Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und dessen Auswirkungen stellen die deutsche Wirtschaftspolitik vor große Herausforderungen. Die Einschränkung russischer Erdgaslieferungen hat die Energiekrise verschärft und die bereits im Jahr 2021 erhöhte Inflation weiter angeheizt. Dies belastet Haushalte und Unternehmen massiv und trübt den konjunkturellen Ausblick. Die massiv gestiegenen Energiepreise führen zu erheblichen Kaufkraftverlusten und dämpfen die privaten Konsumausgaben. Gleichzeitig belasten sie die Produktion insbesondere in den energieintensiven Industriezweigen. Hohe wirtschaftliche Unsicherheit und ein schwaches außenwirtschaftliches Umfeld lassen kaum Wachstumsimpulse durch Investitionen und Exporte erwarten. Der Sachverständigenrat prognostiziert für das Jahr 2022 ein Wachstum des realen BIP um 1,7 Prozent und für 2023 einen leichten Rückgang um 0,2 Prozent. Auch wenn dieser nur relativ gering ausfällt, sollte er nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Wirtschaft sich zuvor noch nicht vollständig von der Coronakrise erholt hatte und die Abwärtsrevision der Prognosen dramatisch ist: So hatte der Sachverständigenrat noch vor einem Jahr mit einem Wachstum von 4,6 Prozent für 2022 gerechnet und im Frühjahr 2022 für das Jahr 2023 noch mit einem Wachstum von 3,6 Prozent. Zudem bestehen erhebliche Abwärtsrisiken für den konjunkturellen Ausblick. Im – mittlerweile unwahrscheinlicher gewordenen – Extremfall könnte es zu einer Gasmangellage kommen, die mit weitreichenden Produktionsausfällen einhergehen dürfte.
Die Verbraucherpreisinflation erreichte im Oktober 2022 in Deutschland mit einer Rate von 10,4 Prozent im Vorjahresvergleich den höchsten Stand seit Anfang der 1950er Jahre. Sie ist von hohen Raten bei allen drei Hauptaggregaten, Energie, Nahrungsmitteln und Kerninflation, getrieben. Auch wenn die Inflation im Laufe des Jahres 2023 rückläufig sein dürfte, ist noch bis ins Jahr 2024 hinein mit überhöhten Inflationsraten zu rechnen. Laut Prognosen des Sachverständigenrates liegt die Inflationsrate 2022 bei 8,0 Prozent und 2023 bei 7,4 Prozent.
Energiekrise und hohe Inflation erfordern schnelles und entschlossenes Handeln durch die Geldpolitik, die Energiepolitik und die Finanzpolitik.
Neben dem verknappten Energieangebot haben vor allem eine hohe globale Nachfrage sowie Angebotsstörungen die Inflation angetrieben. Die negativen angebotsseitigen Schocks belasten die Realwirtschaft. Eine restriktive Geldpolitik dämpft die Nachfrage und belastet die Realwirtschaft zusätzlich. Dennoch war der entschlossene geldpolitische Straffungskurs der Europäischen Zentralbank (EZB) grundsätzlich richtig, um eine Entankerung der Inflationserwartungen zu verhindern, die Glaubwürdigkeit der EZB zu erhalten und die Inflation mittelfristig auf den Zielwert von 2 Prozent zurückzuführen. Die Kunst besteht allerdings darin, die Zinsen mit Augenmaß zu erhöhen, um die Inflation zu dämpfen, ohne dass die Konjunktur übermäßig einbricht und der Euroraum in eine tiefe Krise stürzt. Daher sollte die EZB angesichts der zuletzt leicht entspannten Inflationslage zunächst zu maßvolleren Zinserhöhungen übergehen und dann eine abwartende Haltung einnehmen.
Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg stieg der Erdgaspreis seit Herbst 2021 massiv an und erreichte im Großhandel im Jahr 2022 Höchststände. Da dies auch die Stromerzeugungskosten der Gaskraftwerke stark erhöht hat, stiegen auch die Preise auf dem Strommarkt stark an. Die hohen Preise wurden zum Teil bereits auf private Haushalte und Unternehmen überwälzt und dürften im kommenden Jahr vor allem für Haushalte weiter ansteigen. Um den Energiepreisanstieg kurzfristig zu begrenzen, sollten die umfangreichen Aktivitäten zur Beschaffung von LNG noch verstärkt werden. Darüber hinaus können eine befristete Rückkehr von Kohlekraftwerken aus der Reserve oder die geplante Verschiebung der Stilllegung der Kernkraftwerke zur Entspannung der Energiemärkte beitragen. Dabei handelt es sich allerdings lediglich um Überbrückungsmaßnahmen in der akuten Krise. Die Schlüsselrolle kommt dem möglichst ambitionierten Ausbau der erneuerbaren Energien zu, da ohne sie die Erreichung der Klimaziele verfehlt zu werden droht.
