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Verfassungskultur statt Leitkultur | In guter Verfassung? | bpb.de

In guter Verfassung? Editorial Alt aber nicht veraltet. Das Grundgesetz im 75. Jahr Verfassungskultur statt Leitkultur. Genutzte und ungenutzte Potenziale des Grundgesetzes Verpasste Chancen? Die gescheiterte DDR-Verfassung von 1989/90 Wehrhafte Demokratie. Vom Wesen und Wert eines schillernden Konzepts Grundrecht unter Druck. Das Recht auf Asyl in den Mühlen der Migrationspolitik Krise des globalen Konstitutionalismus

Verfassungskultur statt Leitkultur Genutzte und ungenutzte Potenziale des Grundgesetzes

Susanne Baer Nina Alizadeh Marandi

/ 16 Minuten zu lesen

Auch 75 Jahre nach seiner Verabschiedung birgt das Grundgesetz in vielen gesellschaftlichen Bereichen ungenutzte Potenziale. Zur Geltung kommen sie dann, wenn sie von demokratisch engagierten Akteuren über geeignete Verfahren und Institutionen aktiviert werden.

Das Grundgesetz ist ein Text. Am Anfang knapp und vielleicht auch gerade deshalb schön – „Die Menschenwürde ist unantastbar“ –, dann immer komplizierter und auch nicht kurz. In den vergangenen 75 Jahren ist viel geändert worden an diesem Text, und es lässt sich durchaus darüber streiten, was davon gelungen ist. Aber Verfassung ist natürlich mehr als ein gesetzlicher Rahmen. Gerade das Grundgesetz ist auch Idee und Ideal im Geist von 1949, ein „Nie wieder“ zur Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus, aber mehr noch der Zukunft zugewandt. Der Text ist damit auch ein Versprechen, das die Frage nach seinen genutzten und ungenutzten Potenzialen aufwirft.

Ausschließlich theoretisch ist diese Frage allerdings nicht zu beantworten. Verfassung ist Idee, ist systematisch auslegbarer Text, ist ein Konzept für eine lebendige Demokratie. Aber Verfassung ist auch Praxis. Welche Potenziale das Grundgesetz zur Geltung bringen kann, entscheidet sich dort: in der Rechtsanwendung, mit und durch die Mobilisierung von Recht. Sie ist Voraussetzung und Grundlage, um Wirkung über die Symbolik hinaus zu erzeugen. Inwiefern das Grundgesetz also das Potenzial hat, Herausforderungen und Krisen wirksam zu begegnen, entscheiden Institutionen, Verfahren und unterschiedliche Akteure in einem Verfassungsstaat, der noch dazu europäisch und global eingebettet ist. Drängende Herausforderungen sind derzeit etwa die Klimakrise, die zu keiner Klimakatastrophe werden soll, aber auch das momentan herrschende Meinungsklima und die damit verbundenen Krisen der Demokratie. Umtreiben müssen uns zudem soziale Ungleichheiten – mit Blick auf Geschlecht, Rassismus und Migration oder auch die Rechte von Kindern. Damit sind natürlich nicht alle Herausforderungen benannt. Es kann an ihnen aber exemplarisch gezeigt werden, welche Potenziale im Grundgesetz schlummern. Manche sind schon erschlossen worden, andere noch auszuschöpfen.

Verfassung – ein einlösbares Versprechen

Eine Verfassung ist letztlich nur so viel wert, wie sie auch sozial real wird. Sie ist nicht „bloß theoretisches Gewebe“ und darf schon gar nicht nur dekorativ bemänteln, was tatsächlich als „autokratischer Legalismus“ funktioniert. Vielmehr ist eine Verfassung ein großes – und kein leeres – Versprechen. Sie hat normative Kraft und gilt; und sie kann genutzt werden – und wirkt dann auch. Daher lässt sich eine Verfassung nicht statisch verstehen, sondern muss dynamisch betrachtet werden. Schon in der Weimarer Republik wurde sie von dem demokratischen Staatsrechtler Rudolf Smend als lebendiges Gebilde im Kontext einer sich ändernden Wirklichkeit beschrieben. Eine Gesellschaft benötigt, so später Konrad Hesse, nicht den Willen zur Macht, sondern den Willen zur Verfassung. Das ist mehr als aktuell.

