Industriepolitik steht derzeit ganz oben auf der politischen Agenda der EU und der Vereinigten Staaten. Mit dem Inflation Reduction Act, dem CHIPS and Science Act, dem European Green Deal oder dem European Chips Act versuchen Regierungen, grüne Industrien zu fördern oder die geopolitische Abhängigkeit ihrer Wirtschaft zu reduzieren. Über die Sinnhaftigkeit und Effizienz von industriepolitischen Maßnahmen wird heftig gestritten: Befürworter verweisen auf Beispiele erfolgreicher Industrialisierungsepisoden, die von teilweise tiefgreifenden staatlichen Interventionen geprägt waren – zum Beispiel in den asiatischen Tigerstaaten.
Klar ist: Industriepolitik ist kein neues Phänomen. Beispiele aktiver staatlicher Einflussnahme lassen sich mindestens bis zu den Anfängen der Industriellen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Dies ist in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen stellt sich die Frage, was wir aus der Geschichte über die Wirksamkeit von Industriepolitik lernen können. Zum anderen bedeutet das frühe Vorhandensein von Industriepolitik, dass die Staaten möglicherweise mehr Einfluss auf die geoökonomische Situation vor dem Ersten Weltkrieg hatten, als bisher angenommen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelang es Großbritannien, in seiner Textilindustrie Schlüsseltechnologien zu entwickeln, die dem Land zu einem beispiellosen Wachstum verhalfen. Viele Länder versuchten in der Folge, diese britischen Technologien zu übernehmen und selbst eine heimische Produktion aufzubauen. Bis zum Ersten Weltkrieg gelang es einer kleinen Gruppe von Ländern weltweit, das Pro-Kopf-Einkommen Großbritanniens einzuholen und in einigen Fällen sogar zu übertreffen. Der Mehrheit der Staaten gelang dies nicht. In dieser Periode, die auch als Great Divergence bezeichnet wird, haben sich die Unterschiede in den Pro-Kopf-Einkommen weltweit erheblich vergrößert – und viele dieser Divergenzen bestehen bis heute fort. Eine zentrale Frage ist daher, welche Rolle die Industriepolitik in dieser Zeit gespielt hat.
Was ist Industriepolitik?
Es gibt keinen Konsens darüber, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Industriepolitik zählen. Wir halten eine weite Definition für hilfreich, um die historische Entwicklung zu skizzieren. Demnach steht Industriepolitik für "jene staatlichen Maßnahmen, die explizit auf die Veränderung der Struktur der Wirtschaftstätigkeit abzielen, um ein Ziel im öffentlichen Interesse zu erreichen".
Industriepolitik kann an drei Stellen ansetzen: Erstens können wirtschaftspolitische Maßnahmen den Zugang zu Inputfaktoren erleichtern, vergünstigen oder sichern. Dies betrifft je nach Branche den Zugang zu ungelernten oder qualifizierten Arbeitskräften, den Zugang zu Rohstoffen oder Halbfertigerzeugnissen oder – für die Produktivität sehr wichtig – den Zugang zu Maschinen, die eine effiziente Produktion ermöglichen. Alternativ oder ergänzend kann Industriepolitik auch versuchen, die Innovationskraft in einem bestimmten Sektor zu stärken, um die Produktivität zu erhöhen und damit Wachstum zu generieren.
Der zweite Bereich der Industriepolitik betrifft die Absatzmärkte: Mit welchen wirtschaftspolitischen Instrumenten kann der potenzielle Kundenkreis der Industrie vergrößert werden? Hier ist Handelspolitik wichtig: Freihandelsabkommen mit anderen Staaten ermöglichen exportorientiertes Wachstum. Alternativ kann versucht werden, die Industrie durch hohe Importzölle vor ausländischer Konkurrenz zu schützen – etwa, um einen latent vorhandenen Wettbewerbsvorteil auszubauen, oder es zu ermöglichen, dass Unternehmen voneinander lernen und dadurch die Produktivität der gesamten Industrie steigt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Handelsschranken innerhalb des nationalen Marktes abzubauen, beispielsweise durch den Ausbau von Eisenbahnnetzen. Dies war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Aspekt, da hohe Transportkosten oder auch intranationale Zölle häufig zu einer regionalen Fragmentierung der Staaten und damit zu kleinen Absatzmärkten führten, in denen hohe Produktivität durch Skalenerträge nur schwer zu erreichen war.
