Der in den revolutionären Ereignissen im Herbst 1989 nach polnischem Vorbild – und nach Forderungen der Bürgerrechtsgruppen und der neu gebildeten Parteien – ins Leben gerufene Zentrale Runde Tisch der DDR vereinte die Repräsentanten des im Zerfall befindlichen SED-Regimes mit Vertretern der Opposition.
Gleich in der ersten Sitzung am 7. Dezember 1989 einigten sich die 48 Mitglieder des Zentralen Runden Tisches deshalb darauf, „sofort“ mit der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs zu beginnen. Dafür wurde die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ mit ihren vier Untergruppen Politische Willensbildung, Menschenrechte, Staatsorganisation sowie Wirtschafts- und Eigentumsordnung gebildet. Ihre Mitglieder kamen paritätisch aus allen am Runden Tisch vertretenen Parteien, Gruppen und Organisationen.
Allerdings hatte drei Wochen zuvor, am 18. November, auch die 9. Volkskammer einstimmig beschlossen, eine „Kommission zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR“ einzusetzen.
Konkurrenzen und Restriktionen
Beide, Volkskammer wie Zentraler Runder Tisch, verfolgten damit dieselben Ziele: zum einen, eine Verfassung für eine demokratische, souveräne DDR zu entwerfen, und zum anderen, kurzfristig arbeitsfähig zu sein und verfassungsändernde Gesetze zu beschließen, mit denen sich die damals drängenden Aufgaben, etwa die Verabschiedung eines Wahlgesetzes, bewerkstelligen ließen. Für beide Gruppierungen war eine neue Verfassung außerdem Grundvoraussetzung für eine mögliche Vereinigung mit Westdeutschland.
Mühlmann unterrichtete den Zentralen Runden Tisch am Tag von dessen Konstituierung über die Existenz der Kommission und forderte ihn auf, sich an deren Arbeit zu beteiligen.
Weil es aufseiten der Oppositionsgruppen kaum Juristen oder Staatsrechtler gab – wenngleich sich durch die Erfahrungen mit der Staatsmacht und ihren Sicherheitsorganen durchaus ein eigenes Rechtsbewusstsein und Rechtsverständnis, auch im Hinblick auf Verfassungsfragen, entwickelt hatte
Neben der DDR-Verfassung von 1949 zog die Arbeitsgruppe eine ganze Reihe anderer Verfassungen zu Rate, das bundesdeutsche Grundgesetz war dabei nur eine unter vielen. Nicht zuletzt interessierte man sich für die neuen Verfassungen Spaniens und Nicaraguas, weil beide ebenfalls vor nicht allzu langer Zeit den Übergang von der Diktatur zur Demokratie bewältigt hatten.
Die AG „Neue Verfassung“ hatte geplant, bis zum April 1990 einen Entwurf vorzulegen, der nach einer breiten öffentlichen Debatte von der neugewählten Volkskammer beschlossen und dann in einem Volksentscheid noch einmal zur Bestätigung hätte vorgelegt werden sollen. Allerdings wiesen einige Teilnehmer am Runden Tisch schon zu Beginn darauf hin, dass für die Ausarbeitung einer komplett neuen Verfassung bis zu den Wahlen die Zeit zu knapp sei.
Die von den Untergruppen erarbeiteten Teilbereiche in einer finalen Version zusammenzufügen, oblag einer zehnköpfigen Redaktionsgruppe, die zwar fast täglich fieberhaft daran arbeitete, mit dem Entwurf aber bis zur Abschlusssitzung des Runden Tisches am 12. März 1990 nicht fertig wurde. Sie beantragte deshalb, weiter tagen zu dürfen, um das Ergebnis dann im April der Öffentlichkeit übergeben zu können. Zudem wollte sie an der Arbeit des Verfassungsausschusses der neu gewählten Volkskammer beteiligt werden und schlug schließlich den künftigen Abgeordneten vor, für den 17. Juni 1990 einen Volksentscheid über die neue Verfassung anzusetzen. Gerd Poppe, Sprecher und Vertreter der Initiative Frieden und Menschenrechte beim Runden Tisch, legte in dieser letzten Sitzung am 12. März noch einmal Selbstverständnis und Absichten der Gruppe dar: Der Runde Tisch sei der legitime Sachwalter des Volkes, das in der friedlichen Revolution seine Fesseln gesprengt habe und alleine berechtigt sei, eine Verfassung zu erlassen. Mit dem Entwurf wolle man Bestrebungen entgegentreten, „sich durch die Abgabe von Beitrittserklärungen einer anderen Verfassungsordnung, dem Grundgesetz der BRD, nach Artikel 23 zu unterwerfen“.
