Die vielbeschworene Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Es überrascht nicht, dass sich dadurch auch der öffentliche Raum selbst verändert. Neue Interessen haben in den letzten 40 Jahren mehrfach zu erfolgreichen Parteineugründungen geführt. Mit steigender Tendenz beobachten wir aber auch die Verlagerung der politischen Debatte aus den Parteien in soziale Bewegungen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen. Weltweit zeigen Protestbewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future ebenso wie Pegida- oder "Querdenker"-Demonstrationen die Mobilisierung sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen. Die kommunikative Revolution, mit der die sozialen Medien reichweitenstarke, aber möglicherweise auch abgeschottete Öffentlichkeiten schaffen,
Auch die Zustimmung zum System der Demokratie nimmt ab;
Die Corona-Pandemie hat zudem einen besonderen Gefahrenherd entstehen lassen, der in der politischen Beobachtung allzu häufig vernachlässigt wird: Für viele Bürgerinnen und Bürger ist gesellschaftlicher Zusammenhalt primär mit ihrem aktiven Vereinsleben verbunden, wobei die Ziele des Vereins gegenüber dem Gemeinschaftserlebnis in den Hintergrund treten. Die Folgen des nunmehr einjährigen, fast vollständigen Ausfalls dieses Erlebnisses sind im Einzelnen noch nicht absehbar; dass sie im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt negativer Natur sind, ist aber offenkundig.
Nimmt man die skizzierten Bedrohungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Veränderung der gesellschaftlichen Realität gesamthaft in den Blick, ist zu fragen, bis zu welchem Grad diese Fragmentierungen tolerierbar, ja vielleicht sogar notwendig erscheinen,
Funktionen von Zivilgesellschaft
Sowohl in der politischen Theorie, in deren Konzepte von direkter und deliberativer Demokratie sich die Funktion von Zivilgesellschaft sehr gut integrieren lässt, als auch in der empirischen Politikforschung erfährt die Idee der Zivilgesellschaft seit den 1990er Jahren eine stark normative, demokratiepositive Aufladung, auch wenn hinsichtlich der Begrifflichkeit, der Zugehörigkeit zu ihr sowie ihrer politiktheoretischen Beurteilung bis heute nicht unerhebliche Divergenzen bestehen.
Dies entspricht durchaus der Erwartungshaltung an die Zivilgesellschaft; sie wird heute weithin als Hoffnungsträgerin für eine bessere Demokratie, einen effizienteren Wohlfahrtsstaat oder eine bessere Gesellschaft gesehen. Ihr kulturell wahrendes Moment und das sozial Verbindende wird in der spätmodernen Zeit der "Singularitäten"
Dennoch bleibt die Frage, inwieweit diese Erwartungen gerechtfertigt sind. Kann der Zivilgesellschaft tatsächlich ein wesentlicher Anteil an der Aufgabe zugemessen werden, einer Desintegration der Gesellschaft vorzubeugen und ihren Zusammenhalt zu organisieren? Hierzu sind zwei weitere spezifische Integrationsleistungen zu diskutieren: zum einen die individuelle soziale Integration, zum anderen der Ausgleich von Gruppenpräferenzen, also die Abbildung des gesellschaftlichen Pluralismus und der diversen Lebensstile, die die spätmoderne Gesellschaft hervorbringt.
Integration und Pluralismus
Ideengeschichtlich hat die soziale Bindekraft der Zivilgesellschaft eine lange Tradition. Nach seiner Reise in die Vereinigten Staaten kam der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville in den 1830er Jahren zu dem Schluss, dass plurale Assoziationen für die neue, mehr auf Gleichheit denn dem Ständewesen beruhende Gesellschaft die Voraussetzung für ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen darstellen. Und dies aus zwei Gründen: Hatte er im ersten Band seiner Abhandlung "Über die Demokratie in Amerika" die Vereinigungsfreiheit im politischen Verein als Möglichkeit des Einzelnen betont, sich gegen die Tyrannei der Mehrheit behaupten zu können, fügte er im zweiten Band die Notwendigkeit bürgerlicher Vereinigungen für die Gemeinwohlorientierung der Menschen im Gemeinwesen hinzu, da diese dort, in den Vereinigungen, die Sitten der Kooperation und der Empathie mit den ihnen sonst eher unverbundenen Mitmenschen lernen.
Wie Tocqueville verbindet Putnam diese soziale Kompetenz mit der Idee von Demokratie. Je stärker eine Zivilgesellschaft, so seine Annahme, umso robuster ist das demokratische System, da jene sozialen Normen und Fähigkeiten, die in der Zivilgesellschaft gefördert werden, ebenso prodemokratisches Verhalten hervorbringen. Die Bürger und Bürgerinnen lernen, Probleme zusammen mit anderen im Kleinen zu lösen und bekommen dadurch auch ein besseres Verständnis für politische Kooperation und demokratische Verfahrensweisen. Sie können diese Fähigkeiten dann von ihrem isolierten, lokalen zivilgesellschaftlichen Handeln auf die gesamtgesellschaftliche Ebene abstrahieren und auf "die große Politik" anwenden. Deswegen sieht Putnam auch im Niedergang des Vereinswesens in den USA durch die zunehmende Individualisierung seit den 1960er Jahren eine Gefährdung für die dortige Demokratie. In dieser Lesart kommt der Zivilgesellschaft also eine hohe Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das demokratische Gemeinwesen zu.
Das ist nicht unkritisiert geblieben.
Auch der Soziologe James Coleman, der sich stärker als Putnam auf einen Rational-Choice-Ansatz im Sozialkapital stützt,
Fügt man dies alles zusammen, wird klar, dass Zivilgesellschaft nicht automatisch gesellschaftlichen Zusammenhalt garantiert, sondern dass es dafür bestimmter Voraussetzungen bedarf.
Dies gilt bei näherer Betrachtung auch hinsichtlich der Pluralismusleistung. Die Bündelung von gemeinsamen Interessen kann im Sinne der von Jürgen Habermas beschriebenen deliberativen Demokratie,
Zugleich ist die Zivilgesellschaft insgesamt signifikant politischer geworden. Einerseits hat sich dabei eine relativ große Koalition von Akteuren herausgebildet, die sich ausdrücklich dem demokratischen Pluralismus, den Menschen- und Bürgerrechten oder auch einer kosmopolitischen Weltordnung verpflichtet fühlt und bewusst einen respektvollen Ausgleich unterschiedlicher Standpunkte anstrebt. Andererseits aber stehen diesen Akteuren andere unversöhnlich gegenüber, die diese Form von Pluralismus ausdrücklich ablehnen.
Voraussetzungen
Aus dem bisher Gesagten lassen sich Hypothesen darüber ableiten, welchen Anforderungen die Zivilgesellschaft insgesamt und ihre Akteure genügen müssen, um tatsächlich soziales, zwischenmenschliches Vertrauen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken zu können.
Organisationen, in denen sich Mitglieder aus verschiedenen sozialen Schichten und Milieus treffen können, sind dem Zusammenhalt tendenziell förderlicher als andere Organisationen. Während in homogenen Gemeinschaften die Ähnlichkeit der Gruppenmitglieder und deren Identität vorhandene Intoleranz verstärken können, können in diversen Gemeinschaften Bewusstsein und Sensibilität für andere Perspektiven ausgebildet werden, da Abwertungen aus kulturellen und sozialen Gründen in der Regel durch persönliche Erfahrung abgebaut werden.
Obwohl bürgerschaftliches Engagement durchaus anfällig ist für Distinktionsprozesse und die Partizipation in der Zivilgesellschaft häufig bildungs- und einkommensabhängig ist, bietet Zivilgesellschaft doch Gelegenheitsfenster, aus Sozialräumen und Milieus auszubrechen. Interessen- oder leidenschaftszentrierte Zusammenschlüsse wie Subkulturen, Tierschutzvereine oder Bürgerinitiativen bieten Gelegenheit, soziale Verhärtungen zwischen Milieus aufzuweichen. Andere Autoren betonen die strukturellen Elemente im Aufbau von Netzwerken und deren Auswirkungen auf mögliche übergreifende Gruppenbindungen. Sie unterscheiden beispielsweise zwischen horizontal und vertikal organisierter Vereinsstruktur. Stärker hierarchisch strukturierte Organisationen, die sich etwa hauptsächlich durch einzelne Großspenden oder ein Stiftungsvermögen finanzieren, haben in Hinsicht auf verbindendes Sozialkapital eine geringere Wirkung als heterarchisch, also eher gleichberechtigt verfasste Vereinigungen.
Die gemeinschaftsbildende Wirkung der Vereinigung hängt auch von den Rahmenbedingungen ab, etwa der Intensität und Gestaltung der Interaktion zwischen Zivilgesellschaft und Staat. In korporatistisch geprägten Gesellschaften haben zivilgesellschaftliche Organisationen wegen der stark verfestigten und tendenziell ritualisierten Verhandlungskanäle wahrscheinlich weniger Aussicht, den autonomen, selbst organisierten und freiwilligen Assoziationen zu entsprechen, die als Voraussetzung für übergreifendes Vertrauen gelten.
Unpolitische Gemeinschaftsbildung erscheint für integrative Prozesse oft besser geeignet als politische. Diese Hypothese ist umstritten, da traditionell das Gegenteil vermutet wurde. Bisher galt, dass bürgerschaftliches Engagement mit politischer Partizipation einhergeht, wer sich bürgerschaftlich engagiert also auch häufiger wählen und demonstrieren geht und umgekehrt. Eine breite politische Partizipation sollte demnach demokratie- und integrationsfördernd wirken. Das ist aber nicht per se so. Eher unpolitische Zusammenschlüsse, etwa Laienchöre, Trachten- oder Karnevalsvereine, denen häufig unterstellt wird, wenig zur Demokratie beizutragen, weil der Zusammenhang zwischen Engagement und politischem Institutionenvertrauen schwer nachzuweisen ist, können, sofern sie denn milieuübergreifend aktiv sind, gerade deswegen eine Annäherung oder Überwindung von Antagonismen ermöglichen, weil sie Gesprächs- und Interaktionsebenen eröffnen, die vergleichsweise wenig durch unterschiedliche Eingangsvoraussetzungen kontaminiert sind.
Auch Sportvereinen kann hier eine herausragende Gemeinschaftsbildungsfunktion zugeschrieben werden. Der Lernprozess, der darin besteht, andere Menschen unabhängig von Unterschieden in Herkunft, sozialem Milieu, Lebensform oder Überzeugungen mit Respekt und Lernbereitschaft zu akzeptieren, kann hier eingeübt werden, bevor sich die Möglichkeit zu einer politischen Diskussion ergibt. Dass dies in der gelebten Praxis nicht in jedem Fall gelingt, ist allerdings ebenso wenig zu übersehen. Die neuen Protestbewegungen mit ihren klaren politischen Positionierungen weisen in sich relativ homogene Mitglieder- und Wertestrukturen auf. Das gilt für die Fridays-for-Future-Initiative, der zu großen Teilen die gut gebildeten, nicht migrantischen Kinder und Jugendlichen der neuen Mittelschicht angehören, ebenso wie für das globalisierungskritische Pegida-Milieu, das sich vornehmlich aus der alten Mittelschicht rekrutiert.
