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Innovation und Investition statt Lockerung der Schuldenbremse | Infrastruktur | bpb.de

Infrastruktur Editorial Warum es der Politik schwerfällt, für gute Infrastruktur zu sorgen Hohe Nachhol- und Zusatzbedarfe. Von Investitionslücken, regionalen Unterschieden und statistischen Tücken Nie geradlinig. Infrastrukturgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert Innovation und Investition statt Lockerung der Schuldenbremse Von Schuldenregeln und Schuldenbremsen. Wie Deutschland seine Zukunft aufs Spiel setzt Gebraucht, aber gehasst. Infrastrukturen der industriellen Transformation "Wir sind nur Menschen zweiter Klasse". Vom Abbau der Daseinsvorsorge und Aufstieg des Rechtspopulismus

Innovation und Investition statt Lockerung der Schuldenbremse

Rainer Hank

/ 13 Minuten zu lesen

Deutschland hat nicht nur einen enormen Investitionsstau, sondern vor allem ein Innovationsdefizit. Bevor über höhere Staatsausgaben nachgedacht wird, sollte man sich auf die Kernaufgaben des Staates besinnen. Private Investitionen müssen Vorrang haben.

Deutschland hat nicht nur seit Jahrzehnten einen Sanierungsstau, sondern auch einen Stau bei Investitionen und Innovationen. Vor allem die öffentliche Infrastruktur ist in vielen Bereichen marode. Der Straßengüterverkehr hat sich seit 1991 mehr als verdoppelt. Notwendige Instandhaltungsarbeiten blieben aber oft aus. Viele Brücken stammen aus den 1960er bis 1980er Jahren, insbesondere die großen Tal- und Flussbrücken. Von den insgesamt rund 130.000 Brücken in Deutschland sind mehrere Zehntausend in der Zuständigkeit von Bund, Ländern, Deutscher Bahn und Kommunen sanierungsbedürftig. Experten gehen davon aus, dass von den rund 67.000 Brücken in kommunaler Verantwortung jede zweite Straßenbrücke in einem schlechten Zustand ist. So reichen die öffentlichen Investitionen auch im Tiefbau seit Jahren nicht mehr aus, um den Modernitätsgrad Deutschlands zu erhalten.

Hinzu kommt, dass Hunderte von Kilometern Schienen erneuert werden müssen. Das führt dazu, dass die Leistungen der Bahn auf Jahre hinaus unberechenbar werden, die Fahrzeiten sich verlängern, große Verspätungen zur Regel werden und zudem völlig unkalkulierbar sind. Veraltete Bahnhöfe und ein marodes, teilweise komplett überlastetes Schienennetz machen auch dem Güterverkehr zu schaffen.

Straßen und Schienen sind nur die sinnfälligsten Bereiche des Investitionsdefizits. Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wissen wir, dass unsere Verteidigung dringend nicht nur mehr Geld, sondern auch einen effizienteren Einsatz der Mittel benötigt. Im Bildungsbereich hat Deutschland in jüngster Zeit so schlecht abgeschnitten wie noch nie, was laut Sachverständigenrat nicht zuletzt an den ungenügenden Mitteln für die frühkindliche Bildung und den Grundschulbereich liegt. Es sind also nicht nur die vielzitierten Schultoiletten in katastrophalem Zustand, die zu schaffen machen.

Nehmen wir die mangelhafte Energieinfrastruktur, den Rückstand bei der Digitalisierung im Vergleich zu vielen anderen Industrieländern und – last but not least – die verzögerte Klimatransformation der gesamten deutschen Wirtschaft hinzu, dann zeigt sich das ganze Desaster, was sich hinter dem Schlagwort „Investitionsstau“ verbirgt.