Dem Antrag verweigerten allerdings die in der AG vertretenen Mitglieder von CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und SPD ihre Zustimmung, die Liberal-Demokratische Partei (LDP) enthielt sich.
Der Entwurf, wie er schließlich am 4. April, also einen Tag vor der konstituierenden Sitzung der Volkskammer, einstimmig von der Redaktionsgruppe verabschiedet und tags drauf der Öffentlichkeit präsentiert wurde,
Verfassungsdiskussion in der 10. Volkskammer
Am 4. April übersandte die Redaktionsgruppe den Entwurf, wie von ihr angekündigt, auch an die neugewählten Volkskammerabgeordneten mit der Bitte, „sich dafür einzusetzen, daß die Volkskammer der Inkraftsetzung dieses Verfassungsentwurfs der Beschlußfassung über verfassungsändernde Einzelgesetze den Vorzug gibt“.
Die Chancen für den Runden-Tisch-Entwurf standen also von Beginn an schlecht, auch wenn seine Verfechter und Autoren mehrfach versuchten, ihn in die Debatte einzubringen. In der vom Bündnis 90 beantragten Aktuellen Stunde am 19. April warb Gerd Poppe für den Entwurf nicht allein als Sprecher von Bündnis 90, sondern ausdrücklich auch im Auftrag der AG „Neue Verfassung“ und erinnerte daran, dass an der Erarbeitung alle am Runden Tisch vertretenen Parteien beteiligt gewesen waren, weshalb auch in der Volkskammer eine Mehrheit dafür zu finden sein müsse.
Für die Gegner des Vorschlags, für die die Berichterstatterin des Verfassungsausschusses und Anwältin Brigitta-Charlotte Kögler (DA) sprach, war mit dem 18. März auch die alte Verfassung von 1974 abgewählt worden. Eine neue DDR-Verfassung auszuarbeiten, die ohnehin nur eine Übergangslösung sein konnte, hielten sie für reine Zeitverschwendung. Selbst diejenigen, die dem Entwurf größeres Wohlwollen entgegenbrachten, wie beispielsweise SPD-Fraktionschef Richard Schröder, der selbst für kurze Zeit an ihm mitgearbeitet hatte, waren skeptisch. Die von den Antragstellern geforderte öffentliche Diskussion und ein späterer Volksentscheid würden, so die Einschätzung, zu lange dauern. Angesichts des ungeheuren Zeitdrucks, unter dem der Einigungsprozess inzwischen ablief, schien das schlicht nicht praktikabel.
Entsprechend wurden am 26. April 1990 die beiden vom Bündnis 90 eingebrachten Anträge zur Inkraftsetzung einer vorläufigen DDR-Verfassung und zur Volksabstimmung über eine neue Verfassung von den Parteien der großen Koalition mit einer knappen Mehrheit von 179 zu 167 Stimmen abgelehnt und nicht einmal in den Ausschuss überwiesen. Damit war klar, dass das demokratisch gewählte Parlament den Weg einer neuen DDR-Verfassung nicht weiter verfolgen, sondern lediglich mit verfassungsändernden Gesetzen arbeiten würde, die es dann am 17. Juni mit Zweidrittelmehrheit verabschiedete – also genau an dem Datum, für das die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ ursprünglich die Volksabstimmung vorgesehen hatte.
Nach dem 3. Oktober
Mit dem 3. Oktober 1990 hatte sich der Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ aber mitnichten erledigt. Denn auch auf westdeutscher Seite hatte inzwischen eine rege und kontroverse Verfassungsdiskussion vor allem in den Printmedien und der (nicht nur) juristischen Publizistik begonnen.