Das Grundgesetz bietet uns an, uns auf diese Idee zu stützen – und nicht auf ideologisch partikulare, regelmäßig desintegrierende und ausgrenzende Ideen. Es ermöglicht uns, uns selbst zu regieren, in einem freien und gleichen Miteinander. Damit dies gelingt, werden geeignete Institutionen, Verfahren und Akteure benötigt. Zugleich muss die internationale Einbettung beachtet und genutzt werden.

Institutionen

Wenn es in Deutschland um die Verfassung geht, denken viele zuerst an Gerichte, oder genauer: an das Bundesverfassungsgericht. Tatsächlich sind unabhängige Gerichte ein unverzichtbares Element funktionierender Verfassungsstaatlichkeit, und Karlsruhe ist daher ein Schlüsselakteur lebendiger Verfassungskultur. Die Bedeutung unabhängiger Instanzen lässt sich nicht zuletzt daran ermessen, dass Gerichte häufig die ersten Institutionen eines demokratischen Systems sind, die von Autokraten angegriffen werden, wie es in Ungarn und der Türkei, in den USA, in Israel oder – vor dem jüngsten Regierungswechsel – in Polen zu beobachten war. Deshalb sind die Menschen dort für die Gerichte auf die Straße gegangen. Zugleich befinden sich diese Gerichte in höchst heikler Lage, wenn sie – wie im Dezember 2023 in Israel – sogar selbst darüber entscheiden müssen, ob eine demokratisch gewählte Legislative sie demontieren darf.

Der Blick in die Welt zeigt allerdings nicht nur, wie wichtig – und deshalb: wie gefährdet – Verfassungsgerichte sind und wie relevant ihr Schutz ist. Deutlich wird auch, dass Gerichte nicht genügen. Der demokratische Verfassungsstaat lebt von weiteren Akteuren. Besonders wichtig sind freie und tatsächlich soziale Medien. Der Wert eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks und unabhängiger Berichterstattung, die frei von staatlicher Propaganda ist, dürfte angesichts ihrer Demontage etwa in Ungarn oder Polen besonders deutlich sein. Wir benötigen Plattformen, die nicht Hetze beschleunigen, sondern Debatten ermöglichen. Hinzu kommt eine freie Wissenschaft. Auch sie wird nicht zufällig von Autokraten attackiert. Wenn also nach der Beendigung oder gar dem Verbot der Genderforschung, der Critical Race Theory oder der Holocaust Studies gerufen wird, geht es letztlich um die Demokratie insgesamt. Auch während der Corona-Pandemie und angesichts der Klimakrise wurde beziehungsweise wird Forschung ebenso denunziert wie instrumentalisiert, mit gravierenden, tragischen und teilweise tödlichen Folgen. Eine wirklich freie, kreative, kritische und damit produktive Wissenschaft wird gebraucht.

Verfahren

Neben dem Text einer Verfassung und den Institutionen, die ihn durchsetzen oder verwirklichen sollen, stehen die Verfahren, in denen und durch die eine Verfassung „mobilisiert“ werden kann. Auch hier gilt, dass die großen Versprechen eines Verfassungstextes nur dann wirksam werden können, wenn es auch Wege gibt, sie einzulösen – und zwar, im Unterschied zum Gnadenakt oder zum politischen Versprechen, auch im Konflikt und gangbar für alle. Verfassung braucht also Verfahren: Es muss die Möglichkeit geben, dass gerade jene sie mobilisieren, die sich nicht ohnehin in den politischen und gesellschaftlichen Prozessen durchsetzen und die deshalb auf das Recht angewiesen sind.

Das Verfassungsprozessrecht ist damit Teil einer Verfassungskultur. Es ist neben den Institutionen unverzichtbar, um die Potenziale einer Verfassung entfalten zu können. Deutschland steht da mit der Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde im weltweiten Vergleich gut da. Um das Potenzial des Grundgesetzes ausschöpfen zu können, darf Prozessrecht aber auch nicht als Nebensache behandelt werden. Jeder Versuch etwa, Artikel 93 Absatz 1 Nr. 4a des Grundgesetzes, die Paragrafen 90ff. des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) und die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu ändern – und solche Ideen kursieren –, sollte mit größter Aufmerksamkeit begleitet werden.

