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"Wir sind nur Menschen zweiter Klasse" | Infrastruktur | bpb.de

Infrastruktur Editorial Warum es der Politik schwerfällt, für gute Infrastruktur zu sorgen Hohe Nachhol- und Zusatzbedarfe. Von Investitionslücken, regionalen Unterschieden und statistischen Tücken Nie geradlinig. Infrastrukturgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert Innovation und Investition statt Lockerung der Schuldenbremse Von Schuldenregeln und Schuldenbremsen. Wie Deutschland seine Zukunft aufs Spiel setzt Gebraucht, aber gehasst. Infrastrukturen der industriellen Transformation "Wir sind nur Menschen zweiter Klasse". Vom Abbau der Daseinsvorsorge und Aufstieg des Rechtspopulismus

"Wir sind nur Menschen zweiter Klasse" Vom Abbau der Daseinsvorsorge und Aufstieg des Rechtspopulismus

Larissa Deppisch

/ 14 Minuten zu lesen

Die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland in ländlichen Räumen werden immer wieder auf die Unzufriedenheiten der Menschen mit dem Abbau von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge zurückgeführt. Was ist dran an diesem Erklärungsmuster?

„Wo sich Menschen auf dem Land abgehängt fühlen, hat der Populismus freie Bahn“, so lautete eine zentrale These in deutschen Medien zum Aufstieg der AfD Mitte der 2010er Jahre. Auch international wird die Zustimmung zu rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen mit ländlichen Räumen in Verbindung gebracht. Dies wird als „Rache der abgehängten Orte“ gedeutet, deren Bewohner ihren Unmut über schlechte sozioökonomische Verhältnisse und den Abbau von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge an der Wahlurne ausdrücken würden. Was ist dran an diesem Erklärungsmuster? Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen.

Infrastruktur und Daseinsvorsorge

Der Begriff „Infrastruktur“ stammt aus dem militärischen Sprachgebrauch. Heute umfasst er jedoch nicht nur Dinge oder Orte wie beispielsweise Luftwaffenstützpunkte, sondern hat sich auf den zivilen Bereich ausgeweitet – von Systemen der Trinkwasser- und Energieversorgung über Verkehrs- und Telekommunikationssysteme bis hin zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Als Infrastruktur gelten heute allgemein alle menschengemachten Systeme, die die Funktion der (kontinuierlichen) Versorgung mit Waren oder Dienstleistungen erfüllen. Diese Systeme sind soziotechnischer Natur, das heißt, sie bestehen nicht nur aus materiell-technischen Elementen – auch kommunikativ vermitteltes Hintergrundwissen, Organisationen oder gesellschaftliche Akzeptanz und Zugänglichkeit sind elementare Bestandteile von Infrastrukturen.

Infrastrukturen prägen unser Dasein zentral. Ohne die vom Menschen gebaute infrastrukturelle Umwelt wäre das Leben in unserer modernen Gesellschaft nicht möglich. Infrastrukturen schützen uns vor Einflüssen der „natürlichen“ Umwelt, die uns unbequem oder gar gefährlich werden können. Beispiele dafür sind Gebäude und Heizsysteme, die uns im Winter vor Kälte schützen. Infrastrukturen machen aber auch Eigenschaften der natürlichen Umwelt nutzbar. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise Systeme zur nachhaltigen Energieversorgung, die Sonne oder Wind nutzen. Infrastrukturen eröffnen dem modernen Menschen also eine Reihe von Möglichkeiten, schränken ihn aber auch ein. Straßen ermöglichen uns eine schnelle Fortbewegung mit dem Auto, aber nur selten verlassen wir die vorgegebenen Wege, um uns dem zu stellen, was wir in der (gefühlten) Abwesenheit von Infrastruktur „Natur“ nennen. Kommunikationssysteme, das Elektrizitätsnetz oder Bildungseinrichtungen bieten dem Menschen vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten, gleichzeitig steuern die diesen Infrastrukturen innewohnenden Regulatoren wie Gesetze, Bürokratie oder Werbung unser Verhalten. Der Platz, den das Individuum in jenem technischen System einnimmt, prägt seine gelebte Realität, seine Präferenzen, seine Weltanschauung.

