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Wehrhafte Demokratie | In guter Verfassung? | bpb.de

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Wehrhafte Demokratie Vom Wesen und Wert eines schillernden Konzepts

Jens Hacke

/ 16 Minuten zu lesen

Ob liberale Demokratien durch Maßnahmen der wehrhaften Demokratie erfolgreich gegen ihre Feinde verteidigt werden können, ist eine offene Frage. Wichtiger scheint eine Konzentration auf die politische Kultur und die Ursachen demokratischer Entfremdung.

Die Rede von der „wehrhaften Demokratie“ hat in jüngster Zeit einen völlig neuen Verbreitungsgrad erreicht. Politiker fordern sie ein, der öffentlich-rechtliche Rundfunk ruft sie zum Jahresmotto aus, sie wird zum allgemein geteilten Bekenntnis hunderttausender Demonstranten, die Zeichen gegen einen politischen Rechtsruck setzen wollen. Demokratische Wehrhaftigkeit scheint zum Heils- und Hoffnungsversprechen in einer Zeit der Krisenstimmung geworden zu sein, welche die westlichen Demokratien spätestens seit dem Jahr 2016 erfasst hat, als das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten eine Erschütterung des liberalen Selbstverständnisses verursachten, von dem sich Europa bis heute nicht erholt hat. Im Gegenteil: Der Aufschwung des Rechtspopulismus hat sich seither fortgesetzt, und die politischen Rezepte zu seiner Bekämpfung bleiben weiterhin Mangelware. Dieser Befund trifft mittlerweile europaweit zu, und der Verdacht liegt nahe, dass die Beschwörung einer selbstbewussten und verteidigungsbereiten Demokratie proportional zur Notlage an Lautstärke zunimmt. War sie früher nur der Gegenstand von Sonntagsreden, ist nun Vorsicht geboten, dass sich die Dauerpräsenz des Appells an alle Demokraten, sich ihrer Gegner zu erwehren, nicht abnutzt oder zur Ausstellung der Hilflosigkeit wird.

Krise allenthalben

Unleugbar scheint die Einsicht, dass die demokratische Ordnung fragiler und unsicherer wirkt als lange Zeit gedacht. Dabei hat sich das Verhältnis umgekehrt: Während früher die Zivilgesellschaft einen Missbrauch des Staats- und Verfassungsschutzes fürchtete, wenn Notstandsgesetze, Parteienverbote oder Radikalenerlass den Verdacht auf sich zogen, restriktiv die Freiheiten einer offenen Gesellschaft zu beschränken und Gesinnungsschnüffelei zu etablieren, so häufen sich mittlerweile die Forderungen, von den verfügbaren Rechtsmitteln endlich konsequent Gebrauch zu machen. Nicht nur wird das Parteienverbot mit Blick auf die AfD, die in einigen Landesverbänden nach Auskunft des Verfassungsschutzes als „gesichert rechtsextremistisch“ gilt, in der Öffentlichkeit parteiübergreifend gefordert, auch die Einschränkung der Grundrechte von einigen ihrer führenden Köpfe steht zur Diskussion. Und mit Blick auf die Maßnahmen, die in Polen und Ungarn einen schleichenden institutionellen Umbau in Richtung „illiberaler Demokratie“ begleiteten, sind jüngsthin Rufe lauter geworden, die Wahl der Bundesverfassungsrichter an eine im Grundgesetz verankerte Zweidrittelmehrheit zu binden, um sie präventiv vor einem Zugriff der AfD zu schützen.