Akteure

Institutionen sind die Orte, an denen Verfassungspotenziale ausgeschöpft werden können, Verfahren sind die Wege, dies zu erreichen. Aber sie müssen auch beschritten werden. Mit der Aufgabe, den Text mit Bedeutung zu füllen und zu schützen, ihn zu aktivieren und zu verteidigen, sind viele betraut. Zwar gibt es tatsächlich keine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Doch ist das Grundgesetz darauf angelegt, dass möglichst viele an der Aktivierung der verfassungsrechtlichen Potenziale teilhaben. Dazu gehören neben professionell-sprachmächtigen Juristen und Juristinnen auch die Bürgerinnen und Bürger selbst, einzeln oder gemeinsam engagiert, sowie Verantwortliche in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft. Sie alle können vor Gericht ziehen. Die auch in Deutschland mittlerweile häufiger praktizierte strategische Prozessführung gab es zwar immer schon – wenn auch primär partikular seitens der Wirtschaft –, nun wird aber auch für Gemeinwohlanliegen prozessiert. Das ist gelebte Verfassungskultur! Da wird nicht etwa „die Justiz funktionalisiert“, sondern vor Gerichten lässt sich klären, was für alle akzeptabel und was nicht tolerabel ist. Auch Einzelne stellen in solchen Verfahren nicht selten übergreifende Fragen, die für alle relevant sind und auf die sie Antworten verdienen.

Daneben entfalten sich die Potenziale der Verfassung in weiteren Foren: in der Politik, in der Gesellschaft, in der Kultur. Gesetzgebung, Diplomatie, politischer Meinungsstreit, Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern bis hin zu Wahlen – all dies sind Momente, die mit der Philosophin Hannah Arendt als politisches Sein, als „vita activa“ beschrieben werden können. Im Anschluss an die berühmte Frage des französischen Historikers Ernest Renan von 1882, was eine Nation sei, lässt sich dies als alltägliches Plebiszit zum Grundgesetz verstehen. Dazu gehört auch eine aktive Protestkultur. Diese sollte nicht als Störfaktor begriffen werden, der zu bekämpfen wäre. Vielmehr nimmt, wer „friedlich und ohne Waffen“ (Artikel 8 Absatz 1 GG) auf die Straße geht, um politisch zu protestieren, nicht nur Grundrechte in Anspruch – schöpft also ein Potenzial der Verfassung aus –, sondern lebt demokratisches Miteinander. Auch und gerade solches Engagement schwächt Politik nicht, sondern stärkt Demokratie.

Internationale Einbettung

Verfassungen sind zwar zutiefst nationale Angelegenheiten, können aber nur international eingebettet verstanden werden. Das gilt insbesondere für den internationalen Menschenrechtsschutz. Das Grundgesetz hat sich in seiner Präambel und in Artikel 1 Absatz 2 prominent „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ bekannt. Das Bundesverfassungsgericht behandelt die in Deutschland ratifizierten Regelwerke des Europarates und der Vereinten Nationen auch deshalb schon lange als Auslegungshilfen zum Grundgesetz. Und hier gibt es durchaus unausgeschöpftes Potenzial: Die Konvention gegen rassistische Diskriminierung (ICERD), die Frauenrechtskonvention (CEDAW), die Kinderrechtskonvention (UN-KRK) oder die Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) liefern ebenso wie die Europäische Sozialcharta (ESC) noch viel Stoff, um auch künftigen Konflikten angemessen zu begegnen.

(Un-)Genutzte Potenziale

Was bietet die Verfassung – im Einklang mit den internationalen Regelwerken – aber nun konkret an? Die Zahl der Fälle ist unüberschaubar, doch lässt sich für einige Lebensbereiche zumindest illustrieren, inwiefern das Grundgesetz unter der Prämisse gelebter Verfassungskultur Werkzeuge bereitstellt, um Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gut ausgestattet zu begegnen.