Diese umfassende Relevanz von Infrastrukturen für jeden noch so kleinen Moment unseres Alltags und unseres modernen Daseins ist uns jedoch in der Regel nicht explizit bewusst. Denn in den westlichen Industrienationen können wir uns meist darauf verlassen, dass die Infrastrukturen ihre Funktion erfüllen. Wenngleich Infrastrukturen stets für eine fundamentale Stabilität unserer Existenz sorgen, treten sie in unserem Alltag gedanklich in den Hintergrund. Wer macht sich schon aktiv Gedanken darüber, wo Wasser- und Stromleitungen verlaufen? Wer kennt die Wege, die ein Apfel vom Baum über die Logistikzentren in den Supermarkt und dessen weggeworfenes Gehäuse zurücklegt, nachdem es seinen Platz im Biomüll gefunden hat? Erst wenn Infrastrukturen versagen, rücken sie in unser Bewusstsein – als elementare Krisenerfahrung. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Hochwasserkatastrophe 2021 im Ahrtal, die Versäumnisse bei der Modernisierung und Instandhaltung von Schutzanlagen sowie unzureichende Warnsysteme offenbarte. Auch die Mahnungen zum sparsamen Gasverbrauch im Winter 2022/23 vor dem Hintergrund der Unterbrechung des Gastransits im Zuge des Ukrainekrieges und der steigenden Energiepreise haben auch die Wege und geopolitischen Umstände dieser Infrastruktur in das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gerückt.

Um sich vor diesen Erfahrungen zu schützen und die Stabilität des Systems und der Versorgung zu garantieren, wird in Deutschland ein ausgewählter Teil der Infrastruktur unter dem Begriff „Daseinsvorsorge“ zusammengefasst. Darunter fallen alle Infrastrukturen, die von besonderem öffentlichen Interesse sind. Ein besonderes öffentliches Interesse liegt dann vor, wenn die Infrastruktur notwendig ist, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können und Lebenschancen zu verwirklichen. In der Regel werden Infrastrukturen aus den Bereichen Medizin, Wasserversorgung, Telekommunikation und Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) dazugezählt. Darüber hinaus gibt es auch Stimmen, die sich dafür aussprechen, Räume der Begegnung und Mitgestaltung, sogenannte soziale Orte, zur Daseinsvorsorge zu zählen. Es gibt keine explizite Liste von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge. Was zur Daseinsvorsorge gehört, ist somit eine Frage politischer Aushandlung.

Verantwortlichkeit des Staates

Mit der Stellung als Infrastruktur der Daseinsvorsorge geht in Deutschland eine besondere politische Verantwortung einher. So verpflichtet das Raumordnungsgesetz (ROG) den Staat, eine nachhaltige Daseinsvorsorge zu sichern. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um eine urbane oder ländliche Region handelt. Auch die wirtschaftliche Situation der Region ist für dieses Versprechen unerheblich. Es sind vielmehr „ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben“ (Paragraf 2 ROG). Die Erreichbarkeit von Strukturen der Daseinsvorsorge ist nach dem ROG explizit für alle Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten. Damit soll auch über die räumlichen Strukturen Chancengleichheit in den Möglichkeiten der Lebensgestaltung hergestellt werden. Die Herstellung dieser Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist schließlich auch im Grundgesetz (Artikel 72 Absatz 2) verankert.

Inwieweit der Staat dieses Versprechen einlöst, ist umstritten. Denn etwa seit den 1990er Jahren privatisiert der Staat vor dem Hintergrund einer Sparpolitik den Aufbau und Erhalt von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge. Dies nahm verschiedene Formen an: So gingen zum einen Leistungen der öffentlichen Hand gänzlich in privatrechtlich organisierte Unternehmen über, so etwa bei Post, Telekommunikation und Bahn. Zum anderen wurden verschiedene Modelle öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP) umgesetzt. Bei ÖPP schließen Staat und Unternehmen einen Vertrag mit einer Laufzeit von in der Regel 20 bis 30 Jahren. Das Unternehmen verpflichtet sich, die Infrastrukturleistung zu erbringen, und erhält dafür Einnahmen durch Nutzungsgebühren.