Mehr noch: Die überbordende Bürokratie lähmt unsere Wirtschaft, sie erstickt innovatives Unternehmertum. Deutschland droht zu einem Industriemuseum zu verkommen – mit entsprechenden Folgen für Wohlstand und Wachstum. Der alte Kontinent hat in vielen Bereichen den Anschluss an China, vor allem aber an die USA verloren. Nach wie vor ist unsere Wirtschaftspolitik zu sehr auf Besitzstandswahrung ausgerichtet und zu wenig darauf, Neues zu ermöglichen und zuzulassen. „Wir leben noch von Sprunginnovationen der Gründerzeit, von vor 140 Jahren“, klagt Rafael Laguna de la Vera, Direktor der Bundesagentur für Sprunginnovationen. Pfadabhängig die alten Strukturen zu konservieren, statt disruptiv zu modernisieren – das ist der Kern der Malaise. Ob Subventionen für Werften zum Bau von Kreuzfahrtschiffen oder Beihilfen für die Stahlproduktion im Ruhrgebiet, ob Milliardenhilfen für strauchelnde Chiphersteller oder Agrardiesel für Landwirte – gefördert werden primär bestehende Betriebe, während innovative Unternehmen fliehen. Für die Erforschung der Möglichkeit von Sprunginnovationen (vulgo: Disruptionen) gibt der Staat einen Bruchteil dessen aus, was er dem deutschen Industriemuseum an Subventionen zukommen lässt.

So offensichtlich die Defizite sind, so schwierig ist es, den Investitionsbedarf zu beziffern. Basierend auf Angaben des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr wird der Bedarf des Bundes für Bundesstraßen und Autobahnen für die Jahre 2025 bis 2028 auf über 57 Milliarden geschätzt. Der Bedarf für die Bahn beträgt im gleichen Zeitraum laut Ministerium 63 Milliarden Euro. Und bei der Energieinfrastruktur liegen die nötigen Investitionen aufgrund der Energiewende für On- und Off-Shore-Anlagen bei bis zu 270 Milliarden Euro.

Der Freiburger Ökonom Lars Feld, Direktor des dortigen Walter Eucken Instituts, macht darauf aufmerksam, dass die Erhebungsmethoden der Studien bei der Bezifferung des Investitionsbedarfs diskussionswürdig sind und verzerrte Angaben über das tatsächliche Ausmaß der Investitionstätigkeit hervorbringen. Das liegt unter anderem auch daran, dass es aufgrund des föderalen Prinzips in Deutschland nicht eine einzige große Investitionslücke, sondern multiple Investitionsbedarfe in verschiedenen föderalen Verantwortungsbereichen gibt. Es fehlt eine zentrale Stelle, die den Überblick hat.

Wenn auch der Bedarf nicht eindeutig ist, so muss es doch besorgt stimmen, dass die Investitionsquote von Bund und Ländern seit 1992 auf einem Niveau zwischen 0,5 und 0,8 Prozent des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) verharrt. Die Investitionsquote der Gemeinden ist zurückgegangen. Andere Länder der EU leisten mehr. Insbesondere bei der Verteidigung und der Bildung fällt Deutschland dramatisch gegenüber dem EU-Durchschnitt zurück.

Andere Prioritäten

Dass Geld für Infrastruktur fehlt, steht fest. Dass der Staat deshalb insgesamt mehr Geld ausgeben muss, ist daraus aber – anders als viele reflexartig meinen – mitnichten die zwingende Konsequenz. Und schon gar nicht zwingend ist die Schlussfolgerung, das fehlende Geld könne und müsse durch eine höhere Staatsverschuldung und damit durch eine sogenannte Reform der Schuldenbremse finanziert werden. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass die ständige Wiederholung der Notwendigkeit einer Reform der Schuldenbremse – gemeint ist meist deren Abschaffung – von der Notwendigkeit einer Reform der Staatsausgaben ablenkt.

Zumindest drei weitere Wege der Finanzierung jenseits höherer Schulden sind denkbar: Erstens könnten die Mittel durch eine Umschichtung der öffentlichen Haushalte vor allem durch das Streichen von Subventionen aufgebracht werden. Dass Geld fehlt, bedeutet somit nicht, dass zu wenig Geld da ist, sondern dass zu viel Geld an anderer Stelle ausgegeben wird – in vielen Fällen ineffizient. Das fehlende Geld könnte zweitens über höhere Steuern aufgebracht werden. Wer heute über Brücken und Straßen und mit der Bahn fahren will, der muss auch dafür zu zahlen bereit sein. Spätere Generationen haben genügend eigene finanzielle Lasten zu tragen – nicht zuletzt die demografischen Lasten für die verrenteten Boomer. Ein langfristig steigender spezieller Ausgabenbedarf zum Beispiel aufgrund veränderter geopolitischer Rahmenbedingungen oder langfristiger technologischer Trends sollte über Steuern und nicht über Schulden finanziert werden, um die Staatsverschuldung in ihrem Wert stabil zu halten – das schreibt der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz in einem Gutachten zur Finanzierung von Staatsaufgaben. Schließlich kann, drittens, das fehlende Geld auch von privaten Finanziers aufgebracht werden. Das ist ein Gedanke, der in der öffentlichen Diskussion kaum vorkommt.