Klima

Eine aktuelle und schmerzhaft existenzielle globale Herausforderung ist sicherlich der Klimawandel mit all den Katastrophen, die potenziell von ihm ausgehen. Hat das Grundgesetz genügend Potenzial, um auf diese durch „Fortschritt“ beschleunigte Entwicklung zu antworten, welche die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht haben voraussehen können? Mit Artikel 20a wurde das Grundgesetz schon 1994 textlich nachgebessert. Und auch der Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass im Grundgesetz auch unter existenziell veränderten Bedingungen das Potenzial steckt, solchen Krisen zu begegnen. Ein Baustein ist die lange Auseinandersetzung im Beschluss mit den Tatsachen und die Klärung, was als Wissenschaft verlässlich ist. Dazu kommt die Klarstellung zu Artikel 20a GG: Der Staat muss „in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ schützen. Das ist Staatsziel – der Verfassungsstaat ist auch ein ökologischer – und ergänzt die grundrechtlich durchsetzbare Pflicht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schließlich wird auch das ganz grundlegende Grundrecht auf persönliche Freiheit aktiviert und erzeugt eine „intertemporale“ Rechtfertigungslast. Wer heute irreversible CO2-Emissionen verantwortet, nimmt Menschen morgen ihre Freiheit. Das wiederum ist nur zu rechtfertigen, wenn wichtige Ziele auf verhältnismäßige Art und Weise verfolgt werden. So rahmt das Grundgesetz den Klimaschutz.

Das ist auch kein nationaler Alleingang, wie verschiedentlich behauptet wird. Globale Herausforderungen verlangen eine Perspektive, die über den Nationalstaat hinausreicht. So war es Beschwerdeführenden aus Nepal und Bangladesch möglich, in Karlsruhe die Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Heimat und Lebensgrundlagen zumindest geltend zu machen. Zudem ist die Entscheidung in das Pariser Klimaschutzabkommen und die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen eingebettet.

Das gelang nur, weil Akteure bereit waren, Institutionen und Verfahren zu nutzen und in dieser Frage die Potenziale der Verfassung auszuschöpfen. Klar: „Karlsruhe“ hat entschieden. Aber ein Gericht antwortet nur; es handelt nicht von selbst. Aktiv geworden ist vielmehr eine (junge) Zivilgesellschaft, die angesichts der strukturellen Kurzsichtigkeit von in Legislaturperioden denkenden politischen Akteuren eine geradezu zwingende Ergänzung zu Parlamenten ist. Gesellschaftlich Engagierte nutzen unterschiedliche, im Grundgesetz geschützte Formen der politischen Partizipation, um politisch Verantwortliche zu bewegen. Sie nehmen so, entgegen allzu häufiger Diffamierung, eine Schlüsselrolle in der Demokratie ein.

Hinzu kommt eine individuelle Dimension der Verantwortung für unsere Umwelt. Das Grundgesetz kennt aus guten Gründen keine Pflichtenkataloge. Aber es situiert die Freiheit von Anfang an sozial. Die Klimakrise fordert dazu auf, mit dem Grundgesetz unser Verständnis von Freiheit genau zu reflektieren. Denn dort ist keine grenzenlose Selbstverwirklichung geschützt und kein entgrenzter Egoismus, der unausweichlich die Freiheit anderer verkürzt. Das Potenzial der Verfassung liegt vielmehr in einer miteinander geteilten Welt.

Meinungsklima und Demokratie

Wir erleben derzeit nicht nur eine Klimakrise, sondern auch eine Krise des Meinungsklimas. Viele Menschen haben den Eindruck, nicht mehr frei sprechen zu dürfen; Debatten polarisieren oder werden gar nicht erst geführt. Auch im Umgang mit der Meinungsfreiheit zeigt sich unsere Ge- und Verbundenheit: Nicht nur ihr Schutz, sondern auch ihre Grenzen sind wichtig. Das gilt nicht erst in Zeiten der Meinungskämpfe um Worte und Sprache – von woke bis hate. Es gilt schon lange für die in Deutschland strafbare Auschwitzlüge oder für Demonstrationen wie jene in Wunsiedel, die an den Geburtstag des Nazis Rudolf Heß erinnern sollten. Insbesondere die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts schützt das Grundgesetz als Gegenentwurf zum Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes ausdrücklich nicht.