Sicherlich lässt sich die Dramatik der Krisendiagnostik im deutschen Fall relativieren, sobald man den Wandel der Parteiensysteme und die Stärke rechtspopulistischer Kräfte in Nachbarländern wie Österreich, den Niederlanden oder Frankreich betrachtet. Doch selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, welche die oppositionelle Infragestellung der Regierung institutionalisiert hat und die Kritik – und damit häufig auch die Suggestion einer Krise in Permanenz – zu ihrem Wesensmerkmal zählt, hat die Sorge um die Zukunftsfähigkeit der Demokratie doch eine neue Qualität erreicht. Die Fortschrittsgewissheit früherer Jahre, als die parlamentarische Demokratie zum Nonplusultra westlicher Regierungskunst erklärt wurde, ist nachhaltig erschüttert. Nicht mehr die Vertiefung und Erweiterung, die „Demokratisierung der Demokratie“, stehen auf der Agenda, sondern es geht um ihr Überleben. Ihre prekäre Lage allerdings einzig böswilligen inneren Feinden und äußeren Mächten zuzuschreiben, griffe zu kurz. Denn die Demokratie ist immer Ergebnis – und manchmal auch Opfer – der mit ihr verbundenen Erwartungen und Hoffnungen, aber auch der versäumten Chancen, ungelösten Konflikte und entstandenen gesellschaftlichen Verwerfungen. Deshalb hängt die Frage, wie stabil, resilient oder wehrhaft die Demokratie ist, stets damit zusammen, inwiefern sie in der Lage ist, sich neuen Herausforderungen anzupassen, entwicklungsfähig zu bleiben und vor allem erfolgreich die soziale Kohäsion und Integration ihrer Bürger zu bewerkstelligen.

Eben weil die Demokratie stetem Wandel unterworfen bleibt und im Sinne des frühen bundesrepublikanischen Demokratieerziehers Dolf Sternberger eine „lebende Verfassung“ ist, können Selbstbehauptung, Funktionsfähigkeit und Performanz nur schwer voneinander getrennt werden. Um es anders zu formulieren: Systemgegner treten in dem Moment auf den Plan, in dem bestimmte Probleme nicht behandelt werden, Bevölkerungsgruppen sich nicht repräsentiert fühlen, Zukunftschancen schwinden, soziale Ungleichheit, Abstiegsängste und Unzufriedenheit wachsen. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass der Ruf nach Wehrhaftigkeit stets demokratische Defekte und Versäumnisse anzeigt. Gleichzeitig wirken wenige Begriffe so unbestimmt und schillernd wie jener der „wehrhaften Demokratie“, und dies hängt vor allem mit seiner Geschichte zusammen, deren Ursprünge in der Zwischenkriegszeit liegen, als die liberale Demokratie in den 1930er Jahren ihre wahre Existenzkrise erlebte.

Weimars Scheitern

Zwar ist die Selbstgefährdung der Demokratie, ihr potenzielles Abgleiten in Anarchie, Demagogie oder Autokratie, ein von alters her bekannter Topos politischer Reflexion. Doch die Zeitgenossenschaft der Oktoberrevolution und des Bolschewismus sowie des „Marsches auf Rom“ und des Faschismus führte seinerzeit unter politischen Beobachtern und Theoretikern zu einer intensiven Reflexion über Szenarien der Machtübernahme respektive über Präventionsmaßnahmen, um eine solche zu verhindern. Der Staatsrechtler Carl Schmitt etwa meinte die Schwachstelle des Liberalismus darin zu erkennen, dass dieser unfähig sei, sich seiner Feinde zu erwehren. Dabei drohte der demokratischen Ordnung, so Schmitt, nicht in erster Linie Gefahr vonseiten einer „antidemokratischen Mehrheit“. Sondern bereits der legale Zugriff auf staatliche Macht böte die Möglichkeit, die Legitimität eines demokratischen Willens auszuhebeln. Schmitt betonte zu Recht einen zentralen Aspekt der parlamentarischen Demokratie: das „Offenhalten der gleichen Chance, die Mehrheit, das heißt die politische Macht zu gewinnen“. Hellsichtig erkannte er, dass „der bloße Besitz der staatlichen Macht einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutretenden zusätzlichen politischen Mehrwert“ bewirke, nämlich „eine über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit“.