Eine eigentlich notwendige Debatte über Staatsaufgaben wird nicht (mehr) geführt. Diskutiert wird ausschließlich über die Staatsausgaben – und den Wunsch der Politik, diese zu erhöhen. Es ist ja nicht so, dass der deutsche Staat seine Ausgaben zurückgefahren hätte oder, wie zuweilen zu hören ist, seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge nicht nachkäme und sich „kaputtspare“. Vielmehr hat die im November 2024 abgeschaltete Ampel das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Die öffentlichen Haushalte insgesamt haben 2023 einen Betrag von 1952 Milliarden Euro ausgegeben – so viel wie nie zuvor (auch nicht während der Pandemie). Obwohl die Steuereinnahmen angesichts von annähernder Vollbeschäftigung sprudelten, erreichte die Staatsverschuldung 2023 mit 2445 Milliarden Euro ihren absoluten Höchststand – auch wenn die Schuldenquote mit 68 Prozent des BIP im internationalen Vergleich relativ niedrig ist (aber immer noch über den europarechtlich erlaubten 60 Prozent liegt). Während die Verschuldung in der Ära Merkel zwischen 2012 und 2019 entgegen der jahrzehntelangen Tradition rückläufig war, stieg sie in den Ampeljahren unabhängig von der Pandemie wieder an.

Wenn das öffentliche Geld nicht für die notwendigen Investitionen verwendet wurde, wo landete es dann? Kurz gesagt: im Konsum. Unter Konsum verstehen Volkswirte alles, was keine Investition ist, sondern in den privaten oder öffentlichen Verbrauch fließt. Dazu zählen alle Sozialleistungen vom Bürgergeld bis zur Rente oder Pflege. Aber auch alle Subventionen, also Zuwendungen des Staates an Gruppen, Privatpersonen oder Unternehmen.

Unsinn der Subventionen

Werfen wir einen Blick auf die Subventionen. Deren Volumen belief sich in der Bundesrepublik 2023 auf 322 Milliarden Euro. Das waren vier Prozent mehr als die gesamte Lohn- und Einkommensteuer, die die arbeitende Bevölkerung in Deutschland in diesem Zeitraum an den Fiskus abführen musste. Gemessen am BIP erreichten die Subventionen mit knapp acht Prozent einen historischen Höchststand. Auch dies zeigt, dass der Staat nicht spart. Die Frage ist, ob er das Geld an der richtigen Stelle ausgibt.

Das darf mit guten Gründen bezweifelt werden. Ein großer Teil der gesamten Finanzhilfen entfällt auf die Finanzhilfen des Bundes: Diese sind seit 2014 auf Expansionskurs – unabhängig von der politischen Konstellation und Koalition einer jeweiligen Regierung. Hinter dem starken Wachstum der Finanzhilfen des Bundes stehen an erster Stelle jene für die Umwelt- und Klimapolitik. Sie bestehen aus vielen einzelnen Fördermaßnahmen, die selbst für Fachleute nicht mehr überschaubar sind. Inwieweit sie im Hinblick auf die Ziele der CO2-Reduktion effizient sind, ist fraglich, wird jedenfalls von der Regierung nicht im Detail untersucht – worauf die Bürger eigentlich ein Recht hätten. „Denn bei mittlerweile 59 Finanzhilfen des Sonderfonds zugunsten der Umwelt, die neben den 26 Umweltsubventionen existieren, die aus dem regulären Bundeshaushalt 2024 geleistet werden, dürfte zielgerichtetes und widerspruchsfreies Handeln schwerfallen“, so die Subventionsexpertin Astrid Rosenschon. Dies gelte umso mehr, als es neben den vielfältigen umweltpolitisch motivierten Zuschüssen ein ganzer „Förderzoo“ an Subventionen existiere, die auf eine Erhöhung der Treibhausgasentwicklung hinwirken und somit dem ökologischen Ziel zuwiderlaufen.