Unabhängig davon wurde das Versprechen des Grundgesetzes zur Meinungsfreiheit von Anfang an als „schlechthin konstituierend“ für die Demokratie verstanden, wie es in der Leitentscheidung zum Fall von Erich Lüth heißt, dem Karlsruhe 1958 erlaubte, zum Boykott eines Films des ehemaligen NS-Propagandaregisseurs Veit Harlan aufzurufen. Seitdem wird um die Grenzen dieses Grundrechts gerungen. Jüngst erklärte das Gericht, dass Politikerinnen in sozialen Medien nicht ungebremst beschimpft werden dürfen – auch, weil sich sonst irgendwann niemand mehr engagieren werde. Und schon seit Langem ist klargestellt, dass Lügen verfassungsrechtlich nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind; das scheint in „postfaktischen“ Zeiten wichtiger denn je.

Sexismus

So gut das Grundgesetz im Meinungskampf aufgestellt ist, so ermüdend wie deutlich sind seine unausgeschöpften Potenziale in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse, genauer: in Bezug auf Sexismus. Die Mütter des Grundgesetzes haben darum gekämpft, unterstützt von Postkarten aus dem ganzen Land, den Grundsatz der Gleichberechtigung in die Verfassung aufzunehmen. Sie setzten sich durch: „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“, heißt es in Artikel 3 Absatz 2 GG. Dieser Gleichberechtigungsgrundsatz wurde in der Folgezeit engagiert mobilisiert, über die Gerichte und in den Parlamenten. Und es konnten durchaus Erfolge erzielt werden: So fiel etwa das Letztentscheidungsrecht des Mannes in der Ehe, sein Recht, ein Dienstverhältnis seiner Frau fristlos zu kündigen; beseitigt wurde auch das Leitbild der Hausfrauenehe. 1996 stellte der Bundestag die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe. Viel wurde erreicht, aber es fehlt auch noch viel.

Die reproduktive Gerechtigkeit etwa leidet nach wie vor unter dem strafrechtlichen Abtreibungsverbot des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch (StGB). Im Sexualstrafrecht wurde zwar der Grundsatz „Nein heißt Nein“ in Paragraf 177 StGB aufgenommen, doch wirklich umgesetzt ist das so noch nicht. Das Paradebeispiel für unausgeschöpfte Potenziale der Gleichberechtigung ist aber sicher die anhaltend peinliche, auch völker- und europarechtswidrige Lohndiskriminierung. In Deutschland besteht ausweislich der Daten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zwischen Männern und Frauen eine Entgeltlücke von 18 Prozent; bei gleicher Qualifikation verdienen Frauen im Schnitt 6 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Der Gesetzgeber reagiert darauf sehenden Auges ineffektiv. Gefragt sind also wieder engagierte Akteure, die konkrete Fälle vor Gericht bringen. Im Fall einer Reporterin, die für gleichwertige Arbeit weit weniger verdiente als ihre männlichen Kollegen, nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde zwar aus formalen Gründen nicht zur Entscheidung an, erklärte aber, dass sie materiell Aussicht auf Erfolg hätte. Das Bundesarbeitsgericht entschied dann, dass eine Diskriminierung zu vermuten sei, wenn trotz gleicher Arbeit eine Lohndisparität besteht.

Es bleibt also etwas zu tun. Die Verfassung hat ausdrücklich das Potenzial, hier für Verbesserungen zu sorgen. Artikel 3 Absatz 2 GG verspricht seit 1994 „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen“ und die „Beseitigung aller Nachteile“. Die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) sowie die Istanbul-Konvention des Europarates sind hingegen noch allzu oft schlafende Schönheiten, deren Potenziale noch auszuschöpfen sind.

