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Applaus ist nicht genug Gesellschaftliche Anerkennung systemrelevanter Berufe

Annekatrin Schrenker Claire Samtleben Markus Schrenker

/ 14 Minuten zu lesen

Die Corona-Pandemie fördert existenzielle Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts zutage. Unter anderem wird seit Beginn der Krise kontrovers über den Wert und das Ansehen "systemrelevanter Berufe" diskutiert. Während sich im März 2020 Bürger:innen auf den Balkonen der Republik versammelten, um diesen systemrelevanten Berufen Beifall für ihre Arbeit zu spenden, hielten Teile der betroffenen "Systemrelevanten" diese vermeintliche Anerkennung angesichts prekärer Verdienste und schlechter Arbeitsbedingungen für aufgesetzt oder gar verlogen. Was aber sind überhaupt "systemrelevante Berufe" – und wie definiert sich in einem solchen Krisenkontext Systemrelevanz? Welche Rolle spielen die damit beschriebenen Tätigkeiten für die Gesellschaft? Gibt es eine Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Ansehen und Lohnniveau? Und wie kommt das Lohnniveau systemrelevanter Berufe, die für die Gesellschaft eine so fundamentale Funktion zu haben scheinen, eigentlich zustande?

Systemrelevant? Definition und Funktion

"Systemrelevanz" bedeutet, für das Funktionieren eines Systems buchstäblich unabdingbar zu sein. Mit diesem Status kann einerseits eine außerordentliche Belastung der jeweiligen Beschäftigten einhergehen, andererseits lässt sich aus ihm eine besondere Unterstützungs- und Schutzwürdigkeit ableiten. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem Kontext der Finanzkrise 2008, als die Insolvenz systemrelevanter Banken mithilfe von Steuergeldern abgewendet werden sollte. Erklärtes Ziel sowohl in der Finanzkrise als auch in der Corona-Pandemie war und ist es, das reibungslose Funktionieren "kritischer Infrastrukturen" sicherzustellen. In der Corona-Krise definierte der Bund jene Einrichtungen als systemrelevant, die zur "Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen, teils lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen beitragen". Systemrelevante Arbeitnehmer:innen erhielten einen Anspruch auf Notbetreuung ihres Nachwuchses in Kita und Schule. Während die Gesamtbevölkerung unter Pandemiebedingungen dazu angehalten war, Kontakte zu reduzieren und zu Hause zu arbeiten und zu betreuen, wurde von systemrelevant Beschäftigten erwartet, ihrer Erwerbstätigkeit möglichst uneingeschränkt nachzugehen und das Weiterfunktionieren der Gesellschaft zu sichern – in vielen Fällen bei erhöhtem gesundheitlichem Risiko.

Die Zuteilung der Berufe zur Kategorie "systemrelevant" erfolgte dabei zunächst danach, ob die Tätigkeiten für das kurzfristige Funktionieren einer Gesellschaft im Krisenzustand essenziell sind. Gemäß der Maslowschen Bedürfnispyramide, nach der zuerst physiologische Grund- und Sicherheitsbedürfnisse erfüllt sein müssen, bevor andere menschliche Sozial- oder Individualbedürfnisse entstehen, tragen systemrelevant Beschäftigte vorrangig zur Erfüllung ebenjener Grundbedürfnisse bei. Dementsprechend gehörten zu den systemrelevanten Bereichen zu Beginn der Corona-Pandemie insbesondere der Gesundheitssektor, die Grund- und Lebensmittelversorgung, die öffentliche Verwaltung, die Verkehrs- und IT-Infrastruktur, Sozialarbeits- und Erziehungsberufe, Reinigungs-, Hygiene- und Entsorgungsberufe, der Brand- und Arbeitsschutz sowie Berufe im Bereich der inneren Sicherheit.