Ähnliches lässt sich über die Subventionen in den Verkehr und vor allem in die Bahn sagen: Seit 2015 hat der Bund fast 102 Milliarden Euro in das deutsche Eisenbahnwesen gesteckt. Zusätzlich hat die Deutsche Bahn AG Mittel vom Kapitalmarkt abgezogen. Trotz dieser erheblichen Zuflüsse ist die Netz- und Servicequalität unbefriedigend und droht noch schlechter zu werden. Der Bundesrechnungshof hat in zahlreichen Gutachten Fehlsteuerungen und Organisationsmängel gerügt.

Bezogen auf unser Thema des Investitionsstaus heißt das: Am Geld mangelt es nicht – an der Effizienz schon. Oder noch härter und als Regel des Subventionsunsinns formuliert: Mehr Geld in ein ineffizientes System zu pumpen, macht das System nicht besser, sondern nur noch ineffizienter. Förderwahn führt zur Vernachlässigung staatlicher Kernaufgaben und gefährdet unsere Zukunft.

Aus Sicht liberaler Ökonomen sind Subventionen stets problematisch. Denn sie sind willkürlich; eine Begründung lässt sich im Nachhinein für alles finden. Subventionen sind nicht nur im Einzelfall in aller Regel ineffizient, sie ziehen meist auch weitere Subventionen nach sich und setzen damit eine „Interventionsspirale“ in Gang. So führt beispielsweise im Bereich des Klimaschutzes nicht zuletzt ein Dschungel an Regulierungen dazu, dass der Ruf nach umfangreichen Subventionen immer lauter wird, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Ähnlich geht es auf dem Wohnungsmarkt zu. Auch hier besteht enormer Investitionsbedarf, denn es fehlen schätzungsweise mindestens 600.000 Wohnungen mit den entsprechenden Folgen von Knappheit und hohen Mieten bei Neuvermietungen. Doch statt Anreize für den Wohnungsbau zu schaffen, verhindert oder erschwert der Staat durch kontraproduktive Regelungen (Mietpreisbremse, Kappungsgrenze), dass neue Wohnungen geschaffen werden. Der Staat ist somit ein großer Verursacher des Investitionsstaus, den er eigentlich auflösen sollte. Ähnlich kritisch sind auch die Subventionen für Großkonzerne zu bewerten (Chip-, Pharma- und womöglich bald die Automobilindustrie), die vor allem in den Ampeljahren in Mode gekommen sind. Das wird die Modernisierung des Landes eher verzögern als beschleunigen.

Ordnungspolitisch geboten wäre dagegen, dass der Staat die Rahmenbedingungen setzt, damit ein möglichst effizienter Wettbewerb möglich wird und Investitionen und Innovationen eine Chance bekommen. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, hat zur Frage, wie effiziente zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben gelingen können, abweichend von der Ratsmehrheit Wegweisendes zu Protokoll gegeben: Paradoxerweise bedarf es eines Rückzugs des Staates als Voraussetzung von Investitionen. Bei der regenerativen Transformation heißt das zum Beispiel, Emissionshandel und CO2-Preise wirken zu lassen und sie nicht mit finanziellen Interventionen zu konterkarieren. Besonders interessant sind die Vorschläge zur Modernisierung des Verkehrs. Grimm: „Die Bereitstellung von Straßeninfrastruktur könnte in Absprache mit der Europäischen Kommission in einnahmenfinanzierte, selbständig verschuldungsfähige Infrastrukturgesellschaften nach dem Vorbild der österreichischen ASFINAG [Autobahnen- und Schnellstraßen- Finanzierungs-Aktiengesellschaft] ausgelagert werden. Diese Gesellschaften könnten operativ und finanziell eigenständig agieren und wären damit nicht unmittelbar an die Schuldenbremse gebunden.“ Durch eine Einnahmenfinanzierung zum Beispiel aus der Lkw-Maut und einer neu einzuführenden Pkw-Maut wären diese Gesellschaften in der Lage, die notwendigen Investitionen eigenständig zu tragen, ohne den regulären Staatshaushalt zu belasten oder die Verschuldungskapazitäten des regulären Haushalts zu strapazieren.