Rassismus und Migration

Sexismus ist nicht die einzige Ungleichheit, die uns weiter beschäftigen sollte. In den vergangenen Jahren sind zum Beispiel auch die durch Rassismus hervorgerufenen Ungleichheiten stärker ins Bewusstsein getreten. Ausdrücklich untersagt Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes seit 1948, eine Person wegen ihrer „Rasse“ zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Zudem wendet sich die Menschenwürdegarantie nach Artikel 1 Absatz 1 GG als „oberster und zentraler Wert der Verfassung“ gegen diese Ungleichheit. Sie ist verletzt, wenn die prinzipielle Gleichheit der Menschen in Abrede gestellt wird, völlig unabhängig von den Motiven. In der Rechtsprechung hieß es schon früh, dass jeder Mensch „als gleichberechtigtes Mitglied mit Eigenwert anerkannt werden“ müsse. Auch das gehört zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. So beeinflusst Antirassismus auch die wehrhafte Demokratie, denn er spielt für das Instrument des Vereinigungsverbots in Artikel 9 Absatz 2 GG oder das Parteiverbot in Artikel 21 Absatz 2 GG eine Rolle. Auch international gilt das Verbot rassistischer Diskriminierung, etwa nach Artikel 21 der EU-Grundrechtecharta, Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder dem UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (ICERD). Nur zeigt auch hier ein Blick auf die deutsche Realität: Es ist noch mehr zu tun.

Gerichte allein werden diesen Herausforderungen trotz deutlicher Worte nicht begegnen können. Die großen Versprechen der Verfassung, vor Ungleichbehandlungen aller Art zu schützen, benötigen bessere Institutionen und Verfahren sowie aktive Akteure, idealerweise eingebettet in einen internationalen Konsens. Insbesondere, aber nicht nur der Gesetzgeber ist hier gefordert – national, europäisch und weltweit. Die komplizierten Fragen einer menschenrechtsbasierten Migrationspolitik, aber auch die schwierigen Konflikte im Gesundheitswesen oder am Wohnungsmarkt, in Verwaltung und Polizei oder im Arbeitsleben lassen sich angehen, wenn das Potenzial des Grundgesetzes aktiv genutzt wird.

Kinderrechte

Wie steht es schließlich um das Potenzial des Grundgesetzes, Kinder und ihre Rechte zu berücksichtigen? Immer wieder wird diskutiert, ob spezifische Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden sollten. Bei genauerer Betrachtung ist dies nicht erforderlich. So hat das Bundesverfassungsgericht schon 2010 klargestellt, dass Kinder nicht einfach als „kleine Erwachsene“ zu sehen, sondern etwa bei Sozialleistungen eigenständig zu beachten sind. Anlässlich der Schulschließungen während der Covid-19-Pandemie hat es betont, dass diese nur in engen Grenzen zu rechtfertigen sind, weil Kinder nicht nur ein Recht auf Gleichbehandlung haben – wie bei der sogenannten Sukzessivadoption oder bei Stiefkindern –, sondern weitere eigene Rechte, etwa auf „staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung“ und auch auf Bildung. Auch der Klimaschutzbeschluss fokussiert mit der „intertemporalen Freiheit“ auf Kinder. Kinder sind also schon heute besonders geschützt.

Dabei ist Deutschland in guter Gesellschaft. Mit der UN-Kinderrechtskonvention kann das Potenzial sicher noch weiter entfaltet werden, denn Artikel 4 der Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten und damit auch Deutschland, weitere Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte zu ergreifen. Das ist bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen; auch in vielen Landesverfassungen sind Kinderrechte ausdrücklich normiert. Auch hier können und müssen die Potenziale der Verfassung immer wieder neu mobilisiert, genutzt und ausgeschöpft werden. Verfassungskultur lebt eben nicht vom Text und auch nicht von Gerichtsentscheidungen allein, sondern vom Verständnis und Willen aller Akteure, Rechte auch zur Geltung zu bringen.