Für Schmitt lag die Gefährdung der Weimarer Republik eben nicht einfach in dem Umstand, dass ihre Verfassung per Mehrheitsentscheid außer Kraft gesetzt und damit die demokratische Ordnung beseitigt werden konnte, sondern darin, dass Verfassungsgegner in einem gezielten Angriff konkurrierende legale Mittel ausnutzen konnten, um ein neues Regime zu etablieren. Insofern könne man die gleiche Chance „selbstverständlich nur demjenigen offenhalten, von dem man sicher ist, daß er sie einem selber offenhalten würde“. Wenn schließlich „das Prinzip der gleichen Chance und damit die Legalitätsgrundlage des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates jeden Glauben“ verloren habe, komme es nur noch darauf an, „wer zuletzt, wenn es wirklich soweit ist, in dem Augenblick, in dem das ganze Legalitätssystem beiseite geworfen wird, die legale Macht in der Hand hat und dann seine Macht auf neuer Grundlage konstituiert“. Schmitt hatte vor allem den Artikel 76 der Weimarer Reichsverfassung im Sinn, der eine (schrankenlose) Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit erlaubte, und nahm den liberalen Relativismus der herrschenden Staatslehre ins Visier. „Wenn das die herrschende und die ‚alte‘ Lehre ist“, folgerte Schmitt, „so gibt es keine verfassungswidrigen Ziele. Jedes noch so revolutionäre oder reaktionäre, umstürzlerische, staatsfeindliche, deutschfeindliche oder gottlose Ziel ist zugelassen und darf der Chance, auf legalem Wege erreicht zu werden, nicht beraubt werden.“

Ex negativo hatte Schmitt damit das Problem beschrieben, auf das eine Demokratie stößt, die sich ihrer Existenz nicht sicher sein kann. Er ignorierte freilich die Möglichkeiten der Republikschutzgesetzgebung, welche auch die damalige Verfassung bot, um ihre Feinde zu bekämpfen. Am Ende fehlte vor allem der politische Wille, sie anzuwenden – auch beim antiliberalen Schmitt, der seinen Hauptgegner im österreichischen Staatsrechtslehrer Hans Kelsen fand. Kelsen war ein aufrechter liberaler Sozialdemokrat, dessen normative und definitorische Askese die Demokratie jedoch auf die Mehrheitsregel beschränkte. Die Demokratie sei „diejenige Staatsform“, so Kelsen, „die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt“. Die Frage, „[o]b die Demokratie sich nicht selbst verteidigen soll, auch gegen das Volk, das sie nicht mehr will“, musste Kelsen aus der Konsequenz seiner theoretischen Position verneinen, denn: „Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein.“ Kelsen wollte sich „nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten“. Man mag sich fragen, ob dieser Fall je eingetreten ist – immerhin vermochten auch die Nationalsozialisten nie, bei regulären Wahlen eine absolute Mehrheit der Stimmen zu erreichen. Aber Kelsens Verzicht auf Abwehrmaßnahmen des Staates markiert die dilemmatische Frage, ob antidemokratische Haltungen und Affekte durch Verbote überhaupt wirksam bekämpft werden können. Das Kind war aus seiner Sicht bereits vorher in den Brunnen gefallen. Dass Kelsen den wertegeleiteten Einsatz für die Demokratie unbedingt befürwortete, allerdings in einer umfassenderen Form, machte er in seiner klassischen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (1920/1929) deutlich. Nicht nur dient die Demokratie, so Kelsen, durch ihre Kultur des Kompromisses dem sozialen Frieden, sondern sie hat auch für die politische Erziehung respektive Bildung ihrer Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, um die demokratische Kultur zu stärken.