Lars Feld und Julia Braun haben diesen Ansatz generalisiert: Schon heute ist es für private und kleine institutionelle Anleger möglich, sich über Infrastruktursondervermögen an öffentlichen Infrastrukturprojekten zu beteiligen. Durch die Hinzuziehung privater Geldgeber wird nicht nur zusätzliches privates Kapital bereitgestellt, sondern es werden auch Effizienzsteigerungen erwartet. Besonders die Straßen-, Eisenbahn-, und Energieinfrastruktur sowie einige kommunale Bereiche könnten in Verbindung mit dem hohen Investitionsbedarf in den kommenden Jahren vielversprechende Investitionsfelder sein. Dabei handelt es ich um privatrechtliche Gesellschaften mit eigener Einnahme- und Kreditfähigkeit. Sie wären für Bau, Vertrieb und Verwaltung öffentlicher Infrastruktur zuständig. Dies wäre keinesfalls eine Umgehung der Schuldenbremse, sondern vielmehr eine Chance zur Erzielung gesamtwirtschaftlich wünschenswerter Effizienzsteigerungen durch marktwirtschaftliche Lösungen. Private Akteure können so etwas in der Regel besser als öffentliche Unternehmen. Die Betreiber müssten sich für den Zuschlag dem Wettbewerb stellen.

Schuldenbremse

Schließlich geht es um eine Neujustierung staatlicher Ziele und entsprechender Priorisierung. Ampel-Kanzler Olaf Scholz lag ökonomisch falsch, wenn er behauptete, man dürfe Verteidigung und Sozialausgaben nicht gegeneinander ausspielen. Doch, das darf man: Ökonomisches Denken ist stets Denken in Alternativen. Wenn an der einen Stelle mehr Mittel nötig werden, können auf der anderen Seite eben nur weniger Mittel zur Verfügung stehen. Strukturelle Reformen bei den Sozialausgaben können Spielräume für zukunftsorientierte Staatsausgaben vergrößern. Als wenig zielführend haben sich etwa die für den Staat sehr teure Rente mit 63 sowie die von der Union durchgesetzte Mütter- und Witwenrente erwiesen. Dass die unter der Überschrift „Bürgergeld“ durchgesetzte „Reform“ der Sozialhilfe (vormals Hartz IV) teuer und für den Arbeitsmarkt kontraproduktiv ist, hat sich inzwischen auch in der Sozialdemokratie herumgesprochen.

Aus alledem ergibt sich: Eine Änderung der Schuldenbremse, gar ihre Abschaffung, ist nicht nur nicht nötig. Sie wäre auch schädlich. Die Schuldenbremse ist nicht verantwortlich für den Investitionsstau. Eine gelockerte Schuldenbremse würde indes die staatliche Disziplinlosigkeit fördern und abermals Ineffizienzen schaffen. Die Kosten müssten der Staat beim Schuldendienst (Zinsen) mit den Steuern der heutigen Bürger sowie künftige Generationen bei der Tilgung mit ihren Steuern tragen. Das wäre ungerecht.

Schon im 18. Jahrhundert wusste der Philosoph David Hume: „Für einen Minister ist es sehr verführerisch, das Mittel der Staatsschulden zu benutzen, das ihn in den Stand setzt, während seiner Verwaltung den großen Mann zu spielen, ohne das Volk mit Steuern zu überladen oder eine sofortige Unzufriedenheit gegen sich zu erregen. Die Praxis des Schuldenmachens wird daher fast unfehlbar von jeder Regierung missbraucht werden.“ Genau aus diesem Grund wurde nach Schweizer Vorbild 2009 die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert.

Diese besagt: In der Regel soll der Staat keine Schulden machen, sondern mit seinen Steuereinnahmen auskommen. Doch ist die Bremse nicht so starr, wie viele behaupten: Die Regierung darf im konjunkturellen Abschwung bis zu einem gewissen Grad Defizite hinnehmen, wie sie umgekehrt in einer Hochkonjunktur Überschüsse durch unerwartete Steuereinnahmen erhält. Beide Effekte sind gegenläufig und stabilisieren so die Konjunktur; sie wirken als sogenannte „automatische Stabilisatoren“. Zudem sind jährliche Neukredite in Höhe von 0,35 Prozent des BIP erlaubt.