Ihre Vorstellungen korrespondierten mit denen der Autoren und Unterstützer des Runden-Tisch-Entwurfs, beide Diskussionsstränge wurden so zusammengeführt und bisweilen auch von denselben Personen vertreten. Stellvertretend sei hier als eine der zentralen Figuren der Debatte der Berliner Theologe Wolfgang Ullmann genannt, 1989 Gründungsmitglied von Demokratie Jetzt, einer der Initiatoren des Zentralen Runden Tisches – wenngleich er nur zeitweise an den Sitzungen der AG „Neue Verfassung“ teilnahm –, später für das Bündnis 90 Abgeordneter in der 10. Volkskammer und einer ihrer Vizepräsidenten sowie von 1990 bis 1994 Abgeordneter des Bundestages. Er gehörte zusammen mit Rosemarie Will, Wolfgang Templin oder Ulrich K. Preuß zu denjenigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe, die schon am 16. Juni 1990, nachdem die Volkskammer die Beratung des Verfassungsentwurfs abgelehnt hatte, den außerparlamentarischen Weg beschritten und zusammen mit weiteren Akteuren aus Ost- und Westdeutschland im Reichstag in Berlin „die erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative“,
Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat
Im Einigungsvertrag selbst war dem Gesetzgeber in Artikel 5 empfohlen worden, sich innerhalb von zwei Jahren mit einigungsbedingten Änderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes zu befassen. Dies bezog sich speziell auf das Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern, die mögliche Aufnahme von Staatszielen sowie die Frage der Anwendung des Artikels 146 GG und in dessen Rahmen die Durchführung einer Volksabstimmung.
Zu diesem Zweck wurde im November 1991 eine 64 Mitglieder starke gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat eingesetzt. Das allerdings entsprach ganz und gar nicht den Vorstellungen der geistigen Mütter und Väter des Runden-Tisch-Entwurfs. Wolfgang Ullmann etwa, der für Bündnis 90 in der Kommission saß, und andere Kuratoriumsmitglieder forderten eine breite öffentliche Diskussion, die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und einen anschließenden Volksentscheid. Auch SPD und Grüne hatten ursprünglich für die Einsetzung eines Verfassungsrates plädiert, der das Grundgesetz zu einer gesamtdeutschen Verfassung weiterentwickeln sollte.
Die Resultate, die die Kommission nach zweijähriger Beratung und kontroversen Auseinandersetzungen präsentierte, empfanden viele denn auch als enttäuschend. Während die einen sich über den Erhalt des Status quo freuten – das „Grundgesetz bleibt das Grundgesetz“
Auch wenn Wolfgang Ullmann im Mai 1993 ebenso wie sein Stellvertreter Gerd Poppe die Kommission vorzeitig verlassen hatte, weil er „seine verfassungspolitischen Vorstellungen und Erwartungen in den Beratungen und Abstimmungen der Kommission nicht verwirklicht sah“
Der gescheiterte Verfassungsentwurf – eine verpasste Chance?
Was bleibt nun von diesem gescheiterten Verfassungsversuch? Der Entwurf der AG „Neue Verfassung“ des Zentralen Runden Tisches war vor allem ein Projekt der DDR-Bürgerrechtsbewegung, unterstützt von den Reformkräften der SED und später der PDS. Mit dieser Verfassung sollte die DDR der Bundesrepublik als gleichberechtigter Partner gegenübertreten können. Die CDU als Gewinnerin der Wahlen vom 18. März präferierte allerdings von Anfang an den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes und sah, wie ihre Koalitionspartner in der Volkskammer, in einer eigenen DDR-Verfassung keinen Sinn. Nach dem 3. Oktober bildete der Entwurf eine der wesentlichen Quellen für einen weiteren Versuch, mithilfe einer Bürgerinitiative eine neue gesamtdeutsche Verfassung ins Leben zu rufen, die einen Neuanfang markieren und als Symbol für die Einheit zweier gleichberechtigter Partner stehen sollte. Dieser Versuch ist nicht geglückt. Zumindest aus Sicht der Initiatoren ist damit eine einmalige Chance vertan worden. Mehrheiten konnte der Entwurf allerdings zu keiner Zeit gewinnen. Auffallend sowohl beim Entwurf selbst als auch beim Engagement der Bürgerinitiative sind die starken Vorbehalte gegen die repräsentative parlamentarische Demokratie und ihre Verfahren sowie die Präferenz für direktdemokratische Teilhabe. Darin knüpfte der Entwurf an die DDR-Verfassung von 1949 an.
Dass der Entwurf über die erste Ablehnung hinaus trotzdem über vier Jahre in der Diskussion blieb, verdankte er unter anderem dem Einsatz von Akteuren wie Gerd Poppe oder Wolfgang Ullmann, die in den unterschiedlichsten Funktionen – als Mitglieder des Zentralen Runden Tisches, als Abgeordnete von Volkskammer und Bundestag, als Mitglieder der gemeinsamen Verfassungskommission und als Mitbegründer des außerhalb des Parlaments agierenden Kuratoriums – immer wieder für seine Realisierung kämpften. Obwohl sie letztlich damit scheiterten, hat der Entwurf dennoch seine Spuren hinterlassen. Sein politisches Erbe findet sich in einigen Verfassungen der 1990 wiedergegründeten ostdeutschen Bundesländer.