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Unterschiedliche Inflationskrankheiten | Inflation | bpb.de

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Herausforderungen für die Stabilisierungspolitik 2023

Unterschiedliche Inflationskrankheiten

Jens Südekum

/ 5 Minuten zu lesen

Die Anatomie der europäischen Inflation ist anders als in den Vereinigten Staaten. Wir erleben Cost Push, nicht Demand Pull. Eine Überstimulierung der Nachfrage hat in Europa nicht stattgefunden.

Im November 2022 betrug die Inflationsrate in Deutschland 10 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. In der Eurozone lag der Wert auf demselben Niveau. Seit Beginn der Währungsunion ist das ein trauriger Rekord. Die gestiegenen Preise sind überall im Alltag spürbar und machen Menschen mit geringen Einkommen und Ersparnissen existenziell zu schaffen. Woher kommen diese Preissteigerungen? Und wie lassen sie sich eindämmen?

Für die Beantwortung dieser Fragen lohnt zunächst ein Blick in die Vereinigten Staaten, wo die globale Teuerung ihren Ausgang nahm. Denn die USA haben fast in Reinform die Geschichte einer nachfragegetriebenen Demand Pull Inflation erlebt. In Reaktion auf die Coronapandemie setzten zuerst Donald Trump und später auch Joe Biden auf größtmöglichen fiskalischen Stimulus. Anders als hierzulande fungierte der Staat in den USA nicht bloß als Versicherung bestehender Beschäftigungsverhältnisse. Zuerst wurde auf rasche Marktbereinigung gesetzt. Viele kleine Firmen verschwanden mit der Coronapandemie vom Markt, und die Arbeitslosenquote schnellte 2020 von unter 4 Prozent auf über 13 Prozent in die Höhe. Dafür wurden in der Folgezeit ultra-voluminöse staatliche Konjunkturprogramme in einem Gesamtumfang von über 5 Billionen Dollar (rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) auf den Weg gebracht. Sie haben den entstandenen Nachfrageausfall nicht bloß geschlossen, sondern um mehr als das Doppelte überkompensiert. Prominente Ökonomen aus dem so titulierten Team Permanent, wie Olivier Blanchard oder Larry Summers, warnten frühzeitig davor, dass dies zu konjunktureller Überhitzung und verfestigter Inflation in den USA führen würde. Und tatsächlich übertrafen die privaten amerikanischen Konsum- und Investitionsausgaben bereits Anfang 2021 schon wieder das Vorkrisenniveau. Diese stark gestiegene Nachfrage traf jedoch auf ein begrenztes Angebot, denn globale Lieferketten waren weiterhin empfindlich gestört, nicht zuletzt wegen der chinesischen Null-Covid-Politik. Der staatlich angefachte Schub entlud sich somit in einem leer gefegten Arbeitsmarkt und löste einen rapiden Inflationsdruck aus, auf den die US-Zentralbank Fed erst relativ spät reagierte. Das Team Permanent lag also richtig, wie prominente Gegenspieler des Team Transitory – etwa Paul Krugman, der zunächst mit einem raschen Verschwinden der Inflation gerechnet hatte – später freimütig zugaben.

Beim europäischen Inflationspatienten liegt indes ein anderes Krankheitsbild vor. Zwar sind einige Symptome vergleichbar: Auch wir erleben eine Normalisierung der Nachfrage nach der Pandemie. Die Menschen fahren wieder in den Urlaub, strömen in die Restaurants und nehmen saftige Preise in Kauf. Bei vielen Gütern gibt es lange Lieferzeiten, denn die Staus der Containerschiffe vor den chinesischen Häfen treffen natürlich auch uns. Doch bei den Ursachen der Krankheit überwiegen die Unterschiede.

Die europäische Inflation ist zuallererst die Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Von der 10-prozentigen Teuerung in der Eurozone ist rund die Hälfte (also 5 Prozentpunkte) direkt dem Einfluss gestiegener Energie- und Lebensmittelpreise geschuldet. Die restlichen 5 Prozent stehen für die Kerninflation. Doch auch die dortigen Preisanstiege sind oft indirekte Folgen der Energiepreisschocks, etwa weil Unternehmen ihre gestiegenen Kosten an die Kunden weiterreichen müssen.