Befürworter und Befürworterinnen dieser Entwicklung argumentieren, dass privatwirtschaftliche Unternehmen effizienter wirtschaften würden als der Staat. Die Privatisierung der Telekommunikationswirtschaft wird dabei als Erfolg angeführt. Auch könne nicht davon ausgegangen werden, dass Politikerinnen und Politiker immer im Sinne einer nachhaltigen Daseinsvorsorge entscheiden. Denn neben Lobbyeinflüssen könnte auch die Tatsache, dass die Früchte gemeinwohlorientierter Infrastrukturinvestitionen erst in ferner Zukunft geerntet werden, die Schulden dafür aber jetzt anfallen, dem kurzfristigen Interesse am Machterhalt durch Wiederwahl entgegenstehen. Hinzu kommt, dass bei Missmanagement der Politik die Staatskasse einspringt, während bei Familienunternehmerinnen oder Aktionären direkte Auswirkungen auf das eigene Vermögen und damit Effizienzanreize bestehen.

Die Kritik des Privatisierungsansatzes hält dem entgegen, dass der Staat sogar so effizient wirtschaften könne, dass Einrichtungen der Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand auch Staatseinnahmen generieren könnten. Auch die günstigeren Kredite, die der Bund aufnehmen kann, bringen finanzielle Vorteile. Die Effizienzversprechen der Privatisierung würden hingegen nicht eingelöst, wie etwa der Bau von Bundesfernstraßen zeige. Zudem verlieren die Bürgerinnen und Bürger Einflussmöglichkeiten über ihre demokratisch gewählten Repräsentanten. Denn die Entscheidungsgewalt würde nun in den Händen der unternehmerischen Führungsetage liegen. Als weiteres Argument wird angeführt, dass börsennotierte Unternehmen eher kurzfristige Rentabilitätsinteressen verfolgen als die langfristige Stabilität der Infrastruktur. Dieser Rentabilitätsdruck führe letztlich dazu, dass – ohne staatliche Subventionen – Infrastrukturleistungen in unprofitablen Gebieten nicht mehr erbracht würden.

Besonders betroffen sind dünn besiedelte, ländliche Räume mit einer schlechten ökonomischen Situation. Hier sind Nachfrage und Kaufkraft besonders gering. Auch bereits privatwirtschaftlich betriebene Infrastrukturen sind von Schließungen betroffen. Neben staatlichem Handeln ist auch das Einkaufsverhalten der lokalen Bevölkerung für das Überleben von Einrichtungen der Daseinsvorsorge relevant. Wenn auf dem Heimweg von der Arbeit im Discounter außerhalb eingekauft wird und nicht im Dorfladen vor Ort, verliert Letzterer weitere mögliche Einnahmen. Die Verantwortung für den Abbau von Infrastruktur liegt also nicht nur beim Staat, sondern auch bei der Bevölkerung. Erreichbarkeitsanalysen zeigen jedoch, dass in den meisten Regionen Deutschlands Supermärkte und Discounter mit dem Auto innerhalb von 10 bis 15 Minuten erreichbar sind (Abbildung 1). Zu Fuß sind außerhalb der urbanen Zentren dagegen 15 bis über 30 Minuten erforderlich. Deutlich wird die hohe Abhängigkeit von individueller Automobilität, zumal der ÖPNV in ländlichen Räumen nur schwach frequentiert ist. Gerade armutsbetroffene Menschen, die sich Automobilität nicht ohne Weiteres leisten können, stehen in ländlichen Räumen vor besonderen Herausforderungen der Versorgung.