Militante Demokratie

Kelsens theoretisch begründeter Verzicht auf staatliche Verteidigungsmaßnahmen zum Erhalt der Demokratie rief seine Kritiker auf den Plan. Insbesondere nach erfolgter Machtübertragung an die Nationalsozialisten entwickelte sich eine intensive Debatte über die versäumten Chancen und die daraus zu ziehenden Lehren für die verbliebenen Demokratien, die sich von innen und außen weiterhin bedroht sahen. Der Staatsrechtler und Max-Weber-Schüler Karl Loewenstein sollte im amerikanischen Exil das Konzept der „militant democracy“ entwickeln. Es verdankt sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung, und Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert: „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen.“

Seine umfangreiche Ausarbeitung aus dem Jahr 1937 lieferte eher eine Bestandsaufnahme bisher praktizierter Staatsschutzmaßnahmen (Parteienverbote, Verbote staatsfeindlicher Organisationen, Bestrafung von Hochverrat, Verbot von Waffenbesitz, Ahndung von Hass und Volksverhetzung und anderes mehr) und war gleichzeitig ein Dokument der Desillusionierung. Sich mit dem irrationalen Ideengehalt des Faschismus auseinanderzusetzen, hielt er kaum für erfolgversprechend; jede Aufklärungsbemühung komme zu spät. Stattdessen sei es nötig, „Feuer mit Feuer“ zu bekämpfen. Die Forderung nach militanter Selbstbehauptung war – den Zeitumständen geschuldet – bitterernst gemeint. Loewenstein orientierte seine Überlegungen am überlieferten republikanischen Institut der Diktatur. Für vehemente Gegner der Appeasement-Politik wie ihn war die demokratische Bereitschaft zur Selbstverteidigung ohne ihre außenpolitische Komponente nicht denkbar. Angesichts existentieller Bedrohung durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg plädierte auch Thomas Mann für einen „militanten Humanismus“, der die westliche Demokratie verteidigen sollte. Diese Haltung galt gleichermaßen für die innenpolitische Bekämpfung der Demokratiegegner wie für die Opposition gegen die Appeasement-Politik der Westmächte, die dem Expansionswillen der NS-Diktatur wenig entgegensetzten. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schufen den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus.

In späteren Jahrzehnten ist diese Haltung wegen ihrer „Kreuzzugmentalität“ immer wieder kritisiert worden. Zu den Auswüchsen eines McCarthyismus, der politische Gegner zu Vogelfreien machte, und zur missionarischen Vorstellung eines democracy building sind leicht Verbindungen herstellbar. Spätestens nach dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine lassen sich allerdings die Aporien der damaligen Situation wieder besser verstehen. Bei einer Würdigung von Loewensteins kämpferischer Entschlossenheit wird man die fehlende theoretische Stringenz – Bürgerrechte außer Kraft zu setzen, um „fundamentale Rechte“ zu verteidigen – eventuell mit anderen Augen sehen. Auch Loewenstein war das wesentliche Argument Kelsens nicht entgangen, in der Festigung der demokratischen Kultur das wirksamste Remedium gegen Autoritarismus zu sehen. Seine empirischen Befunde bestätigten, dass die westlichen Demokratien und parlamentarischen Monarchien weitgehend stabil blieben, die jungen Republiken wie Spanien, Österreich, Polen oder Deutschland, denen es an demokratischer Erfahrung fehlte, indessen zugrunde gingen.

Wehrhafte Demokratie als Krisenlösung?

Die Politikwissenschaft und die Staatsrechtslehre neigen dazu, die Idee einer begrifflich pazifizierten „streitbaren Demokratie“ als ein praxisorientiertes Modell zu behandeln, dessen Erfolg schließlich im Grundgesetz der Bundesrepublik zu besichtigen sei. Die entscheidenden Stichworte, die der Charakterisierung einer „streitbaren Demokratie“ dienen, sind dann „wachsam“, „wertgebunden“, „abwehrbereit“; ihre Mittel sind die des Verfassungsschutzes, des Parteienverbots, der Bekämpfung von Verfassungsfeinden und der Festschreibung von Normen durch Unabänderlichkeits- oder Ewigkeitsklauseln. So wichtig dieser praxisbezogene Kontext verfassungspolitischer Maßnahmen ist, so sehr läuft man Gefahr, die politikwissenschaftliche Diskussion auf Anwendungswissen zu reduzieren und damit die demokratietheoretische und normativ-politische Debatte um die Selbstbehauptung der Demokratie zu vernachlässigen.

