Im November 2022 betrug die Inflationsrate in Deutschland 10 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. In der Eurozone lag der Wert auf demselben Niveau. Seit Beginn der Währungsunion ist das ein trauriger Rekord. Die gestiegenen Preise sind überall im Alltag spürbar und machen Menschen mit geringen Einkommen und Ersparnissen existenziell zu schaffen. Woher kommen diese Preissteigerungen? Und wie lassen sie sich eindämmen?
Für die Beantwortung dieser Fragen lohnt zunächst ein Blick in die Vereinigten Staaten, wo die globale Teuerung ihren Ausgang nahm. Denn die USA haben fast in Reinform die Geschichte einer nachfragegetriebenen Demand Pull Inflation erlebt. In Reaktion auf die Coronapandemie setzten zuerst Donald Trump und später auch Joe Biden auf größtmöglichen fiskalischen Stimulus. Anders als hierzulande fungierte der Staat in den USA nicht bloß als Versicherung bestehender Beschäftigungsverhältnisse. Zuerst wurde auf rasche Marktbereinigung gesetzt. Viele kleine Firmen verschwanden mit der Coronapandemie vom Markt, und die Arbeitslosenquote schnellte 2020 von unter 4 Prozent auf über 13 Prozent in die Höhe. Dafür wurden in der Folgezeit ultra-voluminöse staatliche Konjunkturprogramme in einem Gesamtumfang von über 5 Billionen Dollar (rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) auf den Weg gebracht. Sie haben den entstandenen Nachfrageausfall nicht bloß geschlossen, sondern um mehr als das Doppelte überkompensiert.
Beim europäischen Inflationspatienten liegt indes ein anderes Krankheitsbild vor. Zwar sind einige Symptome vergleichbar: Auch wir erleben eine Normalisierung der Nachfrage nach der Pandemie. Die Menschen fahren wieder in den Urlaub, strömen in die Restaurants und nehmen saftige Preise in Kauf. Bei vielen Gütern gibt es lange Lieferzeiten, denn die Staus der Containerschiffe vor den chinesischen Häfen treffen natürlich auch uns. Doch bei den Ursachen der Krankheit überwiegen die Unterschiede.
Die europäische Inflation ist zuallererst die Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Von der 10-prozentigen Teuerung in der Eurozone ist rund die Hälfte (also 5 Prozentpunkte) direkt dem Einfluss gestiegener Energie- und Lebensmittelpreise geschuldet. Die restlichen 5 Prozent stehen für die Kerninflation. Doch auch die dortigen Preisanstiege sind oft indirekte Folgen der Energiepreisschocks, etwa weil Unternehmen ihre gestiegenen Kosten an die Kunden weiterreichen müssen.
Dagegen ist die heimische (private oder staatliche) Nachfrage kein prominenter
Inflationstreiber.
Kurzum: Die Anatomie der europäischen Inflation ist anders als in den Vereinigten Staaten. Wir erleben Cost Push, nicht Demand Pull. Eine Überstimulierung der Nachfrage hat in Europa nicht stattgefunden, worauf auch die Wortführer des Team Permanent wiederholt hinwiesen.
Wenn sich Krankheitsbilder unterscheiden, sollten auch andere Therapien zum Einsatz kommen: In den USA ist restriktive Geldpolitik folgerichtig, denn bei konjunktureller Überhitzung sind hohe Zinsen zur Abkühlung der Nachfrage unvermeidlich. Dieselbe Medizin kann in Europa, zumal bei zu hoher Dosierung, aber zu höchst unerwünschten Nebenwirkungen führen. Alle Institute erwarten für 2023 eine konsumgetriebene Rezession.
Die EZB steht vor einem Dilemma. Sie hat ein eindeutiges Mandat mit Preisniveaustabilität als Primärziel. Insofern musste sie auf die hohe Teuerung reagieren. Die restriktive Geldpolitik dürfte auch dazu beigetragen haben, dass die langfristigen Inflationserwartungen relativ stabil sind und eine Lohn-Preis-Spirale, die es ansonsten vielleicht gegeben hätte, erst gar nicht entstand. Diese Erfolge kann die EZB für sich reklamieren. Aber jetzt darf sie nicht übers Ziel hinausschießen.
Oftmals sind Zentralbanken in Schwellenländern gezwungen, die Zinsschritte der Fed ohne Rücksicht auf die eigene Konjunktur mitzugehen. Dies geschieht, um eine Abwertung der Landeswährung gegenüber dem Dollar zu verhindern, die mit importierter Inflation und erschwerter Bedienung von Auslandsschulden einherginge.
In einem gewissen Sinne sieht sich die EZB gerade mit einem ähnlichen Problem konfrontiert.