Seit etwa zwei Jahrzehnten toben im Vereinigten Königreich regelrechte memory wars um die Bewertung der eigenen imperialen Vergangenheit. Laut einer repräsentativen Umfrage 2020, die der "Guardian" in Auftrag gegeben hatte, sind ein Drittel der Britinnen und Briten nach wie vor der Meinung, man müsse sich dieser Vergangenheit keinesfalls schämen, sondern könne vielmehr stolz sein auf die historischen Leistungen des ehemaligen britischen Weltreichs. Diese positive Wahrnehmung des Empire wird auch von führenden Politiker*innen des Landes geteilt. Während der aktuelle britische Premier Boris Johnson wiederholt davor gewarnt hat, die beispiellose imperiale Expansion seines Landes vom späten 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert abzuwerten oder zu tabuisieren, provozierte sein Vorgänger David Cameron vor einigen Jahren in diesem Zusammenhang gar einen politischen Eklat. Während eines Staatsbesuchs in Indien weigerte sich Cameron, sich im Namen des Vereinigten Königreichs für ein von den Briten im Jahr 1919 in der nordindischen Stadt Amritsar begangenes Massaker zu entschuldigen.
Beunruhigender noch als die naive Empire-Nostalgie von populistischen Politiker*innen erscheint die Tatsache, dass Imperialismus und Kolonialismus mittlerweile auch unter Politologen und Fachhistorikerinnen wieder salonfähig geworden sind. 2017 etwa gelang es dem US-amerikanischen Politologen Bruce Gilley, sein Plädoyer für eine Rückkehr zu kolonialer Herrschaftsübernahme des Westens in den failed states des Globalen Südens in einer angesehenen Fachzeitschrift zu platzieren. Bereits seit den frühen 2000er Jahren verkaufen Erfolgsautor*innen wie Niall Ferguson historische Bestseller mit dem Argument, speziell das britische Weltreich sei in erster Linie eine Modernisierungs- und Entwicklungsinstanz gewesen, von der kolonisierte Länder wie das heutige Indien massiv profitiert hätten. Dank der jahrzehntelangen britischen "Treuhänderschaft" verfügten die ehemals Kolonisierten nun sowohl über die nötigen Sprachkenntnisse als auch über eine hochentwickelte Infrastruktur und Arbeitsethik, die sie für die Herausforderungen der Globalisierung wappneten. In gewisser Weise erinnert diese "Anglobalization"-Rhetorik an die von den britischen Verwaltungseliten während der Hochblüte ihres Weltreichs häufig benutzten Rechtfertigungsnarrative. So wurde beispielsweise in Indien ab den 1860er Jahren ein Jahresbericht mit dem programmatischen Titel "Moral and Material Progress in India" veröffentlicht, um die Erfolge der kolonialen Entwicklungsanstrengungen zu dokumentieren.
Inwieweit ist aber die Rede von der britischen Herrschaft auf dem indischen Subkontinent als einer Art Entwicklungsinitiative avant la lettre tatsächlich gerechtfertigt? Insbesondere indische Autor*innen haben auf die neue Unbefangenheit in der Deutung der kolonialen Vergangenheit durch revisionistische Historiker*innen aus dem Westen mit heftiger Kritik und zum Teil auch mit leicht polemischen Gegendarstellungen reagiert. Im Folgenden nehme ich das 75-jährige Jubiläum der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans von 1947 zum Anlass, um die These zu überprüfen, Indien sei ein Paradebeispiel für koloniale "Modernisierungshilfe". Ich werde dazu exemplarisch drei Aspekte der indischen Geschichte umreißen, die gerade von Apologet*innen westlicher Imperialismen besonders häufig als vermeintliche Beispiele für die positive Modernisierungsleistung imperialer Herrschaft aufgeführt werden: Wirtschaftsentwicklung und Industrialisierung am Beispiel von Baumwollproduktion und Textilindustrie, den Aufbau einer modernen Transportinfrastruktur am Beispiel der Eisenbahn sowie die Rationalisierung der Verwaltung durch den Einsatz moderner statistischer Methoden.
