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Großmachtambitionen, Mittelmachtressourcen | Indische Unabhängigkeit | bpb.de

Indische Unabhängigkeit Editorial Kolonialismus zwischen Modernisierung und Traditionalisierung. Die britische Herrschaft in Indien Auf dem Weg zu Unabhängigkeit und Teilung. Widerstand gegen die koloniale Herrschaft in Britisch-Indien Vom goldenen zum geteilten Bengalen. Eine kurze Geschichte der Bengalen und ihrer Heimatregion Religion, Politik, Nation. Demokratie und Nationalismus in Indien seit der Unabhängigkeit 1947 Demokratie macht den Unterschied. Indiens und Pakistans Regimeentwicklung im Vergleich Großmachtambitionen, Mittelmachtressourcen. Indiens Rolle in der Region und in der Welt Karten

Großmachtambitionen, Mittelmachtressourcen Indiens Rolle in der Region und in der Welt

Christian Wagner

/ 16 Minuten zu lesen

75 Jahre nach seiner Unabhängigkeit nimmt Indien heute eine größere internationale Rolle ein als je zuvor. In seiner Nachbarschaft hat Indien zwar wegen Chinas Einfluss an Bedeutung verloren, doch es verstärkt dafür sein Engagement im Indo-Pazifik.

Seit der Unabhängigkeit 1947 suchen Indiens außenpolitische Entscheidungsträger für ihr Land einen angemessenen Platz auf der internationalen Bühne, der ihrem Verständnis der Größe und der historischen Bedeutung ihres Landes entspricht. Eng damit verbunden ist die Idee der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, die sich wie ein roter Faden durch die indische Außenpolitik in den vergangenen 75 Jahren zieht. Immer wieder tauchen aber auch Diskrepanzen zwischen den internationalen Ambitionen, der wirtschaftlichen Basis, den diplomatischen Kapazitäten und den außenpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten auf. Indien erscheint oft als Land, das einen Großmachtdiskurs mit den Ressourcen einer Mittelmacht führt.

Dennoch hat Indien seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einen deutlichen politischen und wirtschaftlichen Aufstieg auf internationaler Ebene erlebt. Galt das Land in den frühen 1990er Jahren zunächst noch als einer der Verlierer der veränderten internationalen Konstellation nach der Auflösung der Sowjetunion, haben bis zu Beginn der 2020er Jahre wenig andere Staaten seitdem derart an Bedeutung gewonnen. Mittlerweile hat das Land mit nahezu allen Staaten der G20-Gruppe strategische Partnerschaftsabkommen, und es gilt aufgrund seiner Größe als zentraler Akteur in Global-Governance-Foren zu Klima, Umwelt, Energie und Handel. Indiens internationaler Aufstieg ist allerdings kein linearer Prozess. So hat das Land in seinem unmittelbaren regionalen Umfeld durch die wachsende Rivalität mit China eher an Einfluss verloren. Die bereits vor der Corona-Pandemie schwächelnde wirtschaftliche Entwicklung bleibt ein Hemmschuh für die internationalen Ambitionen des Landes. Im Folgenden werden die wichtigsten Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Sicherheit auf internationaler und regionaler Ebene skizziert.

Internationale Ebene: Ringen um Aufstieg und Anerkennung

Politische Ordnungsvorstellungen

Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister und maßgeblicher Architekt der Außenpolitik, formulierte bereits 1946, dass das künftige internationale System von vier Staaten geprägt werden würde: der Sowjetunion, den USA, China und Indien. Obwohl Indien aufgrund seiner eigenen Entwicklungsprobleme international zunächst ein schwacher Akteur war, setzte sich Nehru auf der internationalen Bühne vehement für die Dekolonisierung ein, strebte eine enge Zusammenarbeit mit dem damals noch weitgehend isolierten China an und propagierte eine unabhängige Position der Entwicklungsländer jenseits der Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion. Die 1961 gegründete Bewegung der Blockfreien Staaten war ein Erfolg dieser Politik. Premierministerin Indira Gandhi, die Tochter Nehrus, etablierte Indien in den 1970er und 1980er Jahren als einen der Wortführer der Entwicklungsländer in den Vereinten Nationen.

Aber erst das Ende des Ost-West-Konflikts und die damit veränderte internationale Konstellation ermöglichten es Indien, nach 1991 aufzusteigen. Dieser Prozess lässt sich an vielen Punkten aufzeigen. So spielt Indien heute in den geostrategischen Überlegungen vieler Großmächte eine deutlich größere Rolle als vor 1991. Für die USA ist Indien das einzige Land im Indo-Pazifik (zum "Indo-Pazifik" s. Infokasten auf S. 53 – Anm. d. Red.), das mittelfristig ein Gegengewicht zu China bilden kann. Seit den 1990er Jahren haben alle US-amerikanischen Regierungen ihre politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen mit Neu-Delhi massiv ausgebaut. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Erfolge gilt Indien als einer der zentralen Zukunftsmärkte. So haben auch die Europäische Union und Deutschland ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Indien seit den 1990er Jahren deutlich intensiviert. Die Roadmap 2025 zwischen Indien und der EU aus dem Jahr 2020 und die deutschen Indo-Pazifik-Leitlinien aus demselben Jahr unterstreichen, dass Indien für beide ein zentraler Partner in der Region ist.

Indien ist im Indo-Pazifik eines der wenigen Länder, das eine Teilnahme an Pekings "Belt and Road Initiative", auch bekannt als Seidenstraßen-Initiative, ablehnt. Indien hat sich mit den USA, Japan und Australien zum Quadrilateralen Sicherheitsdialog (Quad) zusammengeschlossen, der ein Gegengewicht zu Chinas expansiven Ambitionen im Indo-Pazifik bilden will.

Trotz der Spannungen und wachsenden Rivalität mit China sieht sich Indien nicht als Teil des "westlichen" Lagers. Premierminister Narendra Modi hat deutlich gemacht, dass die Indo-Pazifik-Strategie seines Landes inklusiv ist und die Zusammenarbeit mit China einschließt. Beide Staaten arbeiten auch im Rahmen der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), im trilateralen Format RIC (Russland, Indien, China) und in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation; SCO) zusammen. Seine internationalen Ambitionen untermauert Indien unter anderem auch mit seiner Forderung nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Indien kritisiert, dass das Gremium nicht mehr die veränderten internationalen Kräftekonstellationen repräsentiere, und untermauert seinen Anspruch mit Verweis auf die wirtschaftliche Entwicklung, die demografische Größe und sein internationales Engagement zum Beispiel in Blauhelmeinsätzen.

Zusammen mit Brasilien, Japan und Deutschland setzt sich Indien im Rahmen der Gruppe der vier Staaten (G4) für eine Reform der UN ein. Indien ist Mitglied der G20-Gruppe und unterhält mit nahezu allen anderen daran teilnehmenden Staaten strategische Partnerschaftsabkommen. Selbst wenn diese oft vage bleiben, unterstreichen sie dennoch den Wunsch vieler Staaten nach einer künftig engeren Zusammenarbeit mit Neu-Delhi. Da Indien mit über 1,3 Milliarden Menschen ein Sechstel der Weltbevölkerung repräsentiert, ist das Land in allen globalen Verhandlungsrunden über Klima und Energie ein zentraler Akteur.

Demgegenüber haben traditionelle Formate, wie die weiterhin existierende Blockfreien-Bewegung, seit den 1990er Jahren deutlich an Bedeutung in der indischen Außenpolitik verloren. Indien setzt auf neue multilaterale Formate, um seinen Führungsanspruch im Globalen Süden zu untermauern, wie zum Beispiel die zusammen mit Frankreich gegründete International Solar Alliance (ISA) und die 2019 gegründete Coalition for Disaster Resilient Infrastructure (CDRI).

Im Zuge seiner außenpolitischen Neuausrichtung hat Indien auch einen Imagewandel vollzogen. Galt das Land über Jahrzehnte hinweg als Synonym für Armut und Unterentwicklung, so wird Indien heute viel stärker mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen, seiner Software-Industrie und seiner aufstrebenden Mittelklasse assoziiert. Einen wichtigen Beitrag hierzu hat auch die hochqualifizierte indische Diaspora vor allem in den USA geleistet. Seit den 1990er Jahren haben indische Regierungen das Potenzial dieser Gruppen erkannt. Wo es möglich ist, wendet sich Premierminister Modi bei Auslandsreisen an die jeweilige indische Diaspora. Indien setzt seit 1991 deutlich stärker als zuvor auf Soft-Power-Instrumente, um seine außenpolitischen Anliegen zu verfolgen.

Wirtschaftliche Entwicklung

Angesichts seiner Entwicklungsprobleme entschied sich Indien in den 1950er Jahren für eine gemischte Wirtschaftspolitik (mixed economy), die sich am sowjetischen Modell anlehnte und mit staatlicher Kontrolle, Eingriffen und Regulierungen verbunden war. Indien gehörte zwar 1947 zu den Unterzeichnern des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade; GATT), schottete sich jedoch durch seine Politik der Importsubstitution in den folgenden Jahren eher vom Welthandel ab. Indiens Anteil am globalen Waren- und Dienstleistungshandel sank von 2 Prozent zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit auf 0,5 Prozent Mitte der 1980er Jahre. Bis 1991 erzielte Indiens damalige gemischte Wirtschaftspolitik nur ein durchschnittliches Wachstum von etwa 3,5 Prozent. Angesichts eines durchschnittlichen Bevölkerungswachstums von etwa 2 Prozent waren damit keine großen Entwicklungsfortschritte möglich.

Das Jahr 1991 markiert nicht nur das Ende des Ost-West-Konflikts, sondern war auch für die Indische Union eine innen- und außenpolitische Zäsur. Wirtschaftspolitisch verlor Indien mit der Auflösung der Sowjetunion seinen wichtigsten Handelspartner, sodass die Regierung in Neu-Delhi zu weitreichenden Wirtschaftsreformen gezwungen war, um eine Zahlungsbilanzkrise abzuwenden. Die Reformen beendeten die staatlich regulierte Wirtschaftspolitik und leiteten eine Politik ein, die auf Auslandsinvestitionen, Exportförderung und Weltintegration abzielte. Getragen wurde diese Neuorientierung von allen großen Parteien, die seitdem in Neu-Delhi an der Regierung waren.

Seit den Reformen 1991 hat Indien als Handelspartner und Investitionsstandort an Bedeutung gewonnen. In der Dekade zwischen 2000 und 2010 erreichte Indien ein jährliches Wachstum des Bruttosozialprodukts von 8,8 Prozent. Die Regierung von Premierminister Modi stärkte Indien nach 2014 als Investitionsstandort und verbesserte den Platz des Landes im "Ease of Doing Business"-Index der Weltbank deutlich. Indien wurde als Produktionsstandort attraktiver, auch wenn es sich im direkten Standortvergleich von Unternehmen nicht immer gegen Konkurrenten wie zum Beispiel Vietnam durchsetzen konnte. Es wurde deshalb zwar nicht zu einer neuen "Werkbank der Welt" wie China, erwarb sich aber vor allem durch seinen großen Dienstleistungssektor und den IT-Bereich einen Ruf als "Büro der Weltwirtschaft".

Indien war 1995 ein Gründungsmitglied der neuen Welthandelsorganisation (World Trade Organization; WTO) und entwickelte sich zusammen mit China und Brasilien zu einem der wichtigsten Gegenspieler der Industriestaaten in internationalen Verhandlungsrunden. Die verbesserte wirtschaftliche Entwicklung führte auch dazu, dass das Land erweiterte Stimm- und Mitspracherechte in Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erhielt.

2019 verkündete Premierminister Modi das ambitionierte Ziel, Indien bis 2024 zu einer Fünf-Billionen-Dollar-Volkswirtschaft und damit nach den USA und China zur drittgrößten Volkswirtschaft in absoluten Zahlen zu machen. Allerdings müsste Indien hierfür ein jährliches Wirtschaftswachstum von etwa 8 Prozent erreichen.

Die Regierung Modis war zunächst zögerlich, Freihandelsverträge abzuschließen, da diese zumeist das Handelsdefizit Indiens mit den jeweiligen Staaten vergrößert hatten. Die Verhandlungen mit der EU über ein Handelsabkommen waren 2013 nach mehreren Jahren gescheitert. Indien war an den Verhandlungen zur Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) beteiligt. Allerdings zog die indische Regierung ihre Unterstützung für das Vorhaben in allerletzter Minute zurück, da sie fürchtete, dass sich das Handelsdefizit mit China noch weiter vergrößern könnte. Erst ab 2021 unterzeichnete Indien wieder bilaterale Freihandelsabkommen, unter anderem mit Mauritius, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Australien. Geplant sind weitere Vereinbarungen mit Großbritannien und Kanada. Mit der EU wurde im April 2022 ebenfalls vereinbart, neue Handelsgespräche aufzunehmen.

Sicherheit

Auf internationaler Ebene engagiert sich Indien seit Mitte der 1960er Jahre in UN-Friedensmissionen. Indien zählt seit Jahrzehnten zu den größten Truppenstellern. So waren 2020 mehr als 5400 indische Blauhelmsoldaten in UN-Einsätzen aktiv.

Mit dem ersten Atomtest 1974 untermauerte die damalige Premierministerin Indira Gandhi die technologische Leistungsfähigkeit ihres Landes. Zugleich unterstrich sie damit auch den Anspruch, auf Augenhöhe mit den anderen Atommächten zu agieren, die 1970 im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) als solche anerkannt worden waren. Der Atomtest brachte für Indien allerdings keinen vergleichbaren Status. Stattdessen gründeten die Industriestaaten die Nuclear Suppliers Group (NSG), die eine Reihe von Sanktionen gegen Indien verhängte. Indien kritisierte den in seinen Augen diskriminierenden Charakter des Vertrags und zählt bis heute zu den wenigen Staaten, die den NVV nicht unterzeichnet haben. Nach den Atomtests 1998 sah sich Indien einer weiteren Reihe von Sanktionen ausgesetzt.

Im Zuge der Annäherung zwischen Indien und den USA unterzeichneten beide Staaten 2005 ein Abkommen über die zivile nukleare Zusammenarbeit, durch das Indien zugleich enger an das Nicht-Verbreitungsregime heranrückte. Das Abkommen beendete Indiens jahrzehntelange Isolation in dieser Frage. Der Beitritt Indiens zur NSG scheitert bislang am Veto Chinas, doch erlaubte es das Abkommen, dass Indien weiteren Rüstungskontrollregimen beitrat, zum Beispiel 2016 dem Raketentechnikkontrollregime (Missile Technology Control Regime; MTCR), 2017 dem Wassenaar-Abkommen und 2018 der Australien-Gruppe. Darüber hinaus unterzeichneten bis 2019 14 Staaten Abkommen mit Indien über die zivile nukleare Zusammenarbeit.

Aufgrund der langen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ist die indische Armee bis heute in hohem Maße von russischen Rüstungsgütern abhängig. Diese enge Zusammenarbeit führte auch dazu, dass sich Indien in den UN nicht gegen die Sowjetunion beziehungsweise Russland stellte. Obwohl Indien ein vehementer Verfechter nationaler Souveränität ist, enthielt es sich 2022 bei den UN-Resolutionen gegen Russland nach dessen Angriff auf die Ukraine. Im Zuge der Modernisierung seiner Streitkräfte hat Indien seine Rüstungsexporte in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend diversifiziert, sodass mittlerweile auch die USA und Israel zu den wichtigsten Rüstungsimporteuren zählen.

Regionale Ebene: Von Südasien zum Indo-Pazifik

Politische Ordnungsvorstellungen

Im regionalen Rahmen setzte Nehru zunächst auf eine stärkere Zusammenarbeit in Asien. Gegenüber seinen unmittelbaren Nachbarn in Südasien dominierten allerdings die Sicherheitsinteressen Indiens, zum Beispiel im Kaschmirkonflikt mit Pakistan oder aufgrund des ungeklärten Grenzverlaufs mit China. Die Indira-Doktrin von Premierministerin Indira Gandhi umfasste den Anspruch Indiens, ohne die Einmischung externer Großmächte als Ordnungsmacht in der Region zu fungieren. Die Idee einer Regionalorganisation ging ursprünglich von Bangladesch aus und war als Gegengewicht gegen die Dominanz Indiens in der Region gedacht. Als 1985 die South Asia Association for Regional Cooperation (SAARC) gegründet wurde, schlossen sich ihr aber auch Indien und Pakistan an. Erst Mitte der 1990er Jahre gingen indische Regierungen dazu über, den Nachbarstaaten bei bilateralen Konflikten größere Zugeständnisse einzuräumen.

Premierminister Modi bekräftigte 2014 mit seiner "Neighbourhood First"-Politik Indiens regionalen Führungsanspruch. Allerdings musste das Land hier eine Reihe von Rückschlägen hinnehmen. Der wichtigste Faktor waren die seit dieser Zeit zunehmenden chinesischen Investitionen im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative, mit denen Beijing seinen Einfluss in der Region sukzessive erweiterte. Viele Nachbarn Indiens begrüßten das chinesische Engagement, hatten sie doch bereits in der Vergangenheit immer wieder die "China-Karte" gespielt, um ein Gegengewicht zu Neu-Delhi zu schaffen. Obwohl China in den vergangenen Jahren in Südasien an Einfluss gewonnen hat, steht es nun vor ähnlichen Problemen wie Indien. So haben Regierungswechsel in südasiatischen Staaten auch zu einer Neubewertung des chinesischen Engagements geführt, unter anderem in Sri Lanka und auf den Malediven. In Reaktion auf Chinas gestiegenes Engagement hat Indien in den vergangenen Jahren seine Zusammenarbeit mit den USA und Japan in Südasien ausgebaut, unter anderem in Nepal und Sri Lanka. Diese Entwicklungen zeigen, dass die Region nicht mehr wie in den 1980er Jahren noch eine "natürliche" Einflusszone Indiens ist, sondern künftig stärker vom Ringen zwischen Neu-Delhi und Beijing geprägt sein wird.

Zugleich stagnierten die Bemühungen für eine stärkere Zusammenarbeit in Südasien. Neben der Rolle Chinas wurde dies auch durch Indiens Politik der Abkopplung gegenüber Pakistan nach 2016 befördert. In Reaktion auf einen Anschlag pakistanischer Terrorgruppen im indischen Jammu und Kaschmir im September 2016 sagte Indien seine Teilnahme am geplanten Gipfeltreffen der SAARC in Islamabad ab. Nach den Protesten Pakistans gegen Indiens Entscheidung im August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir in zwei Unionsterritorien aufzuteilen, haben sich die bilateralen Beziehungen weiter verschlechtert.

Im Zuge der außenpolitischen Neuorientierung haben indische Regierungen seit den 1990er Jahren auch ihren regionalen Radius erweitert. Mit der "Look East"-Politik verstärkte Indien ab 1991 seine Beziehungen zu den wirtschaftlich aufstrebenden Staaten der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN). Nach 2014 propagierte Premierminister Modi eine "Act East"-Politik, mit der er Indiens verstärktes politisches, wirtschaftliches und militärisches Engagement in Asien bekräftigte.