Um die Energiekrise zu bewältigen und ihre kurzfristigen Folgen abzufedern, wurden umfangreiche Entlastungsmaßnahmen beschlossen. Dies ist angesichts der enorm gestiegenen Preise grundsätzlich gerechtfertigt. Nach Analysen des Sachverständigenrates dürfte die rekordhohe Inflation – ohne Kompensationsmaßnahmen und Ausweichreaktionen – die Nettorealeinkommen der privaten Haushalte um durchschnittlich mehr als 5 Prozent mindern. Während die einkommensstärksten 10 Prozent der Haushalte mit 3,7 Prozent belastet werden, sind Haushalte in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung überproportional betroffen, weil der Anteil der besonders stark verteuerten Aufwendungen für Energie an den Gesamtausgaben bei ihnen besonders hoch ist.
Die mittelfristige Schuldentragfähigkeit ist durch die angestrebte zusätzliche öffentliche Kreditaufnahme bislang nicht gefährdet: Die Schuldenstandsquote dürfte unterhalb von 70 Prozent des BIP bleiben und in der Tendenz rückläufig sein; die Zinslastquote dürfte verkraftbar bleiben. Die schwere Energiekrise würde eine erneute Inanspruchnahme der Ausnahmeregel der Schuldenbremse im Jahr 2023 rechtfertigen. Die stattdessen gewählte Finanzierung durch die Befüllung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) als Sondervermögen im Jahr 2022 ist einerseits intransparent. Andererseits mag der WSF die mit Schulden zu finanzierenden Ausgaben stärker auf Energiepreisentlastungen begrenzen als eine neuerliche Ausnahme von der Schuldenbremse im Jahr 2023.
Die Entlastungsmaßnahmen sollten möglichst zielgenau ausgestaltet sein. Bei den privaten Haushalten sollten sie die Energiesparanreize erhalten sowie auf untere und mittlere Einkommen fokussiert sein, die die Belastungen durch die Energiekrise nicht tragen können. Bei den Unternehmen sollten die Unterstützungsmaßnahmen nicht darauf ausgerichtet sein, ausnahmslos alle Unternehmen zu erhalten, sondern nur diejenigen, die bei erwartbar dauerhaft höheren Energiepreisen über ein tragfähiges Geschäftsmodell verfügen. Die Einhaltung der Zielgenauigkeit ist energie- und verteilungspolitisch wichtig. Sie verhindert aber auch, dass die öffentlichen Haushalte mittelfristig unnötig strapaziert werden und dass die Finanzpolitik den Inflationsdruck nachfrageseitig verschärft.
Idealerweise würden direkte Transfers zielgerichtet jene Haushalte entlasten, die von der hohen Inflation besonders stark betroffen sind und gleichzeitig kaum über finanzielle Spielräume verfügen, die Belastungen zu tragen. Möglichst schnell sollte dazu ein unbürokratisches Instrument für einkommensabhängige direkte Transfers entwickelt werden. Die bisherigen Maßnahmen waren jedoch wenig zielgenau. Der Tankrabatt und die Umsatzsteuersenkung auf Erdgas sind weder energie- noch verteilungspolitisch zielgenau. Die Energiepreispauschale sowie die geplanten Gas- und Strompreisbremsen sind energiepolitisch grundsätzlich sinnvoll, weil sie die hohen Marktpreise jenseits des Basisbedarfs in vollem Umfang erhalten und auch beim entlasteten Basisbedarf nicht die Vorkrisenpreise, sondern die mittelfristig erwarteten erhöhten Energiepreise ansetzen. Verteilungspolitisch sind die Maßnahmen jedoch nicht zielgenau, denn sie entlasten auch in hohem Maße Haushalte mit hohen Einkommen, die die Belastungen eigentlich selbst schultern könnten. Selbst wenn die erhaltene Unterstützung der Einkommensteuer unterworfen wird, bleibt ihnen mehr als die Hälfte der Entlastung. Dadurch wird letztlich zu viel Geld ausgegeben, die öffentlichen Haushalte werden unnötig belastet und die Inflation unnötig angeheizt.
Daher plädiert der Sachverständigenrat dafür, befristet diejenigen an der Krisenfinanzierung zu beteiligen, die die hohen Preise schultern können. Der Ausgleich der kalten Progression ist steuersystematisch zwar grundsätzlich gerechtfertigt. In der aktuellen Situation, in der kurzfristig vor allem eine zielgenaue Entlastung unterer Einkommensgruppen geboten erscheint und die Lage der öffentlichen Finanzen angespannt bleibt, wäre eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt sinnvoll. Außerdem könnten Haushalte mit hohen Einkommen, die ungerechtfertigt von den Entlastungsmaßnahmen profitieren durch einen streng befristeten Energie-Solidaritätszuschlag oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes zur teilweisen Gegenfinanzierung herangezogen werden. Das würde das Gesamtpaket zielgenauer machen, die fiskalische Belastung reduzieren und den Inflationsdruck begrenzen.
Dieser Beitrag basiert auf dem Jahresgutachten 2022/2023 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.