In ideengeschichtlicher Perspektive ebnete die „militante Demokratie“ zwar den Weg zu einem robusten Demokratieverständnis, aber Loewensteins Konzept verdeutlicht vor allem, in welche Dilemmata sich liberale Demokraten verstricken, wenn sie bereits jenseits demokratischer Mehrheiten operieren und die vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der demokratischen Ordnung gar nicht mehr ergreifen können. „Militant Democracy“ erscheint dann als Produkt einer existenziellen Bewährungskrise der Demokratie. Die Probleme fangen freilich schon mit einer angemessenen Eindeutschung des Begriffes an, denn man darf nicht übersehen, dass die abgemilderten Formen der „wehrhaften“ oder „streitbaren Demokratie“ erst nachträgliche Übersetzungen sind. In den 1930er Jahren lag der Begriff der Militanz näher; er hatte innenpolitische und außenpolitische Evidenz. Innenpolitisch, weil es wirklich darum ging, militarisierten Kampfverbänden der extremistischen Parteien zu begegnen, außenpolitisch, weil die revisionistische Außenpolitik und der kriegerische Expansionswille des Nationalsozialismus Gegenwehr verlangten.

Wenn Zeitdiagnostiker, Historiker und Politikwissenschaftler heute den Vergleich zur Zwischenkriegszeit ziehen, liegen einige oberflächliche Ähnlichkeiten auf der Hand: die Akzeptanzkrise des Parlamentarismus, das Aufkommen rechtsextremistischer Massenbewegungen und der allgemeine Konjunkturaufschwung des Nationalismus, das Spannungsverhältnis zwischen demokratischen Teilhabeansprüchen und kapitalistischer Wirklichkeit, nicht zuletzt die Unsicherheiten eines internationalen Systems, dessen Institutionen den Herausforderungen der Migration, der Ökonomie und Ökologie oder der Sicherheitspolitik immer hilfloser gegenüberzustehen scheinen.

Der wichtigste Unterschied besteht allerdings darin, dass die liberale Demokratie seinerzeit noch eine neue Errungenschaft war. Demokratie war ein Zukunftsbegriff, an den sich eine Fülle von Erwartungen und Hoffnungen knüpfte, aber mit ihm waren noch kaum Erfahrungen verbunden. Eigentlich kann man in Europa erst seit 1918 davon sprechen, dass die liberale Demokratie mit freiem und gleichem Wahlrecht, repräsentativer parlamentarischer Regierungsform, Gewaltenteilung und Garantie von Grundrechten Verfassungsgeltung erlangte und zum führenden Modell wurde. Die Frage, wie die Demokratie dauerhaft zu sichern und gegen ihre Feinde zu schützen ist, wurde in dem Moment relevant, als sich in der Massendemokratie neue totalitäre Ideologien anschickten, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen – unter Berufung auf einen vermeintlichen Volks- beziehungsweise Mehrheitswillen.

Für die Zeitgenossen schienen Joseph Goebbels’ Worte von der liberalen Demokratie, die „ihren Todfeinden die Mittel selbst stellte“, durch die sie vernichtet werden konnte, unmittelbar evident. Nimmt man Goebbels’ Ausspruch ernst, ist aber nicht das Volk der entscheidende Akteur, sondern es sind die antidemokratischen Eliten, die die Chancen des politischen Systems für ihre Zwecke instrumentalisieren. Insofern konzentriert sich bis heute jede Krisendiagnose auf die Kritik an den Eliten und Funktionsträgern in Politik und Wirtschaft, die sich vom normativen Anspruch der Demokratie entkoppelt haben und ihrer demokratischen Verantwortung nicht mehr gerecht werden.