Die Präferenz für einen ganz bestimmten Weg der Politiksetzung und Gesellschaftsgestaltung in Kombination mit einem geschlossenen Weltbild innerhalb einer geschlossenen "Werte-Blase" nebst fehlender Ambiguitätstoleranz scheint wenig Möglichkeiten zu bieten, verbindendes Sozialkapital herauszubilden. Diese Diagnose klingt ernüchternd, denn sie impliziert im Endeffekt einen biedermeierlich anmutenden Rückzug aus dem Politischen. Angesichts der Verhärtung in der Kommunikation und der Verweigerung, andere Gruppen und Milieus überhaupt als Gesprächspartner zu akzeptieren, sollte die Zivilgesellschaftsforschung die Annahme dringend weiterer Überprüfungen unterziehen. Die Funktionen der einzelnen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben Einfluss auf die Förderung des Zusammenhalts. Mit Ausnahmen lassen sich im Hinblick auf die oben dargestellten Grundfunktionen jeder Organisation Unterschiede in Bezug auf diese Qualifikation feststellen. So sind zweifellos Mittlerorganisationen (etwa Dachverbände) am wenigsten geeignet, den Zusammenhalt zu fördern, da sie als Lobbyisten ihrer Mitglieder deren gemeinsame Interessen gegenüber Dritten zu vertreten haben. Am anderen Ende der Skala sind Organisationen anzusiedeln, bei denen die Gemeinschaftsbildung im Vordergrund steht – allerdings nur dann, wenn sie in ihrer Mitglieder-Aufnahmepolitik bewusst diesen Aspekt aufgreifen. Dass dies oft schwierig ist, haben jahrelange Debatten, die zum Beispiel in bayerischen Trachtenverbänden um die Aufnahme von Menschen mit Migrationshintergrund (und früher bereits von deutschstämmigen Flüchtlingen) geführt wurden, in großem Umfang bewiesen. Selbsthilfeorganisationen verfolgen naturgemäß eher ein gegenteiliges Ziel, während Dienstleister und Themenanwälte den Zusammenhalt stärken können, aber – abhängig von Mitgliederstruktur und Mission – nicht müssen.
Fazit
Es besteht kein Zweifel, dass zivilgesellschaftliche Akteure ein hohes Maß an Vertrauen genießen.
Absehbar ist, dass die Zivilgesellschaft die Arena darstellen wird, in der wir verhandeln, was wir mit gesellschaftlichem Zusammenhalt meinen. Sie wird immer stärker zum Ort der kommunikativen Aushandlung von Gesellschaftspositionen genutzt werden. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist allerdings ein Begriff, den Menschen unterschiedlich definieren. So zeigt eine Studie zum bürgerschaftlichen Engagement, dass Menschen sich sowohl gegen als auch für Migration engagieren, weil sie um den gesellschaftlichen Zusammenhalt fürchten. Die beiden Gruppen assoziieren aber mit gesellschaftlichem Zusammenhalt etwas fundamental anderes: die erste Gruppe eine geschlossene Gesellschaft, die zweite eine offene.
Tatsächlich also steht die Zivilgesellschaft dem Problem der gesellschaftlichen Spaltung ambivalent gegenüber: Auf der einen Seite bildet sie die Fragmentierung in der Gesellschaft spiegelbildlich ab; bei Fridays for Future, Pegida, Amnesty International, Attac oder in den Vereinen der Abtreibungsgegner organisieren sich sehr unterschiedliche Positionen.
Will Zivilgesellschaft ihre gemeinwohlorientierte Logik behaupten, muss sie daraus erwachsende Konflikte gewaltfrei und zivilisiert verhandeln. Sie muss dabei einerseits, da diese Konflikte nicht mit der Organisation von politischer Macht verbunden sind, viel weniger als der Staat darum besorgt sein, Kompromisse in der Operationalisierung grundsätzlicher Positionen auszuhandeln; andererseits aber muss sie Maximen wie Respekt und Vertrauen zur Wahrung ihres Propriums einen hohen Stellenwert beimessen.
Somit kann keine Rede davon sein, dass Zivilgesellschaft "automatisch" der Ort des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist. Nur soweit sie sich des Problems desintegrativer Prozesse bewusst ist und aktiv versucht, diesen entgegenzuwirken, kann sie ein solcher Ort sein. Das Ausmaß der Befähigung ihrer Akteure, sich mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen, gibt dafür den Ausschlag.