Der dritte Bereich schließlich betrifft die Struktur der Wettbewerbsfähigkeit der zu fördernden Industrie. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten politischen Handelns: Beispielsweise kann man den Wettbewerb einschränken und Monopole, Kartelle oder Oligopole zulassen, wenn man glaubt, dass nur große Unternehmen Skalenerträge, Investitionen und Innovationen erzielen können. Andererseits kann man den Wettbewerb zwischen Unternehmen auch aktiv fördern, wenn man glaubt, dass dieser zu mehr Innovation führt. Nationalstaaten vertraten hier unterschiedliche Positionen. In Deutschland beispielsweise waren Kartelle legal, und abweichendes Verhalten von Kartellmitgliedern konnte gerichtlich geahndet werden.
Die Industriepolitik des 19. Jahrhunderts war insgesamt weitreichend und umfassend: Laissez-faire-Politik war die Ausnahme, nicht die Regel. Viele Staaten versuchten, fast alle der oben genannten industriepolitischen Maßnahmen in unterschiedlichen Kombinationen umzusetzen.
Zollstruktur
Die Handelspolitik des 19. Jahrhunderts war ausgeklügelter als gemeinhin angenommen. Viele Länder verhängten niedrige Zölle auf industrielle Vorleistungen wie Maschinen, Rohstoffe oder Halbfertigerzeugnisse und schützten gleichzeitig ihre heimische verarbeitende Industrie durch hohe Zölle. Robert Walpole, der erste britische Premierminister, skizzierte dieses Vorgehen bereits 1721: "Es liegt auf der Hand, dass nichts so sehr zur Förderung des öffentlichen Wohlstands beiträgt wie der Export von verarbeiteten Waren und der Import ausländischer Rohmaterialien."
Die Wirksamkeit von Protektionismus als Industriepolitik wird in der Forschung kontrovers diskutiert – eine eindeutige Bewertung ist aufgrund der komplexen Zusammenhänge schwierig. Einerseits zeigen länderübergreifende Studien, dass Länder, die im 19. Jahrhundert stärker vor Handel „geschützt “ waren, tatsächlich schneller wuchsen als offenere Volkswirtschaften.
Technologie- und Innovationspolitik
Technologie- und Innovationspolitik ist ein weiterer Bereich der Industriepolitik, in dem die Länder eine breite Palette moderner Instrumente eingesetzt haben. Vom bourbonischen Frankreich (1589–1830) bis zum Meiji-Japan (1868–1912) unterstützten viele Staaten auf unterschiedliche Weise den Erwerb und die Übernahme fortschrittlicher Technologien. Einige dieser Instrumente zielten darauf ab, die inländische Innovationskraft zu stärken. So wurden etwa in vielen Ländern Eliteuniversitäten gegründet, wie die École polytechnique in Paris oder die Humboldt-Universität in Berlin. Aber auch berufsbildende höhere Schulen wurden eingerichtet, um Fachkräfte auszubilden, die Maschinen und Technologien verbessern und weiterentwickeln konnten.
Ergänzend dazu wurden im 19. Jahrhundert nach und nach Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums, beispielsweise in Form von Patenten, eingeführt. Vor den 1790er Jahren gab es nur in Großbritannien, Frankreich und den USA einen gewissen Patentschutz.
Andere Länder, vor allem technologische Nachzügler, haben eher versucht, den Technologietransfer aus dem Ausland voranzutreiben. Dabei gab es jedoch zwei größere Hindernisse: Zum einen untersagte Großbritannien bis 1843 den Export von Maschinen und Industriewerkzeugen sowie bis 1825 die Auswanderung von Facharbeitern und Ingenieuren. Zum anderen zeigte sich, dass für den Betrieb ausländischer Maschinen auch Fachwissen erforderlich war, das nicht ohne Weiteres vermittelt werden konnte.