(© BKG/GeoBasis-DE 2017; Bearbeitung durch Thünen-Institut 2024 (Anna Augstein))

Politische Folgen des Daseinsvorsorgeabbaus

Die infrastrukturelle Entwicklung ist insgesamt vor dem Hintergrund des politischen Versprechens der Daseinsvorsorge zu sehen. Deshalb kann die Wahrnehmung der infrastrukturellen Situation auch mit einer Bewertung der Leistung des Staates einhergehen. Um die Regierungsparteien abzustrafen, kann sich, so die These, Unzufriedenheit mit Infrastrukturabbau auch in der Wahl der AfD ausdrücken. Auch die Hoffnung, dass die AfD für infrastrukturelle Verbesserungen sorgen wird, kann ein Wahlmotiv sein. So kritisiert die rechtspopulistische Partei, die regierenden Parteien hätten es versäumt, ländliche Räume effektiv zu fördern. Sie selbst verspricht in ihrem Grundsatzprogramm, ländliche Räume zu stärken, indem sie den Zuzug junger Familien fördert und die Infrastruktur der Daseinsvorsorge wie medizinische Versorgung, Schulen und schnelle Internetverbindung gewährleistet. Ob dieser theoretische Erklärungsansatz zutrifft, wird im Folgenden mithilfe von Wahl- und Strukturdaten sowie den Ergebnissen Gruppendiskussionen in ländlichen Räumen beleuchtet.

(© BKG/GeoBasis-DE 2020)

Die Karte zeigt das Zweitstimmenergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2021 in Kombination mit der sozioökonomischen Lage der ländlichen Räume (Abbildung 2). Als ländliche Räume gelten nach der Thünen-Typologie Kreise mit tendenziell höherer Siedlungsdichte, einem höheren Anteil an land- und forstwirtschaftlicher Fläche sowie an Ein- und Zweifamilienhäusern, einem höheren regionalen Bevölkerungspotenzial (Personen im Einzugsgebiet) und einer guten Erreichbarkeit größerer Zentren. Ländliche Räume haben eine gute sozioökonomische Lage, wenn sie tendenziell eine geringere Arbeitslosenquote, höhere Bruttolöhne der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten, ein höheres Medianeinkommen der privaten Haushalte, eine höhere kommunale Steuerkraft sowie einen positiven Wanderungssaldo der 18- bis 29-Jährigen, einen geringeren Wohnungsleerstand, eine höhere Lebenserwartung und wenig Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss aufweisen. Es ist davon auszugehen, dass in sozioökonomisch schwächeren Räumen eher ein Abbau von Daseinsvorsorge stattfindet. Es liegen jedoch keine Daten zur langfristigen Entwicklung von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge vor, sodass der Abbau nicht verifiziert werden kann. Im Folgenden werden urbane Räume nicht berücksichtigt, da dort die Erreichbarkeit zu Fuß und mit dem Auto gegeben ist. Schließlich werden die Regionen nach dem Zweitstimmenergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2021 unterschieden. Aus der Kombination der Wahl- und Struktureigenschaften ergeben sich vier Typen.

In den Kreisen, die durch eine weniger gute sozioökonomische Lage und überdurchschnittliche AfD-Ergebnisse gekennzeichnet sind, wird in den Gruppendiskussionen häufig der Abbau der Daseinsvorsorge thematisiert. Die Teilnehmenden erinnern sich: Auch in kleinen Orten habe es früher einen Bäcker, einen Metzger, einen Dorfladen, eine Kneipe gegeben. Heute fehlen selbst erreichbare Arztpraxen und Schulen. Dies wird als großer persönlicher Verlust empfunden – mit den Schließungen gingen auch Teilhabemöglichkeiten verloren: „Jetzt nehmen die mir ja alles“ (B4, Gruppendiskussion K). Insbesondere im Hinblick auf das Alter, wenn die individuelle Mobilität nicht mehr gewährleistet ist, wird von großen Ängsten berichtet, sich nicht mehr versorgen zu können. Auch das Gefühl der Benachteiligung der ländlichen Bevölkerung gegenüber Geflüchteten kommt in den Diskussionen auf: „Wir hatten unheimlich viele Schulschließungen. Es gab keine Lehrer und nichts. Und mit einem Mal kommen Ausländerkinder, und da ist Geld da. Da sind extra Lehrer da. Die werden betreut. Da spielt Geld keine Rolle“ (B1, Gruppendiskussion W). Wenngleich Ruhe, Natur und niedrige Grundstückspreise geschätzt werden und infrastrukturelle Mängel teilweise durch Fahrten in größere Städte kompensiert werden können, überwiegt meist die Unzufriedenheit. Man fühlt sich auf der Verliererseite, da „von oben“ nichts gegen den Mangel getan werde – eine persönliche Abwertungserfahrung: „Wir sind abgehangen. Wir sind nur noch die Menschen zweiter Klasse in unserer Gesellschaft“ (B9, Gruppendiskussion K). Das Gesamtbild dieser Räume spricht für die These des Einflusses der infrastrukturellen Situation auf den Erfolg der AfD.