(De-)Industrialisierung? Beispiel Textilindustrie
Über mehr als zwei Jahrhunderte war die britische Präsenz in Indien gleichsam Privatsache: Nicht der britische Staat, sondern eine Aktiengesellschaft, die Britische Ostindien-Kompanie (OIK), machte sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts an territoriale Eroberungen. Diese brachten ihr spätestens um 1820 die Rolle einer Hegemonialmacht auf dem indischen Subkontinent ein. Erst nach einer Massenerhebung indischer Soldaten und Bäuerinnen, die beinahe zum Ende der britischen Herrschaft geführt hätte, wurde die OIK 1858 aufgelöst, und die britische Krone übernahm die Verantwortung für die gewaltigen Territorien, die sich im Besitz der Handelsgesellschaft befunden hatten.
Lange deutete wenig darauf hin, dass die Präsenz europäischer Handelsgesellschaften eine transformative Wirkung auf Wirtschaft und Politik auf dem indischen Subkontinent entfalten sollte. Die Europäer – neben den Briten waren bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auch Portugiesen, Niederländer, Franzosen und Dänen prominent in Indien vertreten – mochten die Seehoheit besitzen, doch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hatten sie den großen Landheeren sowohl der indischen Moguldynastie als auch einiger potenter Regionalmächte militärisch wenig entgegenzusetzen. Zudem waren die europäischen Händler aufgrund der Unkenntnis lokaler Gebräuche und Sprachen für die erfolgreiche Abwicklung ihrer Geschäfte sehr stark auf die Hilfe lokaler Mittelsmänner angewiesen. Bis in die 1740er Jahre, als die OIK ihre übrige europäische Konkurrenz weitgehend aus dem Feld geschlagen hatte, blieb auch das Handelsvolumen verglichen mit dem von indischen Kaufleuten kontrollierten Binnen- und Exporthandel gering. Nachdem die Kompanie 1765 schließlich vom schwächelnden Mogulkaiser das Recht zur Steuereintreibung in den von ihr kontrollierten Territorien erworben hatte, profitierten die OIK und ihre häufig auch in individuellen Privatgeschäften tätigen Angestellten massiv von der ungebrochenen Popularität indischer Produkte insbesondere in Europa. Vor allem im Geschäft mit Baumwollstoffen und Textilien dominierten indische Produkte noch ein halbes Jahrhundert nach der Herrschaftsübernahme der Briten in Bengalen, Indiens wirtschaftlichem Zentrum, den Weltmarkt – und zwar sowohl was ihre Quantität als auch ihre Qualität anging.
Der "kriegskapitalistischen" Logik der OIK folgend begannen die Briten, den indischen Weberinnen und Spinnern klare Vorgaben bezüglich Design und Quantität der gewünschten Ware zu oktroyieren. Zudem konnten sie den Handel nunmehr weitgehend mit dem in Indien generierten Steueraufkommen finanzieren. Die Textilherstellung in Indien, die im späten 18. Jahrhundert mehrere Millionen Menschen beschäftigte, geriet erst in eine massive Krise, als die Industrielle Revolution im Vereinigten Königreich an Fahrt aufnahm und der Weltmarkt zunehmend mit billigen maschinell produzierten Textilien überflutet wurde. In den beiden Jahrzehnten nach 1815 büßte Indien seine Rolle als führende Exportregion für Baumwolltuche und Textilien endgültig ein und entwickelte sich stattdessen immer mehr zum größten Absatzmarkt für industriegefertigte Massenware aus den nordenglischen Textilzentren Lancashire and Cheshire.
Während in anderen Teilen Indiens durchaus Nischen für lokale Textilproduktionen bestehen blieben, wurden in der vormaligen Textilhochburg Bengalen Hunderttausende Spinnerinnen und Weber infolge des durch englische Importware ausgelösten Preisdrucks arbeitslos. Die meisten von ihnen sahen sich im Laufe der über 30 Jahre andauernden Wirtschaftsdepression (etwa 1820–1855) gezwungen, ihren Lebensunterhalt wieder in der Landwirtschaft zu verdienen. Der Historiker David Washbrook spricht in diesem Zusammenhang von einem Prozess der "Verbäuerlichung" oder peasantization. Mit dieser schleichenden De-Industrialisierung ging teilweise auch ein de-skilling einher, das heißt, innerhalb von zwei Generationen ging wertvolles handwerkliches Wissen verloren, das über Jahrhunderte entscheidend zu Aufstieg und Blüte der indischen Baumwollindustrie beigetragen hatte.