Wie die aktuelle Forschung zeigt, hatten viele dieser Interventionen positive Auswirkungen auf die heimische Innovationskraft und den Technologietransfer aus dem Ausland. So führte beispielsweise das groß angelegte Technologieprogramm von Meiji-Japan zu einer Steigerung der dortigen industriellen Produktivität.
Patentschutz führte hingegen nicht zwangsläufig zu technologischem Fortschritt – und war dafür auch nicht immer notwendig: Länder ohne Patentschutz brachten auf den Technologiemessen zwischen 1851 und 1876 genauso viele oder sogar mehr Innovationen ein. Diese Innovationen stammten jedoch aus anderen Industrien, nämlich aus solchen, in denen Geheimhaltung eine sinnvolle Alternative zum Patentschutz war, zum Beispiel in der chemischen Industrie, bei optischen Instrumenten oder in der Uhrenindustrie.
Infrastruktur
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die regionale, nationale und internationale Infrastruktur massiv ausgebaut. Der Eisenbahn kam dabei eine besondere Rolle zu. Mit ihr konnten notwendige Rohstoffe in die Industriegebiete gebracht werden. In Großbritannien wurden auf diese Weise beispielsweise Kohle aus den Bergwerken und Rohbaumwolle von den Häfen zu den Textilfabriken transportiert.
Die Beteiligungsform der Staaten am Ausbau der nationalen Eisenbahnnetze war sehr unterschiedlich. Länder, die in der industriellen Entwicklung eher Nachzügler waren, wie Schweden oder Japan, nutzten die Eisenbahn ausdrücklich zur Förderung der Industrie. Johan August Gripenstedt, schwedischer Finanzminister von 1856 bis 1866, meinte dazu: „Wenn man unserer Industrie eine helfende Hand reichen will (…), so kann der Staat die Verbesserung des Landes nicht effizienter, angemessener, unparteiischer und herrlicher unterstützen, als durch eine entschlossene Maßnahme zur Errichtung von Eisenbahnen“.
In der wissenschaftlichen Forschung konnte an vielen Beispielen gezeigt werden, dass gerade Eisenbahnnetze viele positive Auswirkungen auf Wirtschaftswachstum und Industrialisierung hatten. Sie erschlossen weite landwirtschaftliche Gebiete innerhalb eines Landes für den Exportmarkt und ermöglichten Produktivitätssteigerungen durch eine stärkere Spezialisierung der Regionen innerhalb eines Landes. Diese Vorteile zeigen sich in den früh industrialisierten Ländern wie Großbritannien, in den später industrialisierten wie Schweden und Japan und sogar in den Kolonien wie Ghana und Britisch-Indien, wo die Entwicklung der Eisenbahn in erster Linie den Interessen der Kolonialherren und nicht der einheimischen Bevölkerung diente. Eisenbahnen führten auch zu mehr Innovation und Technologieübernahme, da Erfinder durch die verbesserten Transportmöglichkeiten mehr über technologische Bedürfnisse wussten und ihre Patente leichter verkaufen konnten.
Neben der Verbreitung der Eisenbahn und der Dampfschifffahrt wurden im 19. Jahrhundert mit der Telegrafie und der Telefonie die ersten Kommunikationsnetze aufgebaut. Das war revolutionär: Erstmals in der Geschichte der Menschheit konnten Informationen schneller „reisen“ als Waren. Die Kommunikationszeiten verkürzten sich drastisch, oft von Wochen oder gar Monaten auf wenige Tage. Das internationale Telegrafennetz erleichterte die Beschaffung von Inputs aus dem Ausland. Ein wichtiges Beispiel ist der transatlantische Telegraf, der die Beschaffung von Rohbaumwolle aus den USA nach Großbritannien effizienter und schneller machte.
Exportförderung
Die internationale Kommunikationsinfrastruktur ermöglichte nicht nur Effizienzgewinne bei der Beschaffung von Rohstoffen, sondern auch beim internationalen Verkauf von industriell gefertigten Produkten: Besonders ausgeprägt war dieser Effekt bei kodifizierbaren Produkten, also solchen, die sich besonders gut mit Worten beschreiben ließen. Dies war beispielsweise bei Baumwollgarn im Gegensatz zu bedruckten Baumwollstoffen der Fall.