Auch der komplementäre Typus, Räume mit guter sozioökonomischer Lage und (unter)durchschnittlichen AfD-Ergebnissen, stützt diese These. Teilnehmende aus jenen Regionen berichten, dass viele Daseinsvorsorgeeinrichtungen fußläufig gut erreichbar seien: „Rein für den täglichen Bedarf, wenn ich nichts Besonderes brauche, also dann (…) brauche ich aus [T] nicht raus“ (B4, Gruppendiskussion T). Neben Lebensmittelläden, Arztpraxen, Schulen und Bahnhöfen werden auch die Cafés, Kneipen und Jugendzentren vor Ort geschätzt. Diese attraktiven Bedingungen ziehen auch Menschen von außerhalb an, deren Zuzug für eine Anspannung auf dem Wohnungsmarkt sorgt. So beklagen Teilnehmende, dass es ohne höheres Einkommen oder Beziehungen schwierig ist, eine Mietwohnung oder ein Haus zu finden. Auch in prosperierenden ländlichen Räumen kann es also zu infrastrukturellen Problemlagen kommen. Insgesamt äußern sich die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Regionen jedoch sehr zufrieden mit ihren Lebensverhältnissen: „Grundsätzlich geht es uns gut in [S]. Das muss man ganz ehrlich sagen. Also grundsätzlich, es ist alles da, was man zum Leben und Lieben braucht“ (B2, Gruppendiskussion S). Dieser strukturelle Hintergrund gibt den Teilnehmenden kaum Anlass, aus Protest oder Hoffnung auf strukturelle Verbesserungen die AfD zu wählen.

Allerdings gibt es auch Typen, die dagegen sprechen, dass die Unzufriedenheit mit den Strukturen der Daseinsvorsorge eine Rolle für die Wahl der AfD spielt. Dies gilt etwa für Kreise mit weniger guter sozioökonomischer Lage und (unter)durchschnittlichen AfD-Ergebnissen. Auch hier wird von einer Verlustkaskade berichtet. Auch hier ist in einigen Fällen eine Kompensation lokaler Infrastrukturmängel durch die Erreichbarkeit größerer Städte in der Region möglich. Auch hier äußern Teilnehmende ihren Groll über die Politik, über die Vernachlässigung und Benachteiligung ländlicher Räume: Politik werde „aus den Städten heraus entwickelt (…). Aber in der Stadt versteht man das Land nicht. Man kennt es gar nicht“ (B3, Gruppendiskussion G). Die Stimmung gegenüber Geflüchteten ist hier jedoch positiver. So werden sie beispielsweise nicht als Konkurrenten, sondern zum Teil als gleichermaßen Betroffene von Infrastrukturschwächen beschrieben. Habe man selbst Probleme, mit ÖPNV von einem Ort zum anderen zu kommen, so sei dies für Geflüchtete, die der deutschen Schrift und Sprache nicht mächtig sind, besonders schwierig. Darüber hinaus problematisieren die Teilnehmenden dieser Gruppen deutlich die AfD und ihre Wählerschaft: „Wer AfD wählt, der weiß, was er wählt. Der weiß, dass er rechtsextrem ist, dass er (…) eine Partei wählt, die Ansichten hat, die man nicht vertreten kann“ (B6, Gruppendiskussion O). Eine andere Gruppe erinnert sich an einen Protest gegen eine lokale AfD-Veranstaltung: „Und [da] war eine große Menschenmenge, gerade hier auf dem Bahnhofsvorplatz, und hat die AfD niedergebrüllt. Die haben hier kaum eine Chance“ (B4, Gruppendiskussion L). Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass die AfD für einen Teil der Bevölkerung aufgrund ihrer politisch-kulturellen Wertvorstellungen nicht als Ventil für die Unzufriedenheit mit Schwächen der Daseinsvorsorge infrage kommt.