Entgegen der optimistischen Behauptung von Niall Ferguson, Indien habe während der Herrschaftszeit von Queen Victoria (1837–1901) aufgrund der britischen Modernisierungsimpulse und angeblich erfolgter substanzieller Investitionen in neue Industrien einen unvergleichlichen Boom erlebt, lassen sich in jener Phase also vielmehr Interventionen der imperialen Obrigkeiten beobachten, die ganz im Gegenteil zu einer Schwächung der indischen Wirtschaft und einer immer größeren Abhängigkeit der Kolonie vom imperialen "Mutterland" führten. Zum einen entwickelte sich unter dem protektionistischen britischen Kolonialregime, das die heimische Textilindustrie vor etwaiger indischer Konkurrenz schützen wollte, bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts kein nennenswerter Technologietransfer von Europa nach Indien. Dampfmaschinen und mechanische Webstühle beispielsweise wurden nur zögernd und in relativ kleinen Stückzahlen nach Indien eingeführt. Zum anderen fand auch der nötige Wissenstransfer nicht in nennenswertem Umfang statt. Die wenigen englischsprachigen Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen Britisch-Indiens waren ganz auf die Ausbildung der niederen und mittleren Ränge der Kolonialverwaltung ausgerichtet und boten der (verschwindend kleinen) indischen Elite, die es sich leisten konnte, ihre Kinder dort unterrichten zu lassen, zwar den gesamten Kanon der europäischen Geistes- und Staatswissenschaften, aber Naturwissenschaften und Technikdisziplinen wurden zum Leidwesen vieler indischer Unternehmer und Reformerinnen erst sehr spät und nur vereinzelt angeboten.
Wie bereits angedeutet, lässt sich parallel zur Retardierung der industriellen Entwicklung durch das britische Kolonialregime ein Prozess beobachten, der Indien etwa ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße zum Lieferanten von für den Export bestimmte Agrarprodukten machte. Teilweise unter Zwang wurden Teile der indischen Landbevölkerung von den kolonialen Obrigkeiten dazu gebracht, kommerziell lukrative Nutzfrüchte wie Indigo (beliebt als Färbemittel für die globale Textilindustrie), Mohn (für die Opiumproduktion, mit der ein Teil des britischen Handels mit China finanziert wurde), Zucker oder Jute anzubauen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgten weitere Plantagenprodukte, insbesondere Tee und Baumwolle. Durch den Kollaps der Baumwollexporte aus den Südstaaten der USA während des Sezessionskrieges (1861–1865) war die Anpflanzung indischer Baumwolle ganz besonders lukrativ geworden, und zahlreiche Bauern in Zentralindien wurden dazu gepresst, den Anbau von für den lokalen Markt bestimmtem Getreide und Hülsenfrüchten zugunsten der weißen fibre of fortune aufzugeben, damit die Textilproduktion in Europa weiterlaufen konnte. Dieser erzwungene Strukturwandel brachte zwar einen kurzfristigen Wirtschaftsboom für die Anbauregionen und die cotton capital Bombay, dieser verpuffte jedoch nach dem Ende des Sezessionskrieges und der Wiederaufnahme der Baumwollexporte aus den ehemaligen konföderierten Staaten rasch. Die negativen Auswirkungen der überstürzten Umstellung der Anbaupraktiken auf die Bedürfnisse des Weltmarktes sollten nur kurze Zeit später deutlich werden, als Süd- und Zentralindien in den 1870er und 1890er Jahren von zwei großen Hungersnöten heimgesucht wurden. In der wichtigsten Baumwollregion Berar beispielsweise fielen Hunderttausende diesen Versorgungskrisen zum Opfer, weil ihre qualitativ mittelmäßige Baumwolle sich in einer Zeit sinkender Preise kaum mehr verkaufen ließ und die vorher betriebene Subsistenzwirtschaft inzwischen weitgehend der kapitalistischen Cash-Crop-Monokultur gewichen war.