Dies macht auch die Grenzen jeder normativen Demokratietheorie deutlich, die stets auch mit dem Unverfügbaren zu tun hat: mit sozialpsychologischen Dynamiken, Hoffnungen und Ängsten, Utopien und Schreckensbildern der Bürger, die sich schwer berechenbar auf den demokratischen Prozess auswirken. Ausgerechnet der formalistische und rechtspositivistische Hans Kelsen erinnert die Staatsrechtler und Politikwissenschaftler daran, dass Verfassungen den Gegebenheiten der sozialen und politischen Wirklichkeit in unvorhersehbarer Weise ausgeliefert bleiben müssen.

In gewisser Weise zeigt die Aufgabe, das Konzept einer „wehrhaften Demokratie“ festzuzurren, eine Strukturanalogie zu anderen Paradoxa der Demokratietheorie, wie dem Widerstandsrecht und dem „zivilen Ungehorsam“. Während das Widerstandsrecht als Notwehr der Bürger gegen den Machtmissbrauch der Regierenden gilt, kommt dem „zivilen Ungehorsam“ die Rolle zu, legitime normative Gründe gegen eine Legalordnung vorzubringen, die sich von den Werten der Verfassung zu entfernen droht. Die juridische Fixierung solcher Handlungsoptionen erweist sich in beiden Fällen als nahezu unmöglich, denn der demokratische Zweck, welcher der Anwendung zugrunde liegen soll, kann schwerlich allein durch die Buchstaben der Verfassung gesichert werden. Man kann zwar Regelungen für den Ausnahmefall vorsehen, aber mit dem Ausnahmezustand, der die Aktion rechtfertigen soll, verliert man den festen Boden prozeduralen Handelns unter den Füßen. Die normative Legitimität steht damit gegen die legislative und exekutive Legalität. Es bleibt – zumal in der Demokratie – eine Auslegungssache, wann die schleichende Verwandlung des Rechtsstaates in einen Unrechtsstaat den Widerstand der Bürger legitimiert. Besondere Maßnahmen einer Gesetzgebung zum Schutz des freiheitlichen Rechtsstaates werden meist in dem Moment nötig, wo die Mehrheiten dafür geschwunden und sie de facto nicht mehr durchsetzbar sind.

Präventive Strategien

Gleichwohl darf man das Recht nicht auf seine Funktionalität reduzieren, sondern muss auch die kulturelle Prägekraft von Verfassungsnormen in Rechnung stellen. In dieser Hinsicht profiliert sich die Innovation der Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüterin der demokratischen Ordnung; die Befugnis zur Normenkontrolle hat nicht zuletzt Hans Kelsen als Mitarchitekt der Österreichischen Verfassung konzipiert – und als Verfassungsrichter praktiziert, bis er 1930 als Richter ausschied. Aus demokratietheoretischer Perspektive scheint Kelsen lange rehabilitiert: Obwohl die „wehrhafte Demokratie“, deren erste Verfechter sich scharf von ihm absetzten, mittlerweile zum Repertoire westlicher Selbstbeschreibungen zählt, hat sich der Akzent ihres Ideengehalts verschoben. Sicherlich dient sie weiterhin dazu, den Maßnahmenkatalog des Verfassungs- und Staatsschutzes zu beschreiben. Allerdings zeigen die neuerlichen Debatten um die Krise der Demokratie, dass die Konzentration auf den klar zu markierenden Verfassungsfeind zu kurz greift. Der Schematismus einer Extremismusauffassung, welche die Bedrohung symmetrisch im organisierten Rechts- und Linksradikalismus sieht, erschöpft sich in einer Gegnerbekämpfung, deren polizeiliche Maßnahmen zwar nötig sind, die Demokratie jedoch nicht nachhaltig zu stabilisieren vermögen. Darüber hinaus ist die Gefahr eines offenen Kampfes der Verfassungsgegner, der die Demokratie mit einem Putsch oder Ähnlichem beseitigt, von geringer Wahrscheinlichkeit, zumal funktionierende europäische Demokratien bislang nie von links beseitigt worden sind. Die wehrhafte Demokratie kann zwar ihre konzeptuelle Herkunft aus einem der Diktatur nachempfundenen Mittel für den Ausnahmezustand nicht verleugnen, aber es könnte helfen, in ihr eine Charakterisierung der generellen Konstitution liberaler Demokratien zu sehen, um Krisenfestigkeit und Stabilität zu betonen.