Verfassungskultur

Das Grundgesetz ist ein wunderbarer Text. Dieser soll und kann gelebt werden. Doch es fällt auf, dass beispielsweise Diskriminierungsverbote lange nicht mobilisiert wurden und heute sogar auf neue Widerstände stoßen. Auch fällt auf, dass beispielsweise das Engagement zum Schutz unserer Umwelt nicht nur begrüßt, sondern immer wieder infrage gestellt wird. Zugleich häufen sich alarmierende Berichte über rechtspopulistische Hetze gegen Migrantinnen und Migranten und das weltweite Wiederaufflammen eines national-ethnischen Patriotismus. Zugleich soll eine „Leitkultur“ revitalisiert werden, ohne dass die ideologisch einseitigen, derzeit insbesondere rassistischen Risiken, die damit einhergehen, bewältigt wären. Schon früh haben Konservative angemerkt, dass eine „Leitkultur“ lediglich abbildet, was die sogenannte Mehrheitsgesellschaft ausmacht, an der sich dann alle zu orientieren und der sie sich anzugleichen haben. CDU-Politiker wie Heiner Geißler verurteilten den Begriff denn auch als „überflüssig und gefährlich“; er forderte stattdessen: Verfassungskultur. Eine Orientierung am Grundgesetz wäre tatsächlich offener – und näher liegt sie auch.

Angesichts der vielen derzeitigen Krisen erscheint es dringend, die Frage zu klären, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Hier hat unsere Verfassung ihr vielleicht größtes Potenzial: als gemeinsamer Bezug, als Angebot zur Identifikation, als Orientierung auch in Kontroversen. Wenn wir das ernst nehmen, müssen wir nicht erfinden, was uns „leitet“. Das Grundgesetz macht auch nach 75 Jahren ein gutes Angebot; manche haben es „Verfassungspatriotismus“ genannt. Für Dolf Sternberger sollte dieser noch neben einen nationalen Patriotismus treten, für Jürgen Habermas ist er „der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet“. Heute kann die in Europa und die Welt eingebettete Verfassung als hinreichendes Bekenntnis zum Eigenen verstanden werden, zu dem, was unsere Gesellschaft im Unterschied zu anderen und zugleich im Konzert mit ihnen ausmacht und zusammenhält. Das Grundgesetz als zutiefst liberale Verfassung ist dabei getragen vom Geist des gleichen Respekts, der Gleichberechtigung.

Tatsächlich ist Verfassungskultur damit auch fordernd. Das Grundgesetz verspricht Freiheit, aber keine rücksichtslose Selbstverwirklichung; Schutz, aber keine Privilegien; Gleichheit, aber keine Gleichmacherei; Würde, aber wirklich für alle. Für eine solche Verfassung muss auch heute gekämpft werden. Das Grundgesetz sieht das selbst vor: Demokratischer Protest, Streit und Streik, auch Rechtsschutz – im Rahmen des Grundgesetzes darf Kontroverse sein. Notfalls müssen die Instrumente der wehrhaften Demokratie hinzutreten. Dann erst entfalten sich auch alle verfassungsrechtlichen Potenziale.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. 11, Berlin 1903, S. 99.

  2. Kim Lane Scheppele, Autocratic Legalism, in: University of Chicago Law Review 2/2018, S. 545–584, hier S. 545.

  3. Vgl. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928.

  4. Vgl. Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen 1958. Ausführlich dazu auch Julian Krüper/Mehrdad Payandeh/Heiko Sauer (Hrsg.), Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, Tübingen 2019.

  5. Mehr dazu bei Susanne Baer, Who Cares? A Defence of Judicial Review, in: Journal of the British Academy 8/2020, S. 75–104.

  6. Zum Hintergrund siehe z.B. Lidia Averbukh, Israels Staatsumbau, 13.3.2023, Externer Link: https://verfassungsblog.de/israels-staatsumbau; zur Entscheidung siehe Aeyal Gross, Did the Israeli Supreme Court Kill the Constitutional Coup?, 9.1.2024, Externer Link: https://verfassungsblog.de/did-the-israeli-supreme-court-kill-the-constitutional-coup .

  7. In Brasilien starben mangels staatlicher Schutzmaßnahmen unter einem Präsidenten, der das Virus bagatellisierte, über 700000 Menschen. Vgl. Externer Link: http://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/brasilien.

  8. Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzeitung 10/1975, S. 297–305.

  9. Vgl. Hannah Arendt, Persönliche Verantwortung in der Diktatur, in: Eike Geisel/Klaus Bittermann (Hrsg.), Israel, Palästina und der Antisemitismus, Berlin 1991, S. 7–38, hier S. 24.