Da eine Industrialisierung Indiens seitens der britischen Machthaber nicht erwünscht war und der zunehmend kommerzialisierten und globalisierten Landwirtschaft daher eine ganz zentrale Bedeutung dafür zukam, Steuern zu generieren und für wirtschaftliche Rentabilität im Allgemeinen zu sorgen, unternahm die imperiale Regierung alles in ihrer Macht Stehende, um den sozialen Frieden in den ländlichen Gebieten und damit die Stabilität der Agrarproduktion zu garantieren. Zentrales Element ihrer Strategie war die Kooptation ausgesuchter Segmente der lokalen Bevölkerung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kristallisierte sich daneben immer stärker das Bemühen heraus, vor allem Großgrundbesitzerinnen und Bauern als loyale Partner des Raj, wie die britische Herrschaft in Indien auch bezeichnet wird, zu gewinnen. Vermeintlich zum Schutz der idealisierten bäuerlichen Bevölkerung wurden daher unter anderem neue Gesetze geschaffen, die diese als sogenannte agricultural communities festschrieben und den Verkauf von Agrarland an andere gesellschaftliche Gruppierungen praktisch untersagten. Statt die von der imperialen Rechtfertigungsrhetorik versprochene Liberalisierung und Marktflexibilität sowie den "Fortschritt" nach europäischem Vorbild zu bringen, führte die eigennützige Orientierung des britischen Kolonialregimes daher in vielen Fällen zu einer Zementierung bestehender Hierarchien und einer umfassenden "Traditionalisierung" der indischen Gesellschaft. Die Interventionen des Kolonialstaates zielten vor allem darauf, regelmäßige Steuereinnahmen sicherzustellen und indische Truppen für die anglo-indische Kolonialarmee zu rekrutieren, und stärkten daher insbesondere konservative soziale Gruppen und ideologische Tendenzen in Indien, die diese Agenda unterstützten.
Mit Volldampf in die Moderne? Rolle der Eisenbahn
Spannungen zwischen der von den Fürsprechern des britischen Imperialismus bemühten Fortschrittsrhetorik und den materiellen und sozialen Realitäten des Raj, die weitgehend von kultureller Arroganz und dem Primat herrschaftspragmatischer Interessen bestimmt waren, lassen sich auch in anderen Feldern nachweisen. Die infrastrukturelle Erschließung des indischen Subkontinents durch den Eisenbahnbau bietet dafür ein besonders schlagendes Beispiel. In der viktorianischen Ära war die Eisenbahn nicht nur ein wichtiges Transportmittel, ohne das die Industrialisierung auf den britischen Inseln wohl nicht im gleichen Tempo hätte ablaufen können, sie galt auch als Inbegriff von Mobilität, Modernität und Fortschritt, sodass man sie schon kurz nach ihrer Implementierung auf den Britischen Inseln auch in Britanniens Empire exportieren wollte. In Indien wurde die erste Versuchsstrecke zwischen Bombay und Thane bereits 1853 eröffnet. Ab den 1860er Jahren erfolgte dann der rasante Ausbau des Streckennetzes, der Indiens Eisenbahnnetz bereits kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges zum viertgrößten weltweit machte. Diese Tatsache wird häufig als ein Beleg für die gewaltige Modernisierungsleistung des britischen Kolonialregimes angeführt. Auch diese Deutung steht in Kontinuität mit zeitgenössischen Interpretationen. Nicht nur eine Reihe kolonialer Verwaltungsbeamter vor Ort, sondern auch prominente politische Kommentatoren in Europa, wie Karl Marx, sahen in der Eisenbahn ein nützliches Werkzeug, um Englands weltgeschichtliche Modernisierungsrolle zu erfüllen.
Die jüngere historische Forschung hat solche Deutungen zunehmend infrage gestellt. Zum einen kann kein Zweifel daran bestehen, dass die einseitigen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen der Kolonialmacht den Ausbau des Streckennetzes bestimmten und keineswegs der mögliche Nutzen für die indische Bevölkerung. Eisenbahnlinien, die den Transport von landwirtschaftlichen Exportgütern zu den Seehäfen ermöglichten, und solche, die rasche Truppenverschiebungen zwischen Indiens wichtigsten Garnisonsstädten garantierten, genossen zunächst absolute Priorität. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die Mobilitätswünsche der lokalen Bevölkerung zumindest gelegentlich Beachtung. Das etwas chaotische Miteinander von staatlichen und privat betriebenen Strecken, die teilweise sogar unterschiedliche Spurbreiten benutzten, zeugte jedoch nicht von langfristiger Infrastrukturplanung und erschwerte die Nutzung durch die indische Bevölkerung zusätzlich.