Schon Kelsen und Loewenstein haben mit unterschiedlichen Akzentsetzungen gezeigt, dass der Erfolg demokratischer Verteidigungsmaßnahmen (ob „militant“ oder legislativ) von einer gefestigten politischen Kultur abhängt. Wenn heute vom Zerfall und vom Sterben der westlichen Demokratie die Rede ist, kann die politische Theorie aus den Argumentationsfiguren der damaligen Diskussion immer noch lernen, ohne die gegenwärtige Debatte künstlich zu dramatisieren. Denn der Vergleich mit den Weimarer Verhältnissen zeigt vor allem Unterschiede: Eine seit 75 Jahren gewachsene Kultur der Demokratie bietet in ihrer zivilgesellschaftlichen Verankerung fraglos bessere Voraussetzungen zur Krisenbewältigung, als dies in der ersten deutschen Demokratie der Fall war. Diese stand wahrlich vor dem Problem, als Republik ohne Republikaner, als Demokratie ohne Demokraten nicht ausreichend Verfassungspatrioten und damit entschlossene Verteidiger der rechtsstaatlichen Ordnung in ihren Reihen zu wissen, nicht einmal innerhalb ihrer Institutionen. Die Großdemonstrationen Anfang 2024 sind darum mehr als eine moralisch bequeme Selbstvergewisserung. Sie sind als praktiziertes zivilgesellschaftliches Engagement ein Zeichen für bürgerschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Wehrhaftigkeit in einem Stadium, in dem die politische Kultur und staatliche Institutionen Stärkung benötigen. Vor dem Hintergrund breiter Beteiligung und intensiver öffentlicher Debatte fällt es schließlich auch leichter, ein Parteienverbot als realistische Option zu diskutieren – mit dem möglichen Nebeneffekt, dass eine breite Mobilisierung eine solche Maßnahme letztlich überflüssig machen könnte.

Damit ist es aber nicht getan. Denn die wachsenden Zweifel an der Problemlösungskompetenz des politischen Systems sowie die abnehmende Akzeptanz der Demokratie signalisieren ein Kommunikationsdefizit beziehungsweise eine Entfremdung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und demokratischem Staat. Es ist deswegen wenig zielführend, sich allein auf die Bekämpfung der Demokratiegegner zu kaprizieren, sondern wichtiger, Krisenfelder und politische Verwerfungen als Ergebnisse von (immerhin korrigierbaren) politischen Versäumnissen zu begreifen. Zur Stabilisierung der Demokratie gehört eine Aktivierung demokratischer Selbstkritik, die bedrohliche Symptome wie soziale Spaltung, Rechtspopulismus und Nationalismus, Xenophobie, Antisemitismus und Antiliberalismus auf Ursachen zurückführt, anstatt wohlfeile Feinderklärungen vorzunehmen.