Dagegen ist die heimische (private oder staatliche) Nachfrage kein prominenter
Inflationstreiber. Die europäischen Hilfsprogramme während der Pandemie lagen im Rahmen oder unterhalb der Produktionslücke, die privaten Konsumausgaben haben das Vorkrisenniveau weiterhin nicht erreicht. Zudem sehen wir in der Eurozone keine Zweitrundeneffekte der Energiepreisschocks. Zwar wurde eindringlich vor einer Lohn-Preis-Spirale gewarnt. Doch selbst in stark gewerkschaftlich organisierten Branchen wie der süddeutschen Metall- und Elektroindustrie konnten die Tarifabschlüsse nicht mit der Inflation mithalten, sodass Reallohnverluste von rund 4 Prozent die Folge waren. Nachfragedruck kommt allenfalls aus dem Ausland im Geleitzug des US-amerikanischen Konsumbooms. Denn die straffen Zinserhöhungen der Fed führten zu einer Abwertung des Euro und damit zu beflügelter Importnachfrage aus den USA.

Kurzum: Die Anatomie der europäischen Inflation ist anders als in den Vereinigten Staaten. Wir erleben Cost Push, nicht Demand Pull. Eine Überstimulierung der Nachfrage hat in Europa nicht stattgefunden, worauf auch die Wortführer des Team Permanent wiederholt hinwiesen. Dafür sind wir viel stärker von den Angebotsschocks getroffen, die in fast alle Wirtschaftsbereiche ausstrahlen – letztlich eine Folge unserer Abhängigkeit von russischer Energie, die es so in den USA nie gab.

Wenn sich Krankheitsbilder unterscheiden, sollten auch andere Therapien zum Einsatz kommen: In den USA ist restriktive Geldpolitik folgerichtig, denn bei konjunktureller Überhitzung sind hohe Zinsen zur Abkühlung der Nachfrage unvermeidlich. Dieselbe Medizin kann in Europa, zumal bei zu hoher Dosierung, aber zu höchst unerwünschten Nebenwirkungen führen. Alle Institute erwarten für 2023 eine konsumgetriebene Rezession. Die mit hohen Energiekosten konfrontierten Haushalte werden ihre sonstigen Ausgaben einschränken, denn die Corona-Ersparnisse sind allmählich aufgebraucht. Viele Unternehmen werden auf diesen Mix aus hoher Kostenbelastung bei bröckelnder Nachfrage mit Einschränkungen des Geschäftsbetriebs reagieren. In einer solchen Gemengelage können zusätzliche geldpolitisch induzierte Nachfragedrosselungen der Europäischen Zentralbank (EZB) toxisch sein. Zinspolitik wirkt immer zeitverzögert. Somit dürften sich die bereits beschlossenen Erhöhungen des Hauptrefinanzierungssatzes auf aktuell 2,5 Prozent inmitten der Rezession auswirken und diese länger und tiefer machen als nötig.

Die EZB steht vor einem Dilemma. Sie hat ein eindeutiges Mandat mit Preisniveaustabilität als Primärziel. Insofern musste sie auf die hohe Teuerung reagieren. Die restriktive Geldpolitik dürfte auch dazu beigetragen haben, dass die langfristigen Inflationserwartungen relativ stabil sind und eine Lohn-Preis-Spirale, die es ansonsten vielleicht gegeben hätte, erst gar nicht entstand. Diese Erfolge kann die EZB für sich reklamieren. Aber jetzt darf sie nicht übers Ziel hinausschießen.

Oftmals sind Zentralbanken in Schwellenländern gezwungen, die Zinsschritte der Fed ohne Rücksicht auf die eigene Konjunktur mitzugehen. Dies geschieht, um eine Abwertung der Landeswährung gegenüber dem Dollar zu verhindern, die mit importierter Inflation und erschwerter Bedienung von Auslandsschulden einherginge.

In einem gewissen Sinne sieht sich die EZB gerade mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Aber natürlich kann Europa viel besser mit einem starken Dollar umgehen als einzelne kleine Volkswirtschaften, deshalb sollte der Wechselkurs nicht zu sehr im Fokus stehen. Europa braucht im Angesicht einer Rezession keine weitere Abkühlung der Nachfrage. Das gilt umso mehr, weil sich die Angebotsschocks – also die eigentlichen Inflationstreiber – allmählich von selbst zurückzubilden scheinen. Die EZB sollte das angekündigte Tempo der weiteren Zinserhöhungen deshalb zurückfahren und alsbald einen Kurswechsel einleiten.

ist Professor für internationale Volkswirtschaftslehre des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.
E-Mail Link: suedekum@dice.hhu.de