Neben der Infrastruktur diente auch die Handelspolitik der Erschließung von Exportmärkten. So bildete sich in den 1860er Jahren in Europa ein System bilateraler Verträge heraus, das auf den anglo-französischen Cobden-Chevalier-Vertrag von 1860 zurückgeht. Obwohl dieser Vertrag oft als ein frühes Beispiel für den Übergang zum Freihandel in Europa interpretiert wird, zeigt die neuere Forschung, dass die Senkung der Zölle keineswegs universell für alle Güter erfolgte, sondern vor allem verarbeitete Fertigprodukte betraf. Insbesondere Länder wie Frankreich, die die Zollsenkungen strategisch auf ihre Exportindustrien ausrichteten, erzielten die größten Handelsgewinne.
Auch andere wirtschaftspolitische Instrumente eigneten sich zur Exportförderung: So wurde die Schifffahrt subventioniert oder quersubventioniert, vor allem die Dampfschifffahrt. Asiatische Staaten wie Japan unterstützten die Handelsfinanzierung, und Deutschland führte vor dem Ersten Weltkrieg Exportsubventionen für die Schwerindustrie ein, die interessanterweise nicht vom Staat, sondern von Kartellen verwaltet wurden.
Auch ohne Handelsbarrieren war die Erschließung ausländischer Märkte oft schwierig: So wurden westliche Produkte in China häufig von japanischen Markenfälschern imitiert. Westliche Marken waren zwar in ihren Heimatländern und in den Unterzeichnerstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums geschützt. China gehörte jedoch nicht dazu. Als das Land schließlich 1923 sein erstes Markenrecht einführte, löste dies einen Anstieg der Importe aus westlichen Ländern aus. Westliche Unternehmen, die bereits in chinesischen Hafenstädten ansässig waren, profitierten von diesem Wachstum auf Kosten japanischer Unternehmen.
Kolonialismus
Wenn man über Industriepolitik im 19. Jahrhundert spricht, darf man natürlich den imperialistischen Kontext nicht außer Acht lassen. Die Kolonialmächte nutzten ihre Kolonien, um industriepolitische Ziele zu erreichen. Rohstoffe für die Industrie wurden in den Kolonien oft unter brutalen und ausbeuterischen Bedingungen beschafft. Darüber hinaus wurden sie als abhängige Märkte für die Produkte des Mutterlandes aufgebaut und unterstützten so die industrielle Entwicklung der jeweiligen Kolonialmacht. Da die Kolonien in den meisten Fällen gezwungen waren, sich auf die Produktion von Rohstoffen zu spezialisieren, konnten sie nicht selbst von der fortschreitenden Industrialisierung profitieren oder diese vorantreiben. Nur in wenigen Fällen wirkte sich die imperialistische Industriepolitik auch langfristig positiv auf die Wirtschaft der Kolonien aus, etwa durch den beschriebenen Bau der Eisenbahnen oder vereinzelt durch den Aufbau kolonialer Industrien.
Schluss
Die Nationalstaaten betrieben im 19. Jahrhundert eine umfassende Industriepolitik, die weit über Protektionismus durch hohe Zölle hinausging. Viele der eingesetzten Instrumente waren sowohl komplex als auch modern und nahmen zeitgenössische best practices vorweg, während andere eng mit dem imperialen Kontext verbunden waren. Die neuere Forschung hat auch gezeigt, dass viele, aber nicht alle dieser Maßnahmen erfolgreich waren. Allerdings könnte hier eine Publikationsverzerrung eine Rolle spielen: Über gescheiterte industriepolitische Episoden ist weniger bekannt. Zudem wurden vor allem einzelne Politikmaßnahmen auf ihre Wirkung hin untersucht. Da viele dieser Maßnahmen möglicherweise komplementär sind, müssten diese Wechselwirkungen weiter erforscht werden.