zu entfernen droht. Die juridische Fixierung solcher Handlungsoptionen erweist sich in beiden Fällen als nahezu unmöglich, denn der demokratische Zweck, welcher der Anwendung zugrunde liegen soll, kann schwerlich allein durch die Buchstaben der Verfassung gesichert werden. Man kann zwar Regelungen für den Ausnahmefall vorsehen, aber mit dem Ausnahmezustand, der die Aktion rechtfertigen soll, verliert man den festen Boden prozeduralen Handelns unter den Füßen. Die normative Legitimität steht damit gegen die legislative und exekutive Legalität. Es bleibt – zumal in der Demokratie – eine Auslegungssache, wann die schleichende Verwandlung des Rechtsstaates in einen Unrechtsstaat den Widerstand der Bürger legitimiert. Besondere Maßnahmen einer Gesetzgebung zum Schutz des freiheitlichen Rechtsstaates werden meist in dem Moment nötig, wo die Mehrheiten dafür geschwunden und sie de facto nicht mehr durchsetzbar sind.
Präventive Strategien
Gleichwohl darf man das Recht nicht auf seine Funktionalität reduzieren, sondern muss auch die kulturelle Prägekraft von Verfassungsnormen in Rechnung stellen.
Schon Kelsen und Loewenstein haben mit unterschiedlichen Akzentsetzungen gezeigt, dass der Erfolg demokratischer Verteidigungsmaßnahmen (ob „militant“ oder legislativ) von einer gefestigten politischen Kultur abhängt. Wenn heute vom Zerfall und vom Sterben der westlichen Demokratie die Rede ist, kann die politische Theorie aus den Argumentationsfiguren der damaligen Diskussion immer noch lernen, ohne die gegenwärtige Debatte künstlich zu dramatisieren. Denn der Vergleich mit den Weimarer Verhältnissen zeigt vor allem Unterschiede: Eine seit 75 Jahren gewachsene Kultur der Demokratie bietet in ihrer zivilgesellschaftlichen Verankerung fraglos bessere Voraussetzungen zur Krisenbewältigung, als dies in der ersten deutschen Demokratie der Fall war. Diese stand wahrlich vor dem Problem, als Republik ohne Republikaner, als Demokratie ohne Demokraten nicht ausreichend Verfassungspatrioten und damit entschlossene Verteidiger der rechtsstaatlichen Ordnung in ihren Reihen zu wissen, nicht einmal innerhalb ihrer Institutionen. Die Großdemonstrationen Anfang 2024 sind darum mehr als eine moralisch bequeme Selbstvergewisserung. Sie sind als praktiziertes zivilgesellschaftliches Engagement ein Zeichen für bürgerschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Wehrhaftigkeit in einem Stadium, in dem die politische Kultur und staatliche Institutionen Stärkung benötigen. Vor dem Hintergrund breiter Beteiligung und intensiver öffentlicher Debatte fällt es schließlich auch leichter, ein Parteienverbot als realistische Option zu diskutieren – mit dem möglichen Nebeneffekt, dass eine breite Mobilisierung eine solche Maßnahme letztlich überflüssig machen könnte.
Damit ist es aber nicht getan. Denn die wachsenden Zweifel an der Problemlösungskompetenz des politischen Systems sowie die abnehmende Akzeptanz der Demokratie signalisieren ein Kommunikationsdefizit beziehungsweise eine Entfremdung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und demokratischem Staat. Es ist deswegen wenig zielführend, sich allein auf die Bekämpfung der Demokratiegegner zu kaprizieren, sondern wichtiger, Krisenfelder und politische Verwerfungen als Ergebnisse von (immerhin korrigierbaren) politischen Versäumnissen zu begreifen. Zur Stabilisierung der Demokratie gehört eine Aktivierung demokratischer Selbstkritik, die bedrohliche Symptome wie soziale Spaltung, Rechtspopulismus und Nationalismus, Xenophobie, Antisemitismus und Antiliberalismus auf Ursachen zurückführt, anstatt wohlfeile Feinderklärungen vorzunehmen.
Die Demokratie ist auch deswegen eine „gefährdete Lebensform“,