  10. „Die Nation (…) setzt eine Vergangenheit voraus und lässt sich dennoch in der Gegenwart durch ein greifbares Faktum zusammenfassen: die Zufriedenheit und den klar ausgedrückten Willen, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Die Existenz einer Nation ist (man verzeihe mir diese Metapher) ein tägliches Plebiszit, wie die Existenz des Individuums eine ständige Bekräftigung des Lebens ist.“ Vgl. Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne, Hamburg 1996, S. 7ff.

  11. Vgl. dazu Samira Akbarian, Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation, Tübingen 2023.

  12. Siehe z.B. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 111, 307, Rn. 32 (Görgülü).

  13. Vgl. BVerfGE 159, 355, Rn. 67ff. (Schulschließungen).

  14. Vgl. BVerfGE 160, 79, Rn. 100ff. (Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderung in der Triage).

  15. Vgl. BVerfGE 157, 30 (Klimaschutz). Entscheidungen zu Umweltfragen gibt es seit Langem, unter anderem zu Straßen- und Fluglärm, Chemiewaffen, zum Ozongesetz, zum Nichtraucherschutz, zur Gentechnik oder zum Atomausstieg. In jüngerer Zeit musste zum Beispiel über die Nutzung von Windenergie auf See und im Wald beziehungsweise in Gemeinden entschieden werden.

  16. Vgl. ebd., Rn. 16–37.

  17. Vgl. ebd., Rn. 122, Rn. 183.

  18. Vgl. ebd., Rn. 173ff.

  19. Vgl. ebd., Rn. 199ff.

  20. Siehe z.B. BVerfGE 152, 68, Rn. 123 (Sanktionen im Sozialrecht).

  21. Schon seit BVerfGE 4, 7 (Investitionshilfegesetz) heißt es, dass das Grundgesetz Freiheit nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen Individuums versteht, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen.

  22. Vgl. BVerfGE 124, 300, Rn. 47ff., Rn. 65 (Wunsiedel).

  23. Vgl. BVerfGE 7, 198, Rn. 31 (Lüth).

  24. Vgl. BVerfG, 1 BvR 1073/20, 19.12.2021, Rn. 40ff. (Künast).

  25. Weiter ausgreifend Anna-Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, Tübingen 2021.

  26. Vgl. BVerfG, 1 BvR 75/20, Rn. 12 (ZDF).

  27. Vgl. BAG, 8 AZR 450/21 vom 16.2.2023.

  28. Vgl. BVerfGE 144, 20, Rn. 635 (NPD-Verbot).

  29. Vgl. BVerfGE 45, 187, Rn. 142 (Lebenslange Freiheitsstrafe).

  30. Vgl. BVerfGE 144, 20 (Anm. 28), Rn. 663.

  31. Vgl. BVerfGE 149, 160, Rn. 99ff. (Vereinigungsverbote).

  32. Vgl. BVerfG, 1 BvR 2727/19, Rn. 11ff. (Ugah Ugah).

  33. Vgl. BVerfGE 125, 175, Rn. 191 (Hartz IV).

  34. Vgl. BVerfGE 133, 59, Rn. 71 (Sukzessivadoption).

  35. Vgl. BVerfGE 151, 101, Rn. 20ff. (Stiefkinder).

  36. Vgl. BVerfGE 159, 355 (Anm. 13), Rn. 41.

  37. Vgl. Josef Isensee, Plädoyer für eine Kultur der Gemeinschaft, in: Die Politische Meinung 440/2006, S. 6–14.

  38. Vgl. Überflüssig und Gefährlich, 2.11.2000, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/a-100907.html. Die „deutsche Leitkultur“ war Kandidat für das Unwort des Jahres 2000, in schlechter Gesellschaft mit der „national befreiten Zone“ und anderen Termini, die „sachlich unangemessen und gegebenenfalls sogar beleidigend oder inhuman“ sind. Vgl. „Deutsche Leitkultur“ ist Favorit, 28.12.2000, Externer Link: http://www.spiegel.de/panorama/a-109748.html.

  39. Vgl. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 23.5.1979.

  40. Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/M. 1986, S. 75.

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ist Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin und war zwischen 2011 und 2023 Richterin im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin.