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Religion, Politik, Nation | Indische Unabhängigkeit | bpb.de

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Religion, Politik, Nation Demokratie und Nationalismus in Indien seit der Unabhängigkeit 1947

Michael Collins

/ 18 Minuten zu lesen

Hindu-Nationalismus ist kein ausschließlich modernes Phänomen, sondern ein langfristiges historisches Projekt. Er drang von den Rändern in die politische Mitte ein und wirkt sich auf den Zustand von Demokratie und Säkularismus in Indien aus.

Als Indien 1947 unabhängig wurde, beurteilten Experten die Aussichten einer demokratischen Entwicklung im neu entstandenen Staat eher pessimistisch. Mitte des 20. Jahrhunderts ging man davon aus, dass eine erfolgreiche Demokratisierung eine solide Mittelschicht, eine lebendige Zivilgesellschaft und eine hohe Alphabetisierungsrate benötigt. Kritiker nahmen zudem an, dass die in der indischen Bevölkerung bestehenden Spaltungen aufgrund von Religion, Kastenzugehörigkeit und Sprache den demokratischen Prozess zusätzlich behindern würden. Doch Indien belehrte die Kritiker eines Besseren, trotzte allen Hindernissen und galt schon bald als leuchtendes Beispiel für Demokratie in der dekolonisierten Welt. Allerdings hat die Erfolgsgeschichte der "größten Demokratie der Welt" in jüngster Zeit Risse bekommen. Es wächst die Sorge angesichts der Frage, ob das demokratische Gemeinwesen wirklich alle einschließt und welche Auswirkungen der ethnoreligiöse Nationalismus auf die Politik, die staatlichen Institutionen und die multiethnische Gesellschaft hat.

Indien steht heute am Scheideweg. Wissenschaftler, zivilgesellschaftliche Aktivisten und Menschenrechtsorganisationen zeigen sich beunruhigt angesichts der Politik der Mehrheit gegenüber Minderheiten und verweisen auf neue restriktive Gesetze zur Staatsbürgerschaft, die Aushöhlung bürgerlicher Freiheiten, die Unterdrückung unabhängiger Medien, zunehmende Gewalt gegen Minderheiten sowie die Schikanierung und Inhaftierung politischer Dissidenten. Als Reaktion auf die veränderte Situation greifen Experten mittlerweile auf eine sprachliche Differenzierung zurück und bevorzugen Formulierungen wie "demokratischer Autoritarismus", "Wahlautokratie" und "Ethnokratie", um den Zustand der Demokratie in Indien zu beschreiben. Der vom US-amerikanischen Außenministerium 2021 herausgegebene "Report on International Religious Freedom" löste eine internationale Debatte aus, als er auf die wachsende Intoleranz gegenüber religiösen Minderheiten in Indien hinwies, vor allem gegenüber Muslimen, die etwa 15 Prozent (213 Millionen) der Bevölkerung stellen – womit Indien die zweitgrößte muslimische Bevölkerung der Welt hat. Die Debatte über Indiens Status als säkulare Demokratie ist also sehr aktuell, doch die Ursachen für die derzeitige Krise liegen weit zurück.

Ich betrachte in meinem Beitrag die Verbindungen zwischen Demokratie, Nationalismus und Religion in Indien unter besonderer Berücksichtigung des zeitgenössischen Hindu-Nationalismus, beginnend in der späten Kolonialzeit mit dem Konzept der Hindutva, einer politischen Doktrin, die "Hindus" in zivilisatorischer Hinsicht als "Volk" neu definierte, das sich über eine gemeinsame Abstammung, Sprache, Kultur und ein gemeinsames heiliges Land definiert. Das Konzept der Hindutva – seine Urheber und Anhänger unterscheiden sehr genau zwischen Hindutva und Hinduismus – bildet die Grundlage für den ethnoreligiösen Nationalismus in Indien, der das Land zu einer Hindu Rashtra (Hindu-Nation) umgestalten will. Im Anschluss daran verfolge ich die Entwicklung bis in die Gegenwart und beschreibe das Wachstum des ethnoreligiösen Nationalismus und seine Ausbreitung von den politischen Rändern bis in die Mitte der Wählerschaft. Die größte hindu-nationalistische Partei in Indien, die Bharatiya Janata Partei (BJP, "Indische Volkspartei"), ist heute die dominierende Kraft im Land und hat bei den beiden vergangenen Wahlen auf nationaler Ebene 2014 und 2019 die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erreicht. Welche Auswirkungen dieser Aufstieg auf Säkularismus und Demokratie in Indien hat, wird zum Schluss erörtert.

"Wer ist ein Hindu?"

Ein Großteil dessen, was heute als "indische Überlieferung" gilt, wurde erst während der Kolonialzeit im Rahmen eines dynamischen Austauschs zwischen britischen Beamten, europäischen Indologen, Hindu-Reformern und der Gesellschaft vor Ort übersetzt, kodifiziert und diskutiert. Nachdem die Briten die Kontrolle über den Subkontinent erlangt hatten, machten sie sich daran, ihre Herrschaft zu festigen und Indien zu "entdecken". Das geschah durch die duale Praxis der Übersetzung und Erfassung. Zunächst übersetzten Kolonialbeamte und europäische Indologen mit Unterstützung der Brahmanen aus der obersten Kaste alte Sanskrittexte. Sie betrachteten den Hinduismus dem europäischen Konzept der Religion folgend als einen institutionalisierten Glauben mit einem Klerus und heiligen Texten. Bei diesem frühen Ansatz stellten sie die Sanskrittexte als die maßgeblichen heiligen Schriften des Hinduismus dar und legten den Schwerpunkt auf eine exklusive brahmanische Version, in der sie den dominierenden Strang des Hinduismus sahen. Darüber hinaus führte die Kolonialverwaltung Volkszählungen durch, bei denen die einheimische Bevölkerung aufgrund bestimmter Merkmale erfasst und klassifiziert wurde, die die Kolonialbeamten für die wichtigsten Kriterien hielten: Kaste und Religion. Anfangs waren viele Befragte verwirrt, wenn sie ihre Religion nennen sollten, da der Begriff "Hindu" noch gar nicht so lange existierte, wie der Geograf Sanjoy Chakravorty erklärt: "In den präkolonialen Sanskrittexten wird kein einziges Mal das Wort 'Hindu' verwendet." Dennoch diente "Hindu" als Standardkategorie bei der Erfassung der Bevölkerung und wurde zum Sammelbegriff für eine bemerkenswerte Vielfalt an lokalen Traditionen und Praktiken.

Bei der "Entdeckung" Indiens reduzierte die Kolonialverwaltung die große Mehrheit der Bevölkerung – und ihre Glaubensvorstellungen – auf starre administrative Kategorien, die Kaste und Religion zu dominanten Identitätskriterien bestimmten, obwohl es gar nicht unbedingt darum ging, eine bestimmte Lehre von oben aufzuzwingen. Als Reaktion darauf wurden lokale Gruppen aktiv und stellten die europäische Darstellung des Hinduismus infrage, definierten seine Grundsätze neu oder reformierten diese. Im 19. Jahrhundert entstanden sozioreligiöse Reformbewegungen, die eine Ära der Erneuerung des Hinduismus einläuteten. 1875 wurde der Arya Samaj ("Gesellschaft der Edlen") gegründet, um den Bekehrungsversuchen christlicher Missionare entgegenzuwirken, die hinduistische Praktiken und Glaubensvorstellungen herabsetzten. Doch die Führer des Arya Samaj verteidigten den Hinduismus nicht nur gegen die Angriffe der Missionare, sondern versuchten auch, hinduistische Praktiken wie das hierarchische Kastensystem zu reformieren. Eine weitere Motivation der Hindu-Reformer war ihre Angst vor einem demografischen Wandel. In ihren Augen waren Hindus als Gemeinschaft durch die christliche Missionierung derart bedroht, dass sie im Laufe der Zeit zur Minderheit im eigenen Land werden könnten. Entscheidend war jedoch vor allem, dass Reformbewegungen wie der Arya Samaj Sanskrittexte neu interpretierten (oft auf Grundlage der Arbeit europäischer Indologen) und dabei ein "Goldenes Hindu-Zeitalter" erfanden. Diese revisionistische Geschichtsdeutung, obwohl ursprünglich dazu gedacht, Hindus mit Stolz zu erfüllen und ihrem Glauben eine ähnlich beeindruckende Historie wie anderen Religionen zu geben, fungierte als treibende Kraft für die frühen Schriften der Hindu-Nationalisten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stattete eine neue Generation von Ideologen den Begriff "Hindu" mit weiteren Bedeutungen aus. Ihnen ging es weniger um die Glaubenslehre, vielmehr definierten sie "Hindus" als ein Volk, das durch seine gemeinsame Abstammung, seine spirituelle Heimat, Sprache und Geschichte geeint sei. 1923 verfasste Vinayak Damodar Savarkar (1883–1966) die Schrift "Hindutva: Who is a Hindu?", die zur Grundlage des Hindu-Nationalismus wurde. Um seinen Text als politische Doktrin zu kennzeichnen, verwendete Savarkar den Begriff Hindutva ("Hindusein"). Der Begriff bringt Religion und nationale Identität so zusammen, dass, wie der Anthropologe Peter Van der Veer argumentiert, "ein Inder ein Hindu ist – eine Gleichung, die wichtige andere indische Religionsgemeinschaften wie Christen und Muslime aus der Nation ausklammert". Aus dieser Sicht ist Indien eine Hindu Rashtra (Hindu-Nation), also "eine Körperschaft durch, für und aus der die Mehrheit bildende Hindu-Gemeinschaft". Andere, wie etwa Mahadev Sadashivrao Golwalkar (1906–1973), führten diesen aufkeimenden Nationalismus weiter. In "We, or Our Nationhood Defined" (1939) nannte Golwalkar die Tschechoslowakei als Beispiel für das Scheitern multinationaler Staaten, während er Deutschland als Vorbild für einen Nationalstaat auf ethnischer Grundlage betrachtete. Hindus wurden nicht nur als Volk mit einheitlicher Abstammung betrachtet, sondern auch als Gruppe, deren Existenz durch "das Andere" bedroht wurde – das in diesem Fall von religiösen Minderheiten im Land und vor allem von Muslimen verkörpert wurde.

Schon bald entstand auf der ideologischen Grundlage der Hindutva eine institutionalisierte Bewegung. 1925 gründete Keshav Baliram Hedgewar, ein Gefolgsmann Savarkars, den Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, "Nationaler Freiwilligen-Bund"), der, obwohl von Brahmanen der obersten Kaste geführt, den Anspruch erhob, alle Hindus einzuschließen. In den sogenannten shakhas (Zweigstellen), die heute in ganz Indien verbreitet sind, trafen sich die Mitglieder – Jugendliche wie Erwachsene – regelmäßig zu sportlichen Übungen und ideologischen Schulungen, um die körperliche Fitness und mentale Stärke zu erlangen, die als notwendig für die "Verteidigung" der Hindus erachtet wurden. 1927 entwickelte der RSS Ausbildungsprogramme für pracharaks, leitende Funktionäre, die durchs Land reisten, um neue RSS-Zweige zu gründen und dessen lokale Präsenz zu erhöhen. In den Folgejahren erweiterte der RSS seine Struktur um eine umfangreiche Palette an Mitgliedsorganisationen, die die Infrastruktur (und die Führungsebene) der hindu-nationalistischen Bewegung bilden.

Auf und Ab bei Wahlen

Auf dem Weg Richtung Unabhängigkeit trafen in Indien zwei unterschiedliche Konzepte von "Nation" aufeinander. Das eine war die Vorstellung einer säkularen Nation, die von prominenten Figuren im Nationalkongress befürwortet wurde, darunter Mahatma Gandhi (1869–1948) und Jawaharlal Nehru (1889–1964), der erste indische Premierminister. Allerdings entsprach ihr Modell des Säkularismus nicht dem einer liberalen westlichen Demokratie. Anstelle einer völligen Trennung von Religion und Staat versprach der indische Säkularismus eine Gleichstellung der Glaubensrichtungen, was bedeutete, dass die Regierung keine Religion gegenüber den anderen bevorzugen sollte. Anstatt also die Religion aus der Politik zu verbannen, sollte die Regierung eine "prinzipiengeleitete Distanz" wahren. Dieses Modell des Säkularismus stand im Widerspruch zum Konzept des ethnoreligiösen Nationalismus, das in den Schriften der frühen Hindutva-Ideologen entwickelt worden war und vom RSS unterstützt wurde. Der RSS strebte eine Hindu-Nation an und übte scharfe Kritik an sogenannten Pseudo-Säkularisten, die sich auf Kosten der "einheimischen" Hindu-Mehrheit für religiöse Minderheiten einsetzten.

Anfangs verzichtete die RSS-Führung auf eine Teilnahme an Wahlen. Stattdessen sollte die Gesellschaft von Grund auf durch Organisation an der Basis und engagierte Arbeit vor Ort verändert werden. Der RSS verfolgt bis heute seine Ziele über ein umfangreiches Netzwerk an Verbündeten, zu denen Studierendenorganisationen und Gewerkschaften gehören, Wohlfahrtsverbände für Stammesgemeinschaften und Dalits (die ehemaligen "Unberührbaren"), Gesundheitszentren auf dem Land, Schulen und unzählige andere Organisationen, die die Ideologie des RSS verbreiten und um neue Anhänger werben, oft auch durch die Unterstützung der Ärmsten der Bevölkerung und entsprechende Angebote für sie. Der Vishwa Hindu Parishad (VHP, "Welt-Hindu-Rat"), dessen Führung überwiegend aus pensionierten Beamten besteht, darunter auch ehemalige hochrangige Polizisten, zählt in diesem Netzwerk zu den wichtigsten Akteuren. Er hat die Aufgabe, Hindus im In- und Ausland zu organisieren und ideologisch bei der Stange zu halten. Der RSS und seine Mitgliedsorganisationen sind als Sangh Parivar oder Sangh-Familie bekannt, die heute offiziell 36 Organisationen umfasst, zu der aber inoffiziell noch Dutzende weitere gehören.

Trotz seiner anfänglichen Abneigung gegen Wahlen wurde der RSS durch die Ermordung Gandhis schon bald nach der Unabhängigkeit in die Politik hineingezogen. Der Attentäter, ein gewisser Nathuram Godse, war ein Anhänger Savarkars mit Verbindungen zum RSS. Gandhis Tod versetzte das Land in Aufruhr und veranlasste die Regierung unter dem Indischen Nationalkongress (Indian National Congress; INC, auch Kongresspartei genannt), den RSS, der damals von Gowalkar geführt wurde, zu verbieten und 20000 RSS-Mitglieder zu verhaften, wodurch zahllose weitere in den Untergrund getrieben wurden. Als das Verbot 16 Monate später wieder aufgehoben wurde, suchte Gowalkar mit seiner Organisation weiter die Öffentlichkeit und war maßgeblich an der Gründung der Bharatiya Jana Sangh (BJS, "Indische Volksvereinigung") beteiligt, die eine hindu-nationalistische Alternative zur säkularen Politik des INC bot. Offiziell war die BJS eine separate Organisation, wurde jedoch von beim RSS ausgebildeten Kräften geleitet, die seit Langem bestehende persönliche Verbindungen zur Mutterorganisation unterhielten und ähnliche ideologische Überzeugungen vertraten.

Der Erfolg der BJS bei Wahlen fiel zunächst bescheiden aus. Der INC, der von seinem jahrzehntelangen Kampf für die Unabhängigkeit profitierte, war ein politisches Schwergewicht, das die indische Politik in der ersten Phase nach der Unabhängigkeit dominierte. Darüber hinaus entsprach der Hindu-Nationalismus der BJS nicht der säkular ausgerichteten Politik jener Zeit, weshalb andere Parteien wohlweislich auf Distanz zur BJS gingen. Folglich änderte die BJS in den späten 1960er Jahren ihr Programm, schlug bei besonders polemischen Themen gemäßigtere Töne an und erfand sich im Bemühen um eine höhere Akzeptanz praktisch neu. Kurz darauf veränderte sich die politische Situation erheblich. 1975 verhängte der indische Präsident Fakhruddin Ali Ahmed auf Bitte der Premierministerin und Vorsitzenden des INC Indira Gandhi den Notstand, der bis 1977 anhielt. Dadurch wurden praktisch alle demokratischen Vorgänge ausgesetzt, bürgerliche Freiheiten eingeschränkt und die politische Opposition verboten, und die zentrale Regierung erhielt die Vollmacht, am Parlament vorbei per Dekret zu regieren. Gandhis Flirt mit dem Autoritarismus hatte zur Folge, dass ihre Gegner zwar unterdrückt wurden, sich aber gleichzeitig konsolidieren konnten. 1977 tat sich eine bunte Mischung von Parteien quer über das politische Spektrum hinweg – von Hindu-Nationalisten bis zu Sozialisten – zusammen und bildete die Janata Party ("Volkspartei"), die bei der Wahl wenige Monate später den INC entthronen konnte.

Die Janata Party ritt auf einer Welle des Ressentiments gegen den INC zum Sieg, und die BJS schnitt bei den Wahlen besonders gut ab. Doch kaum war das Parteienbündnis an der Macht, zeigten sich erste Risse. Die BJS wurde aufgrund der von ihr wiederbelebten hindu-nationalistischen Grundsätze von ihren Koalitionspartnern ins politische Aus befördert. Der Trend sollte sich in den kommenden Jahren wiederholen: Während die ethnoreligiösen Appelle der BJS bei den Wählern gut ankamen, gefährdete ihr Parteiprogramm die Beziehungen zu anderen Parteien, die jedoch zentral waren, um Macht zu erlangen. Das galt vor allem für die 1980er Jahre, als Koalitionen nach der Schwächung des INC unumgänglich waren und das indische Parteiensystem stark zersplittert war. Dass es der BJS nicht gelang, eine breitere Akzeptanz bei politischen Partnern zu finden und die hindu-nationalistische Agenda politisch umzusetzen, veranlasste die Führung von RSS und BJS schließlich dazu, ihre Strategie zu überarbeiten und einen neuen Ansatz zu verfolgen, bei dem das Sangh-Parivar-Netzwerk genutzt und die Verantwortung auf verschiedene Verbündete verteilt wurde.

Im Mainstream angekommen

Die 1980er Jahre markierten eine neue Ära für die ethnoreligiöse Politik in Indien. Nachdem führende BJS-Politiker 1980 die Janata Party verlassen mussten, gründeten sie die BJP. Während die Sangh-Parivar-Partner – vor allem der VHP und der RSS – daran arbeiteten, die Hindu-Gesellschaft von der Basis aus zu organisieren und zu konsolidieren, versuchte sich die BJP in der Politik an einem Balanceakt: Sie bemühte sich, ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Sangh Parivar zu wahren und gleichzeitig ein gemäßigtes Programm zu vertreten, das auch potenziellen Koalitionspartnern zusagte. Die Arbeitsteilung ermöglichte es den Sangh-Parivar-Organisationen, die Wählerschaft entlang konfessioneller Linien zu polarisieren, während die BJP "über den Dingen" stehen und sich zu konventionellen Themen äußern konnte. Dieser Drahtseilakt veranlasste einige politische Beobachter zu der Annahme, die BJP würde sich zügeln und in die Mitte rücken, um möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen. Anfangs wirkte diese Überlegung durchaus einleuchtend, da die BJP die an der Mitte orientierte Politik ihrer Vorgängerpartei wiederbelebte. Doch als sie in den Wahlen schlecht abschnitt und ihr weichgespültes Programm zu Spannungen innerhalb des RSS führte, weil die RSS-Führer dagegen protestierten, dass die BJP für die Wahlen ihre Grundsätze aufgegeben hatte, geriet die BJP unter Druck. Um sie wieder auf Linie zu bringen, warb der RSS in einigen Fällen sogar um Unterstützung für die Opposition.

Während die BJP darum kämpfte, die demokratischen Anforderungen der Politik mit den Ansprüchen ihrer Sangh-Parivar-Mitglieder unter einen Hut zu bringen, arbeitete der VHP aktiv daran, die Hindus als sozialen Block zu organisieren. Seit den frühen 1980er Jahren veranstaltete der VHP sogenannte yathras (Pilgerfahrten) durch Indien. Diese "religiösen" Prozessionen über Zehntausende Kilometer banden heilige Stätten im ganzen Land in eine Art spirituelle Geografie ein. Unterwegs fanden Massenkundgebungen mit starken antimuslimischen Untertönen statt. Doch der VHP organisierte nicht nur Hindus in Indien, sondern expandierte auch in der weltweiten Diaspora und konnte vor allem in Nordamerika und Europa eine internationale Mitgliedschaft und finanzielle Unterstützung für sich gewinnen. 1984 gründete der VHP eine militante Jugendorganisation, die überwiegend aus arbeitslosen jungen Männern bestand, die bei seinen Veranstaltungen für Sicherheit sorgen sollten, aber auch als Schlägertrupps auftraten. Dieser neue Zweig erhielt den Namen Bajrang Dal ("Brigade des Hanuman"), benannt nach der Hindu-Gottheit Hanuman aus dem Epos "Ramayana". Im selben Jahr nahm der VHP die Stadt Ayodhya in seinen Fokus, den angeblichen Geburtsort Rams, des mythischen Hindu-Königs aus dem Epos.

Ayodhya liegt in Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat, dem bei Wahlen auf nationaler Ebene enormes Gewicht zukommt. Anhänger des Hindu-Nationalismus behaupten, dass dort im 16. Jahrhundert ein Ram geweihter Hindu-Tempel stand, der von muslimischen Eroberern zerstört wurde, um eine Moschee zu errichten. Diese Moschee, Babri Masjid, fungiert im hindu-nationalistischen Diskurs als Symbol muslimischer Aggression und als Weckruf für eine politische Konsolidierung zur eigenen Verteidigung. Seit Mitte der 1980er Jahre organisierte die VHP Prozessionen durch weite Teile Indiens, um Spenden für Ziegel zu sammeln, die dann, nachdem sie in einer öffentlichen Zeremonie geweiht wurden, mit dem ausdrücklichen Ziel nach Ayodhya gebracht wurden, an dem umstrittenen Ort einen Hindu-Tempel zu bauen. Der VHP entdeckte Ayodhya in einem günstigen Moment für sich, denn Doordarshan, der öffentlich-rechtliche Fernsehsender Indiens, bereitete in der Zeit gerade die Ausstrahlung der "Ramayana" als Fernsehspiel vor. Die von der Hindi-Presse als "dharmische Serie" bezeichnete Sendung war ein Straßenfeger, der bald Zuschauerrekorde brach und in den ersten Monaten wöchentlich 80 Millionen begeisterte Fans vor den Fernseher lockte.

Die BJP ergriff die Gelegenheit und holte die bekannten Hindu-Epen ins Scheinwerferlicht der Politik. Nach dem Vorbild des VHP führte die BJP ebenfalls yathras durch, bei denen ihre Politiker in einem Toyota-Van, den man zu einem Götterwagen umgebaut hatte, kreuz und quer durchs Land reisten. Darüber hinaus griff die Partei auch auf das Führungspersonal des VHP zurück und nominierte bekannte Mitglieder als politische Kandidaten. Gleichzeitig verschärfte sie ihre Rhetorik und übernahm gängige xenophobe Klischees, die Muslime als Außenseiter darstellten, die als "fremde Invasoren" ins Land gekommen wären und von deren Anwesenheit das staatliche Gemeinwesen "gereinigt" werden müsse. Diese Hyperpolarisierung der Gesellschaft erreichte 1992 einen Höhepunkt, als sich VHP-Anhänger bewaffnet mit Hämmern, Brecheisen und ähnlichen Werkzeugen in Ayodhya versammelten und die Moschee zerstörten. In ganz Indien kam es zu Unruhen, bei denen etwa 2000 Muslime getötet wurden, woraufhin der regierende INC erneut den RSS und den VHP verbot. Unbeeindruckt drängte die BJP weiter auf den Bau eines Tempels in Ayodhya – ein emotionales Thema, das bei ihren Anhängern Anklang fand und sich bei Wahlen auszahlte.

In den folgenden drei nationalen Wahlen gewann die BJP mehr Sitze im Parlament als jede andere Partei, hatte jedoch Schwierigkeiten, eine Koalitionsregierung zu bilden und ihr Programm in Gesetze zu gießen. 1996 gelang es der BJP nicht, ein Koalitionsbündnis nach der Wahl zu schmieden. 1998 schlug sie in ihrem Programm gemäßigtere Töne an und strich besonders umstrittenen Punkte – darunter auch die Forderung nach einem Hindu-Tempel in Ayodhya. Dadurch war eine Koalitionsbildung möglich, die jedoch nur von kurzer Dauer war: Bereits im Folgejahr verließ ein wichtiger Verbündeter die Koalition und brachte sie zu Fall. 1999 konnte die BJP schließlich eine stabile Regierung bilden, doch um den Zusammenhalt der Koalition zu wahren, wurden die Parteiführer angehalten, die hindu-nationalistischen Themen nicht auf die politische Agenda zu setzen. Die ethnoreligiöse Politik der BJP kam zwar bei den Wählern gut an, doch die Partei hatte Mühe, sich im politischen System zu etablieren und ihr Programm mit den Anforderungen einer Koalitionspolitik in Einklang zu bringen. In den folgenden Jahren sank die Zustimmung für die BJP in der nationalen Politik, und sie wurde zu einer festen Größe in der Opposition. Allerdings schnitt sie in einzelnen Staaten immer noch gut ab; zudem konnte sie ihren geografischen Radius erweitern und sich als Partei im politischen Mainstream etablieren. Die Wende für die BJP sollte bei den Parlamentswahlen 2014 eintreten, als sie unter Parteiführer Narendra Modi 31,3 Prozent der Stimmen holte und den INC mit 19,5 Prozent deutlich auf den zweiten Platz verwies.

Aktuelle Situation

Bisher wurde das Ziel der Hindu-Nationalisten, Indien zu einer Hindu Rashtra umzugestalten, trotz ihrer langjährigen Bemühungen vom Parteiensystem im Zaum gehalten. Obwohl die BJP seit Mitte der 1990er Jahre große Wahlerfolge verzeichnete, war sie immer wieder gezwungen, sich zwischen ihrer ethnonationalistischen Agenda und einer Anpassung ihres Programms an ihre politischen Verbündeten zu entscheiden, weil sie nur mit gemäßigteren Forderungen Koalitionspartner finden und ein stabiles Regierungsbündnis bilden konnte. Abhängig von den politischen Gegebenheiten schwang die Partei wie ein Pendel zwischen den beiden Enden des Spektrums hin und her und konnte zwar in den Bundesstaaten, in denen sie an der Macht war, ihr Programm vorantreiben, wurde jedoch auf nationaler Ebene eingehegt. Dieser Sicherungsmechanismus geriet bei den Wahlen 2014 und erneut 2019 unter Druck, als die BJP zweimal hintereinander die absolute Mehrheit der Sitze im indischen Parlament, der Lok Sabha, errungen hatte. Dadurch erhielt die BJP mehr Spielraum, um ihre seit Langem bestehenden Ziele zu verwirklichen. Indien betrat mit dieser Entwicklung Neuland. Ob sich die BJP als Reaktion auf demokratischen Druck tatsächlich gemäßigt oder einfach nur auf den richtigen Moment gewartet hatte, sollte sich schon bald zeigen.

In der ersten Legislaturperiode (2014–2019) setzte die BJP-Regierung einige langjährige hindu-nationalistische Forderungen um. Sie führte Beschränkungen beim Religionswechsel ein, ließ die Schlachtung von Kühen und den Verzehr von Rindfleisch verbieten und setzte Veränderungen im Bildungssystem um – beispielsweise wurden Schulbücher überarbeitet, um hindu-nationalistische Standpunkte aufzunehmen, akademische Lehrbücher, die nicht mit dieser Haltung übereinstimmten, wurden verboten, und die Einstellungsmodalitäten für den Lehrkörper an staatlichen Universitäten wurden angepasst. In ihrer zweiten Legislaturperiode seit 2019 hat die Regierung in wichtige Verfassungsfragen eingegriffen. 2019 wurde Artikel 370 der indischen Verfassung abgeschafft – der dem überwiegend muslimischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus eingeräumt hatte –, die unabhängige Verfassung des Bundesstaats wurde kassiert, und er wurde in zwei separate Unionsterritorien aufgeteilt, die direkt der Zentralregierung unterstehen. Zusätzlich wurde 2019 der Citizenship (Amendment) Act verabschiedet, der eine direkte Verbindung zwischen Staatsbürgerschaft und Religion herstellt und eine vereinfachte Einbürgerung religiös verfolgter Muslime und Juden ausdrücklich ausschließt. Die Reformen haben zu landesweiten Protesten geführt und bestätigen die wachsenden Sorgen in Bezug auf den rechtlichen Status von Muslimen. Häufig werden diese und andere Maßnahmen als Beleg dafür angeführt, dass unter der derzeitigen Regierung demokratische Normen verfallen.

Inmitten der Aufmerksamkeit, die man derzeit der aktuellen Politik und ihrer Analyse widmet, sollte man jedoch nicht vergessen, dass Hindu-Nationalismus kein ausschließlich modernes Phänomen, sondern der aktuelle Höhepunkt eines langfristigen historischen Projekts ist, dessen Wurzeln in eine Zeit weit vor der Einführung der Demokratie zurückreichen. In diesem Beitrag wurden einige dieser Wurzeln und die unterschiedlichen Kontexte betrachtet, in denen sie sich herausbildeten, ob in der Frühzeit des Kolonialismus oder bei aktuellen Wahlen. Der Hindu-Nationalismus ist nicht auf eine einzige Partei beschränkt, sondern beruht auf einer jahrhundertealten Tradition und einem weit verzweigten Netz von Mitgliedsorganisationen, die seine Ansichten propagieren und an der Basis fleißig daran arbeiten, seine Anziehungskraft in Gesellschaft und Politik zu steigern. Das heutige Indien stellt die gängige Annahme infrage, dass in einer Demokratie die radikaleren Akteure im Parteiensystem einen Prozess der Mäßigung durchlaufen und Richtung Mitte gelenkt werden, um den idealtypischen "Durchschnittswähler" anzusprechen. Die Hindu-Nationalisten haben nach ihrem Regierungsantritt ihr Programm nicht erkennbar abgemildert, auch wenn viele politische Beobachter davon ausgingen. Anstatt Richtung Mitte zu rücken, hat die BJP dank jahrzehntelanger Arbeit an der Basis in Kombination mit starken Wahlergebnissen den ethnoreligiösen Nationalismus salonfähig gemacht und so den Schwerpunkt der nationalen Politik – und der öffentlichen Meinung – nach rechts verlagert. Ob diese Veränderungen bestehen bleiben, wird sich bei den nächsten Parlamentswahlen 2024 zeigen. Bislang hat es den Anschein, als ob die BJP und ihre Verbündeten eine wirksame politische Formel entdeckt hätten.

Eine Karte zur Religionszugehörigkeit in Indien, Pakistan und Bangladesch ist unter Interner Link: Karten zu finden.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. The Transformation of Indian Democracy: A Conversation with Pratap Bhanu Mehta, Colloquium at Johns Hopkins School of Advanced International Studies, Washington, D.C., 20.4.2021; Vanessa A. Boese et al. (Hrsg.), Varieties of Democracy Institute (V-Dem) Report 2022: Autocratization Changing Nature?, Göteborg 2022; Madhav Khosla/Milan Vaishnav, The Three Faces of the Indian State, in: Journal of Democracy 1/2021, S. 111–125.

  2. Vgl. Gajendran Ayyathurai, Indologie, Kasten und Gender: Ein post-brahmanischer Forschungsansatz, in: Südasien 3/2018, S. 22–24.

  3. Sanjoy Chakravorty, The Truth About Us: The Politics of Information from Manu to Modi, Gurugram 2019, S. 77.

  4. Vgl. Bernard S. Cohn, Colonialism and its Forms of Knowledge: The British in India, Princeton 1996; Nicholas B. Dirks, Castes of Mind: Colonialism and the Making of Modern India, Princeton 2001.

  5. Der britische Kolonialismus behielt die europäische Unterscheidung zwischen "öffentlichen" und "privaten" Bereichen bei. Während Kolonialbeamte aktiv in Wirtschaft und Politik eingriffen – Bereiche, die sie unter staatliche Aufsicht stellten –, betrachteten sie Religion als Privatangelegenheit, in die man sich nicht einmischen sollte. Dadurch lieferte der Kolonialstaat Anreize, sich unter dem Banner der Religion zu organisieren, weil Gruppen deutlich mehr Möglichkeiten und Flexibilität hatten, wenn sie sich als "religiöse Gemeinschaft" präsentierten.

  6. Vgl. Christophe Jaffrelot, Modi’s India: Hindu Nationalism and the Rise of Ethnic Democracy, Princeton 2021.

  7. Peter Van der Veer, Religious Nationalism: Hindus and Muslims in India, Berkeley 1994, S. 1.

  8. Milan Vaishnav, Religious Nationalism and India’s Future, in: ders. (Hrsg.), The BJP in Power: Indian Democracy and Religious Nationalism, Washington, D.C. 2019, S. 5–22, hier S. 7.

  9. Vgl. Jaffrelot (Anm. 6), S. 15.

  10. Vgl. Rajeev Bhargava (Hrsg.), Secularism and its Critics, Delhi 1998.

  11. Vgl. Van der Veer (Anm. 7), S. 4.

  12. Vgl. Jaffrelot (Anm. 6), S. 18.

  13. Zu diesen Prinzipien gehörten unter anderem ein Schlachtverbot für Kühe, Beschränkungen beim Religionswechsel und eine Überarbeitung der Schulbücher im Fach Geschichte.

  14. Vgl. Thomas Blom Hansen, The Saffron Wave: Democracy and Hindu Nationalism in Modern India, Princeton 1999, S. 158.

  15. Vgl. Arvind Rajagopal, Politics After Television: Hindu Nationalism and the Reshaping of the Public in India, Cambridge 2004.

  16. Hansen (Anm. 14), S. 160, S. 166.

  17. Für eine Analyse des Citizenship (Amendment) Act von 2019 und den Zusammenhang zwischen dem Gesetz und der Einführung eines nationalen Bürgerregisters, das Muslime aus dem indischen Gemeinwesen ausschließen könnte, vgl. Suparna Chaudhry, India’s New Law May Leave Millions of Muslims Out of Citizenship, 13.12.2019, Externer Link: http://www.washingtonpost.com/politics/2019/12/13/indias-new-law-may-leave-millions-muslims-without-citizenship.

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ist Post-Doc am Centre for Modern Indian Studies der Georg-August-Universität Göttingen.
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