Wie bei der Textilindustrie verlief der Technologietransfer auch hier äußerst schleppend. Von den knapp 15000 Lokomotiven, die zwischen 1853 und 1947 auf dem indischen Subkontinent zum Einsatz kamen, wurden weniger als 700 in Indien selbst produziert. Der Rest wurde – zum beträchtlichen Nutzen der britischen Schwerindustrie – aus Großbritannien importiert. Auch in anderer Hinsicht erweist sich das häufig postulierte Korrelat zwischen kolonialem Eisenbahnbau und Modernisierungsagenda als problematisch: Der Historiker Ravi Ahuja hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Konstruktion eines beträchtlichen Teils des Streckennetzes unter primitivsten Bedingungen und durch die planmäßige Ausbeutung ungeschulter indischer Arbeiter*innen, viele von ihnen Frauen und Kinder, realisiert wurde. Besondere Erwähnung verdient dabei der gezielte Einsatz der arbeitslosen Landbevölkerung, die von den großen Versorgungskrisen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts betroffen war. Weil die verantwortlichen Kolonialbeamten keine falschen Anreize setzen wollten, erhielten die Opfer der Hungersnöte ihre kärgliche Lebensmittelration nur, wenn sie ihre Arbeitskraft für kolonialstaatliche Infrastrukturprojekte zur Verfügung stellten. Ein beachtlicher Teil der Straßen und Eisenbahntrassen, die in den letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts von den Briten in Indien angelegt wurden, kam daher durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der vulnerabelsten Gruppen der indischen Bevölkerung zustande. Diese zentrale Rolle von erzwungener Arbeit legt den Schluss nahe, das vermeintliche Modernisierungsprojekt Eisenbahnbau habe durchaus auch vormoderne – um nicht zu sagen antimoderne – Züge getragen.
Gleichzeitig verhinderte die Angst der Kolonialregierung vor einem Eingriff in die Selbstregulierung des Marktes, dass man das Potenzial der neuen Transporttechnik nutzte, um Getreideüberschüsse aus anderen Provinzen Indiens in die vom Hunger betroffenen Gebiete im Süden zu schaffen, wodurch vermutlich das Leben von Hunderttausenden Menschen hätte gerettet werden können.
Knowing the Country: Wissenschaftliche Datenerhebung
Apologet*innen des Empire haben häufig auf die angeblich segensreiche Wirkung der Etablierung eines rationalen Verwaltungsapparates und des Heranführens der lokalen Eliten an demokratische Gepflogenheiten und die als überlegen empfundene politische Kultur Großbritanniens hingewiesen. Eine radikale Reform von Verwaltung und Politik galt insofern als besonders begrüßenswert, als vorkoloniale Herrschaftsformen in Indien und anderen "orientalischen" Gesellschaften ab dem späten 18. Jahrhundert im Westen häufig als rückständig, irrational und despotisch porträtiert wurden. Eine erfolgreiche "Hebung" der kolonisierten Eliten durch das Verbreiten europäischer Werte und Standards galt vielen daher als Kernelement der selbstauferlegten Zivilisationsmission des Raj. Auch in diesem Fall ist jedoch Skepsis geboten: Eine kritiklose Übernahme des imperialen Fortschrittsnarrativs würde wiederum den Blick auf eine Reihe problematischer Aspekte verstellen, die für Indien mit der Einführung moderner Verwaltungspraktiken und selektiver Elemente der repräsentativen Demokratie verbunden waren.
Schon die Bediensteten der OIK sahen die Verwaltung der riesigen Territorien, die unter ihrer Kontrolle standen, und die Beherrschung einer ethnisch, sprachlich und religiös äußerst heterogenen Bevölkerung als gewaltige Herausforderung an. Dieser suchten sie dadurch zu begegnen, dass sie ihre Wissenslücken bezüglich Land und Leuten schlossen. Seit den 1770er Jahren wurde die Beherrschung des Subkontinents somit auch von einem Prozess permanenter Wissensproduktion begleitet. In Kollaboration mit einheimischen "Experten" – insbesondere schriftenkundige religiöse Eliten wie beispielsweise hinduistische Brahmanen oder muslimische Gelehrte (Ulama) spielten hierbei eine entscheidende Rolle – studierten die neuen Herrscher unter anderem indische Sprachen und Religionen. Noch wichtiger aber war es, unmittelbar verwertbare Wissensbestände zu erschließen, die ihnen einen Einblick in lokale Formen der Jurisdiktion oder bewährte Methoden der Steuererhebung gewährten sowie die kommerzielle Nutzung lokaler Heilkräuter oder Nutzfrüchte erlaubte.