Neue Konzepte wie das "Südliche Asien" (Southern Asia) oder die "erweiterte Nachbarschaft" (Extended Neighborhood) unterstrichen Indiens neue regionale Ambitionen, die sich von der Ostküste Afrikas über den Indischen Ozean bis nach Südostasien erstreckten. In diesem Zusammenhang engagierte sich Indien 1997 bei der Gründung neuer Regionalorganisationen wie der Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation (BIMSTEC) und der Indian Ocean Rim Association (IORA). Im Zuge der wachsenden Rivalität zwischen China und den USA unterstützt Indien jetzt auch die Idee des Indo-Pazifiks, um damit dem Aufstieg Beijings zu begegnen. In diesem Rahmen ist Indien im Quad aktiv und hat auch seine bilateralen Beziehungen vor allem zu Japan und Australien in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut.

Wirtschaftliche Zusammenarbeit

In Südasien blieb der intraregionale Handel angesichts der schwierigen Lage zwischen den beiden größten Volkswirtschaften Indien und Pakistan unterentwickelt und beträgt Schätzungen zufolge nur etwa 5 bis 6 Prozent. Infolge der Abkopplung von Pakistan seit 2016 forciert Indien die regionale Zusammenarbeit im Golf von Bengalen im Rahmen von BIMSTEC. Dies fügt sich auch in Modis "Act East"-Politik ein. Auf dem Gipfeltreffen 2022 in Colombo verabschiedeten die Mitglieder von BIMSTEC eine gemeinsame Charta und legten sieben Arbeitsgebiete fest, die von je einem Land in Federführung vorangetrieben werden sollen.

Indiens wirtschaftliche Entwicklung steht ebenfalls vor einer Reihe von Problemen. Bereits vor der Corona-Pandemie war das Wirtschaftswachstum rückläufig und erreichte nur noch etwa 5 Prozent. Die Zielmarke der Regierung liegt allerdings bei einem Wachstum von rund 7 Prozent, da nur so auch ambitionierte Entwicklungsziele erreicht werden können. Durch die Pandemie erlitt Indien den schwersten wirtschaftlichen Einbruch aller Schwellenländer, das Bruttoinlandsprodukt sank um 7,7 Prozent. Damit wurde auch eine Reihe von Entwicklungserfolgen der vergangenen Jahrzehnte wieder zunichte gemacht.

Die junge Bevölkerungsstruktur des Landes gilt mittelfristig als Standortvorteil im internationalen Wettbewerb, gerade gegenüber Ländern wie China. Den Aussichten auf eine demografische Dividende stehen allerdings Defizite im Bildungsbereich sowie eine hohe Arbeitslosigkeit entgegen, die bereits vor der Corona-Pandemie neue Höchststände erreicht hatte.

Premierminister Modi verkündete während der Corona-Pandemie im Frühsommer 2020 eine neue wirtschaftspolitische Ausrichtung, die auf mehr Eigenständigkeit (Atmanirbhar Bharat Abhiyaan) ausgerichtet sein soll. Modi strebt damit aber keine Neuauflage der Politik der Importsubstitution der 1950/60er Jahre an. Der künftige Schwerpunkt liegt nicht auf Staatsinterventionismus, sondern es sollen jetzt verstärkt privat geführte, nationale Champions im Energie- und Telekommunikationsbereich aufgebaut werden.

Sicherheit

Im regionalen Kontext ist Indien seit der Unabhängigkeit mit zwei Territorialkonflikten konfrontiert. Dies ist erstens der schwelende Streit mit Pakistan über die Zugehörigkeit von Jammu und Kaschmir, der Ursache von drei (1947/48, 1965, 1999) von vier Kriegen zwischen beiden Staaten war. Der vierte war der Bürgerkrieg in Ostpakistan 1971, auch Bangladesch-Krieg genannt. Zweitens ist es der ungeklärte Grenzverlauf mit China. Der Konflikt führte 1962 zu einem kurzen Grenzkrieg, der mit der militärischen Niederlage Indiens endete. Die Annäherung zwischen Indien und China in den 1990er Jahren führte zu einer Reihe von Abkommen, um die Situation in der Grenzregion zu stabilisieren. Dieser Status Quo endete im Sommer 2020, als bei einem Zusammenstoß zwischen indischen und chinesischen Truppen in der Region Ladakh/Aksai Chin 20 indische und eine unbekannte Zahl chinesischer Soldaten getötet wurden. Seitdem haben beide Seiten ihre Truppen und militärische Infrastruktur entlang der Grenzlinie weiter verstärkt.