Gegen einen Zusammenhang zwischen dem Abbau der Daseinsvorsorge und dem Zuspruch zur AfD sprechen auch Räume mit guter sozioökonomischer Lage, aber überdurchschnittlichen AfD-Ergebnissen. Die Identifikation mit den politisch-kulturellen Werten der AfD könnte hier ein Grund für die Wahlentscheidung sein. So äußerten Teilnehmende aus diesen Regionen den Eindruck, dass Asylsuchende unkontrolliert ins Land strömten, und berichteten von Stadtvierteln, in die sich Deutsche nicht mehr trauten. Sie beschreiben auch das Gefühl, „dass jeder Asylant den dreifachen Wert hat, wie einer, der 45 Jahre gearbeitet hat hier“ (B2, Gruppendiskussion P). Ähnlich wie beim Typ „weniger gute Lage und überdurchschnittliche AfD-Wahlergebnisse“ wird auch hier Unverständnis darüber geäußert, dass der Staat keine finanziellen Mittel für Infrastrukturinvestitionen in ländlichen Räumen bereitstelle, wohl aber Geflüchtete unterstütze. Dies zeigt auch, dass Teile von sozioökonomisch gut aufgestellten Kreisen lokal vor strukturellen Herausforderungen stehen können. Denn durch die Aggregation der Daten auf Kreisebene verschwimmen kleinräumliche Unterschiede. Liegt ein Ort mit strukturellen Schwierigkeiten innerhalb eines Kreises, der insgesamt eine gute sozioökonomische Lage aufweist, gehen die lokalen Herausforderungen unter. Die Bevölkerung selbst nimmt die Situation jedoch differenzierter wahr und hat zudem stets den regionalen Vergleich, der ihr zeigt, dass es besser gehen könnte. Daher ist es auch in diesen Regionen möglich, dass auf lokaler Ebene der Abbau von Daseinsvorsorge eine Rolle bei der AfD-Wahl spielt.

Fazit

Infrastrukturen der Daseinsvorsorge haben eine Versorgungsfunktion, die im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Die im Raumordnungsgesetz verankerte Verantwortlichkeit des Staates für den Aufbau und Erhalt von Einrichtungen der Daseinsvorsorge ist das gesetzliche Pendant zu den Erwartungen der Bevölkerung. Dies begründet auch, dass mit der Wahrnehmung der strukturellen Situation eine Bewertung der staatlichen Leistung einhergehen kann. Für den Zusammenhang zwischen Daseinsvorsorgeabbau und der Zustimmung zum Rechtspopulismus spricht, dass in sozioökonomisch weniger gut gestellten ländlichen Räumen mit hohen AfD-Wahlergebnissen eine große Unzufriedenheit mit dem Staat aufgrund wahrgenommener infrastruktureller Verluste besteht. Auch schwächere AfD-Ergebnisse in prosperierenden ländlichen Räumen stützen diese These. Allerdings finden sich auch sozioökonomisch weniger gut gestellte ländliche Räume, in denen die AfD bei der Bundestagswahl 2021 nicht punkten konnte, sowie sozioökomisch gut gestellte ländliche Räume mit hoher rechtspopulistischer Zustimmung. Diese Fälle sprechen dafür, dass auch individuelle Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit eine Rolle spielen können. Für eine Politik für ländliche Räume bedeutet dies, neben der Stärkung von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge auch die politische Bildung für eine liberale Demokratie und den Abbau von Ressentiments gegenüber Fremden zu fördern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Claudia Ehrenstein, Zukunftsfragen entscheiden sich auf dem Lande, 15.11.2016, Externer Link: http://www.welt.de/politik/deutschland/article159522568.

  2. Vgl. Larissa Deppisch/Torsten Osigus/Andreas Klärner, How Rural is Rural Populism? On the Spatial Understanding of Rurality for Analyses of Right-Wing Populist Election Success in Germany, in: Rural Sociology 1/2022, S. 692–714.