Die Demokratie ist auch deswegen eine „gefährdete Lebensform“, weil sich ihre Krisensymptome keineswegs immer auf offensichtlich rationale institutionelle Gründe oder objektive sozioökonomische Missstände zurückführen lassen. Diffuse Ängste und Ressentiments treten dann auf, wenn die Demokratie nicht mehr hinreichend in der Lage ist, eine Perspektive der Hoffnung und Verbesserung zu bieten, die mit dem Gemeinwohl und dem grundsätzlichen Ziel einer „Gesellschaft der Gleichen“ verbunden bleibt. Die Pflege des öffentlichen Raumes in Kommunen und Städten, der Zugang zur Bildung, die Gewährung von Lebenschancen, die Bereitstellung einer funktionierenden Infrastruktur, die Sorge um die ökologischen Grundlagen – dies alles bleibt Gegenstand fortwährender Demokratisierungsprozesse. Insofern ist eine politische Thematisierung des Gemeinsamen eine weitaus wirksamere präventive Strategie zur demokratischen Wehrhaftigkeit als die einseitige Fixierung auf den Kampf gegen die Feinde der Demokratie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Gesamtkomplex vgl. Wolfgang Kraushaar, Keine falsche Toleranz! Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss, Hamburg 2022.

  2. Vgl. Claus Offe, Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge, Frankfurt/M.–New York 2003.

  3. Vgl. Dolf Sternberger, Lebende Verfassung. Studien über Koalition und Opposition (1956), Neudruck mit einer Einleitung von Steffen Augsberg, Hamburg 2022.

  4. Zur Krisendebatte vgl. den konzisen Überblick von Veith Selk, Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin 2023.

  5. Zum Kontext siehe Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 20183.

  6. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), Berlin 19968, S. 32f.

  7. Ebd., S. 34.

  8. Ebd., S. 37.

  9. Ebd., S. 47.

  10. Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: ders., Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, hrsg. von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Tübingen 2006, S. 229–237, hier S. 237.

  11. Ebd.

  12. Vgl. ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), Stuttgart 2018.

  13. Karl Loewenstein, Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Halle am 28. und 29. Oktober 1931, Berlin–Leipzig 1932, S. 192ff., hier S. 192f.

  14. Ders., Militant Democracy and Fundamental Rights (I + II), in: American Political Science Review 3/1937 u. 4/1937, S. 417–432, S. 638–658.

  15. Vgl. Thomas Mann, Achtung, Europa! (1935), in: ders., Essays, Bd. 4: Achtung, Europa!, 1933–1938, hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 1995, S. 147–160, hier S. 159.

  16. Vgl. etwa Markus Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, Tübingen 2003; Hella Mandt, Demokratie und Toleranz – Zum Verfassungsgrundsatz der streitbaren Demokratie (1977), in: dies., Politik in der Demokratie. Aufsätze zu ihrer Theorie und Ideengeschichte, Baden-Baden 1998, S. 29–56; Uwe Backes, Schutz des Staates. Von der Autokratie zur streitbaren Demokratie, Opladen 1998; Jan-Werner Müller, Militant Democracy, in: Michel Rosenfeld/András Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Oxford 2012, S. 1253–1269.

  17. Die Parallele zur Demokratiekrise der Zwischenkriegszeit wird in nahezu sämtlichen rezenten Bestandaufnahmen gezogen. Siehe Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018; Timothy Snyder, The Road to Unfreedom. Russia, Europe, America, London 2018; Steven Levitsky/Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018; Jan Zielonka, Counter-Revolution. Liberal Europe in Retreat, Oxford 2018; David Runciman, How Democracy Ends, London 2018.

  18. Joseph Goebbels, Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, München 1935, S. 61.

  19. Die Kritik an den politischen Eliten in den USA spielt eine herausgehobene Rolle in den Analysen von Levitsky/Ziblatt, Mounk und Zielonka (Anm. 17).

  20. Vgl. Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015.

  21. Vgl. Till van Rahden, Demokratie. Eine gefährdete Lebensform, Frankfurt/M.–New York 2019.

  22. Vgl. Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jens Hacke für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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vertritt derzeit die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.