Indien hat seine regionalen Ordnungsansprüche mit politischen und militärischen Mitteln umgesetzt. Die Freundschaftsverträge mit Bhutan (1949), Nepal (1950) und Sikkim (1950) sicherten Indiens Vormachtstellung im Himalaya gegenüber China. Mit militärischen Interventionen wie im Bürgerkrieg in Ostpakistan, in Sri Lanka (1987–1990) und auf den Malediven (1988) versuchte Indien mit wechselndem Erfolg, innenpolitische Krisen in den Nachbarstaaten beizulegen. Der Kampf gegen den grenzüberschreitenden Terrorismus hat auch die militärische Zusammenarbeit zwischen Indien und seinen Nachbarländern, mit Ausnahme Pakistans, verbessert.

Seit den 2000er Jahren versteht sich Indien verstärkt als Sicherheitsanbieter für die Staaten im Indischen Ozean, um damit auch dem wachsenden chinesischen Einfluss in der Region zu begegnen. So hat Indien ein Netz an Radarstationen in Anrainerstaaten des Indischen Ozeans aufgebaut, unter anderem auf Mauritius, den Seychellen und in Sri Lanka. Bangladesch, Myanmar und die Malediven sollen ebenfalls miteinbezogen werden. Ein weiterer Baustein ist, dass Indien seine Kapazitäten beim Katastrophenschutz ausgebaut hat, um bei Naturkatastrophen wie dem Tsunami 2004, dem Erdbeben in Nepal 2015 oder bei humanitären Krisen als Ersthelfer zu fungieren.

Premierminister Modi propagierte seit 2014 den Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie. Damit will Indien einerseits unabhängiger von Rüstungsimporten werden, andererseits sollen Rüstungsgüter exportiert werden, um damit mittel- bis langfristig Indiens internationalen Einfluss vor allem im Indischen Ozean und in Afrika zu vergrößern.

Ausblick: Indiens neue Rolle in der Welt

75 Jahre nach seiner Unabhängigkeit nimmt Indien heute eine größere internationale Rolle als je zuvor ein. Die wichtigsten Ursachen hierfür sind die wirtschaftlichen Wachstumserfolge des Landes nach 1991 sowie die veränderten internationalen Konstellationen. Die Erfolge Indiens auf internationaler Ebene zeigen sich nicht nur in den verbesserten Beziehungen zu allen Großmächten, sondern auch am neuen Gewicht, dass das Land in multilateralen Finanzinstitutionen und in Global-Governance-Foren erhalten hat. In seinem unmittelbaren regionalen Umfeld hat Indien zwar durch den wachsenden Einfluss Chinas an Bedeutung verloren, doch versucht die Regierung in Neu-Delhi dies durch ein verstärktes Engagement im Indo-Pazifik auszugleichen.

In der sich abzeichnenden systemischen Rivalität zwischen den USA und China wird Indien an seiner unabhängigen und eigenständigen Außenpolitik festhalten. Außenpolitische Entscheidungsträger haben ihr Land immer auf Augenhöhe mit China gesehen, selbst wenn die wirtschaftlichen und militärischen Kennzahlen oft noch ein anderes Bild liefern. Die Umsetzung von Indiens internationalen Ambitionen bleibt vor allem von nationalen Faktoren abhängig. Hierzu bedarf es eines größeren Wirtschaftswachstums und einer Reform des diplomatischen Dienstes, der mit weniger als Tausend Diplomaten eher dem von Ländern wie Singapur oder Neuseeland entspricht.

Das 21. Jahrhundert wird oft als asiatisches Jahrhundert charakterisiert, das vor allem von China geprägt wird. Die engere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA und Europa kann dazu beitragen, dass das gegenwärtige Jahrhundert auch von Indien gestaltet wird.

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ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik.
E-Mail Link: christian.wagner@swp-berlin.org