Die Tatsache, dass das Kolonialregime von dem großen indischen Aufstand Mitte der 1850er Jahre überrascht worden war, wurde weithin als Beleg dafür gelesen, dass man noch nicht über das nötige Herrschaftswissen verfügte. In den Dekaden nach 1860 wurden daher die Anstrengungen zur wissenschaftlichen Durchdringung und Kategorisierung der beherrschten Territorien in Südasien und ihrer Bewohner*innen weiter intensiviert und systematisiert. In einer Reihe großangelegter surveys versuchte der Kolonialstaat, die Topografie und die geostrategische und kommerzielle Nutzbarkeit Indiens zu erfassen und zu dokumentieren. Gleichzeitig sollte die junge Wissenschaft der Anthropologie Erkenntnisse über die castes and tribes of India, also die verschiedenen Hindukasten und die sogenannte Stammesbevölkerung in den abgelegen Regionen des Subkontinents, liefern. Den wichtigsten Einschnitt stellte jedoch fraglos die Einführung einer im Zehnjahresturnus eingeführten Volkzählung in den 1870er Jahren dar. Bis 1921 wurden im Rahmen dieses Zensus auch detaillierte Fragen nach der Religions- und Kastenzugehörigkeit der Bevölkerung gestellt, von deren Beantwortung man sich wichtige Hinweise für die Optimierung von Verwaltung und größere Gerechtigkeit bei der politischen Repräsentation einzelner Bevölkerungsgruppen versprach. Wie häufig in kolonialen Kontexten wurde die ursprüngliche Intention der Verantwortlichen für dieser Verwaltungsmaßnahme jedoch bald völlig von deren unerwünschten Nebenwirkungen überlagert. Durch den Zwang, sich auf eine einzige religiöse und soziale Identität festzulegen, verschwand die in der Praxis bis dato vorhandene Flexibilität der sozialen und religiösen Ordnung, und die Religionsgemeinschaften und Kasten wurden gleichsam zu rigiden monolithischen Blöcken eingefroren. Die präzise Quantifizierung der jeweiligen Gruppengröße, die nun in den mit Grafiken und statistischen Tabellen angereicherten Zensusberichten allgemein zugänglich war, leistete der Kultivierung militanter Identitätspolitiken Vorschub und beförderte insbesondere die Rivalität zwischen den Angehörigen der beiden größten Religionsgemeinschaften, Hindus und Muslimen. Durch die schrittweise Einführung von Elementen der repräsentativen Demokratie im Rahmen der Verfassungsreformen von 1909, 1921 und 1935 wurde die Frage der jeweiligen Gruppengröße zudem mit dem Zugang zu politischer Macht verknüpft und bereits bestehende interne Konflikte und Spaltungen der indischen Gesellschaft zusätzlich befördert.
Den Briten die Alleinschuld für diese Entwicklungen zuzuweisen, würde allerdings die Handlungsmacht der indischen Bevölkerung in unzulässiger Weise negieren. Schon lange vor der Herrschaftsübernahme der OIK hatten indische Herrscher des Öfteren in kleinerem Maßstab versucht, Volkszählungen durchzuführen und statistische Daten für eine möglichst effektive Steuerveranlagung zu erheben. Somit fanden die kolonialen Verwaltungsreformen nicht in einem Vakuum statt, sondern schlossen an indigene Praktiken an. Es würde auch gewiss zu kurz greifen, in der kolonialen Zähl- und Kategorisierungswut die Hauptursache für die zusammen mit der Entlassung in die Unabhängigkeit erfolgten Teilung des britischen Kolonialreichs in Südasien in die beiden verfeindeten Bruderstaaten Indien und Pakistan zu sehen. Gleichwohl ist unbestritten, dass sie diese Entwicklung zumindest katalysierten. Entscheidender für das zentrale Argument dieses Beitrages ist jedoch, dass auch dieses Beispiel zeigt, wie sehr die populäre Gleichsetzung der britischen Kolonialherrschaft in Indien mit einer gesellschaftlichen Modernisierungsagenda und der Verbreitung von Rationalismus, Säkularismus und Egalitarismus in die Irre führt. Ungeachtet der teilweise wohlmeinenden Intentionen der kolonialen Eliten führte die erhoffte Rationalisierung der Verwaltung zu einer Stärkung und Verhärtung "vormoderner" Identitäten und leistete damit einmal mehr eher einer politisch fatalen "Traditionalisierung" als einer Modernisierung Indiens Vorschub.
Eine Karte von Südasien im 18. Jahrhundert ist unter Interner Link: Karten zu finden.