  3. Vgl. Andrés Rodríguez-Pose, The Revenge of the Places That Don’t Matter (and What to Do About It), in: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society 11/2018, S. 189–209; Larissa Deppisch, „Gefühle des Abgehängtseins“ – ein Angstdiskurs, in: Susanne Martin/Thomas Linpinsel (Hrsg.), Angst in Kultur und Politik der Gegenwart. Beiträge zu einer Gesellschaftswissenschaft der Angst, Wiesbaden 2020, S. 179–203; Matthias Naumann, Infrastruktureller Populismus. Infrastruktur als Agenda, Instrument und Erklärung rechter Raumproduktionen, in: Geographische Zeitschrift 4/2021, S. 208–226.

  4. Vgl. Paul N. Edwards, Infrastructure and Modernity. Force, Time and Social Organization in the History of Sociotechnical Systems, in: Thomas J. Misa/Philip Brey/Andrew Feenberg (Hrsg.), Modernity and Technology, Cambridge MA 2004, S. 185–225.

  5. Vgl. Naumann (Anm. 3).

  6. Vgl. Edwards (Anm. 4).

  7. Vgl. ebd.

  8. Vgl. ebd.

  9. Vgl. ebd.

  10. Vgl. Claudia Neu, Daseinsvorsorge – eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Daseinsvorsorge. Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung, Wiesbaden 2009, S. 9–19; Peter Weingarten/Annett Steinführer, Daseinsvorsorge, gleichwertige Lebensverhältnisse und ländliche Räume im 21. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft Jg. 30/2020, S. 653–665.

  11. Vgl. Neu (Anm. 10).

  12. Vgl. Jens Kersten/Claudia Neu/Berthold Vogel, Das Soziale-Orte-Konzept. Zusammenhalt in einer vulnerablen Gesellschaft, Bielefeld 2022.

  13. Vgl. Neu (Anm. 10); Klaus Einig, Koordination der Anpassung der Daseinsvorsorge an den Demografischen Wandel durch Meta-Regulierung und Netzwerkgovernance, in: Claudia Neu (Hrsg.), Daseinsvorsorge. Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung, Wiesbaden 2009, S. 39–66; Andreas Folkers, Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz. Katastrophische Risiken und die Biopolitik vitaler Systeme, Frankfurt/M.–New York 2017.

  14. Vgl. Tim Engartner, Zur Privatisierung von Infrastruktur: Staat im Ausverkauf, in: APuZ 16–17/2017, S. 12–17.

  15. Vgl. Michael Eilfort/Benjamin Jursch, Zur Privatisierung von Infrastruktur: Staat im Vorteil, in: APuZ 16–17/2017, S. 18–23.

  16. Siehe hierzu auch den Beitrag von Philip Banse und Ulf Buermeyer in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  17. Vgl. Eilfort/Jursch (Anm. 15).

  18. Vgl. Engartner (Anm. 14).

  19. Vgl. Naumann (Anm. 3).

  20. Vgl. Andreas Klärner et al., Gesichter der Armut in der Stadt und im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns – Ergebnisse eines qualitativen Forschungsprojekts, in: Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.), Aspekte der Armut in Mecklenburg-Vorpommern. Forschungsbericht im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 2015, S. 25–90.

  21. Vgl. Anne-Kathrin Stroppe, Left Behind in a Public Services Wasteland? On the Accessibility of Public Services and Political Trust, in: Political Geography Jg. 105/2023, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.polgeo.2023.102905.

  22. Vgl. Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, 2016, Externer Link: http://www.afd.de/wp-content/uploads/2023/05/Programm_AfD_Online_.pdf.

  23. Die Daten wurden im Rahmen des Forschungsprojekts „Gefühle des Abgehängtseins’ in ländlichen Räumen?“ erhoben und analysiert, das von 2018 bis 2023 am Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen unter der Leitung des Soziologen Andreas Klärner realisiert wurde. Aus Datenschutzgründen werden die Namen der Gruppendiskussionensteilnehmenden über Kürzel wie „B1“ sowie die Untersuchungsregionen über zufällig ausgewählte Großbuchstaben pseudonymisiert.

  24. Vgl. Patrick Küpper, Abgrenzung und Typisierung ländlicher Räume, Thünen Working Paper 68/2016.

  25. Vgl. ebd.

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Daseinsvorsorge, soziale Ungleichheit und Rechtspopulismus.