Die zugrundeliegende Idee ist uralt. Als ihr Erfinder darf der Dichter Homer aus dem achten Jahrhundert vor Christus gelten. Es geht um Selbstbindung im Wissen um die Schwachheit der menschlichen Kreatur. Im 12. Gesang der Odyssee muss das Schiff des Odysseus zwischen Skylla und Charybdis hindurch navigieren. Dort befinden sich Sirenen – Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang Schiffer anlocken, um sie zu töten. Weil Odysseus dies weiß und seine Verführbarkeit kennt, weist er seine Besatzung an, ihn zu binden, „damit ich kein Glied zu regen vermöge –, aufrechtstehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen.“ Vorsichtshalber fügt er hinzu: „Fleh’ ich aber euch an, und befehle die Seile zu lösen; eilend fesselt mich dann mit mehreren Banden noch stärker.“ Es ist jenes von Homer erfundene Prinzip „freier Selbstbindung“, das sich hinter der Schuldenbremse verbirgt. Wenn Politiker (fast) aller Parteien heute wieder flehen, die Verfassung zu ändern, wäre das im Sinne Homers ein starkes Signal, die Schuldenbremse gerade festzuzurren.

Es ließen sich sogar gute Argumente für eine Verschärfung der Schuldenbremse finden. Denn in ihrer jetzigen Form zielt sie nur auf die Nachhaltigkeit der Staatseinnahmen; die Nachhaltigkeit der Staatsausgaben ist damit aber längst noch nicht sichergestellt.

Glauben wir Homer und Hume, so zeigt sich: Eine Verführung, Schulden zu machen, gab es immer schon. Die Selbstbindung ist ein probates Mittel, um diese Verführung in Grenzen zu halten. Das oft gehörte Argument, die Welt habe sich seit Einführung der Schuldenbremse dramatisch geändert, ist richtig. Daraus die Begründung für die Notwendigkeit einer Lockerung oder gar Abschaffung der Schuldenbremse abzuleiten, überzeugt jedoch nicht. Die Verführung, zu viele Schulden zu machen, ist zeitlos. Die Notwendigkeit, dieser Verführbarkeit Grenzen zu setzen, ist ebenfalls zeitlos. Andernfalls gibt es kein Halten mehr auf dem Weg in den Schuldenstaat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren, Jahresgutachten 2024/25, S. 4.

  2. „Die USA sind der Cowboy, Europa ist der Rechtsanwalt“, Interview mit Rafael Laguna de la Vera, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8.12.2024, S. 19.

  3. Vgl. Justus Haucap, Innovation statt Siechtum, 5.12.2024, Externer Link: https://rp-online.de/wirtschaft/geld-und-leben/disruptiv-was-an-milei-und-musk-wirklich-gut-ist_aid-121802221.

  4. Vgl. Lars P. Feld/Julia Braun, Öffentlicher Investitionsbedarf in Deutschland: Standortbestimmung und Potenziale privater Infrastrukturfinanzierung, Gutachten im Auftrag der Union Asset Management Holding AG, 2024, S. 7; Lars P. Feld/Wolf Heinrich Reuter, Öffentliche Investitionen: Die Schuldenbremse ist nicht das Problem, Sachverständigenrat Arbeitspapier 1/2020; Lars P. Feld et al., Die Schuldenbremse – Ein Garant für nachhaltige Haushaltspolitik, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, 2024.

  5. Vgl. Feld/Braun (Anm. 4), S. 8.

  6. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Anm. 1), S. 5.

  7. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Finanzierung von Staatsaufgaben: Herausforderungen und Empfehlungen für eine nachhaltige Finanzpolitik, Gutachten Oktober 2023, S. 2.

  8. Vgl. Entwicklung der öffentlichen Finanzen, 8.8.2024, Externer Link: http://www.bpb.de/61867.

  9. Vgl. Astrid Rosenschon, Subventionen in Deutschland, 30.9.2024, Externer Link: https://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=38152.

  10. Ebd.

  11. Vgl. Veronika Grimm, So gelingt es, staatliche Ausgaben auf Zukunftsaufgaben zu lenken, 13.11.2024, Externer Link: http://www.faz.net/-110108611.html.

  12. Ebd.

  13. Vgl. Feld/Braun (Anm. 4).

  14. David Hume, Über Staatskredit, in: Udo Bermbach (Hrsg.), Politische und ökonomische Essays, Teilband 2, Hamburg 1988, S. 273–290, hier S. 275.

  15. Das Argument stammt von Oliver Weber, der freilich zu vollkommen gegenteiligen Schlussfolgerungen kommt. Oliver Weber, Der gefesselte Staat. Über das demokratietheoretische Verhängnis der Schuldenbremse, in: Leviathan 4/2024, S. 555–582.

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ist Wirtschaftsjournalist und leitete die Wirtschafts- und Finanzredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".