Ausweitung der Tätigkeitsfelder

Die Gruppe der in der Corona-Krise systemrelevant Beschäftigten war von Beginn an ausgesprochen heterogen. Darüber hinaus ergaben sich regionale Unterschiede in der Festlegung konkreter Berufe, unter anderem, um das länderspezifische Gewicht bestimmter Berufsgruppen berücksichtigen zu können. So galten in der Landwirtschaft Beschäftigte zwar beispielsweise in Brandenburg als systemrelevant, nicht jedoch in Berlin. Die Einteilung diente wohl hauptsächlich dem Zweck, pragmatisches und schnelles Verwaltungshandeln zu ermöglichen. Zudem wurde die Definition systemrelevanter Berufe bereits wenige Wochen nach Veröffentlichung der ursprünglichen Berufslisten erstmalig angepasst und um weitere Berufsgruppen ergänzt. Diese definitorische Ausweitung hatte damit zu tun, dass manche Berufe erst mit zunehmender Dauer der Pandemie unverzichtbar wurden. Bedingt durch die schrittweise Wiederaufnahme des Schul- und Hochschulbetriebs wurden zum Beispiel Lehrkräfte systemrelevant. Andere Berufe – beispielsweise in der Tierpflege – waren bei der ersten Festlegung schlicht übersehen worden. Gleichzeitig liegt die Vermutung nahe, dass einige neu hinzugekommene Berufsgruppen gut funktionierende Interessenvertretungen hatten, die Druck ausübten, um auf die Liste der systemrelevanten Berufe aufgenommen zu werden. In diesem Beitrag werden nur jene Berufsgruppen betrachtet, die seit Beginn der Pandemie als systemrelevant gelten.

Die suggestive Zweiteilung in "relevant" und "im Notfall verzichtbar" sorgte zuweilen für Unmut und eröffnete einen gesellschaftlichen Diskurs über den Wert und die Funktion verschiedener Tätigkeitsbereiche. Mit der Klassifizierung als systemrelevant scheint eine Aufwertung assoziiert worden zu sein, aus der man sich Privilegien erhoffte – sei es beim Zugang zur Kindernotbetreuung oder hinsichtlich materieller Anerkennung. Gleichzeitig ging mit der Einstufung als nicht systemrelevant für einige Beschäftigte eine subjektiv empfundene Abwertung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung einher. Beschäftigte in Kunst, Kultur und Entertainment, die zu keinem Zeitpunkt unter diese Klassifizierung fielen, sahen sich zudem mit begründeten Existenzängsten konfrontiert. All dies zog die berechtigte Frage nach sich, was das Attribut "systemrelevant" eigentlich impliziert und wie mit Tätigkeiten, die keine Grundbedürfnisse abdecken, aber dennoch unterstützenswert sind, umgegangen werden soll. Auch wurde der Zweck der Definition von Systemrelevanz an sich, genauer, die Fokussierung auf das bloße Absichern der fundamentalsten Grundbedürfnisse, problematisiert.

Diese Debatten, so berechtigt sie auch sind, sollten allerdings nicht von der neu entstandenen Aufmerksamkeit für den Wert systemrelevanter Berufe ablenken. Ohne Frage basieren die ersten von den Bundesländern herausgegebenen Listen systemrelevanter Berufe auf einer restriktiven, funktionalen Definition des Begriffs "systemrelevant". Es ist jedoch ebenso unstrittig, dass der definierte Personenkreis das Funktionieren der kritischen Infrastruktur unter teils widrigen Bedingungen sichergestellt hat. Zudem sollte nicht übersehen werden, dass die systemrelevanten Berufe diese fundamentale Funktion für die Gesellschaft auch in Nicht-Krisenzeiten ausüben. Durch die Krise haben sie nur eine besondere Sichtbarkeit erlangt. Damit drängt sich die Frage auf, welche Wertschätzung und monetäre Anerkennung diesen Berufsgruppen überhaupt zuteilwird.

Gesellschaftliche Anerkennung

Um das Ansehen von Berufen zu erfassen, verwendet die soziologische Forschung sogenannte Berufsprestige-Skalen. Diese verbinden Bevölkerungsumfragen zum Ansehen ausgewählter Berufe mit Merkmalen wie dem erforderlichen Ausbildungsniveau, der beruflichen Stellung und den Verdienstmöglichkeiten. Für Deutschland etwa gibt es die sogenannte Magnitude Prestige Skala (MPS), auf deren Basis das Ansehen einzelner Berufe systematisch miteinander verglichen werden kann. Alternativ lässt sich die Wertschätzung verschiedener Berufe auch direkt anhand der Bezahlung sowie auf Grundlage ausgewählter Beschäftigungsmerkmale evaluieren – zum Beispiel darüber, ob eine Befristung des Arbeitsverhältnisses, eine Tarifbindung oder eine Beschäftigung in einer Branche vorliegt, für die ein Mindestlohn allgemeinverbindlich erklärt wurde. Auch Selbsteinschätzungen der systemrelevant Beschäftigten bezüglich ihrer wirtschaftlichen Situation können Aufschluss über ihren Stellenwert in der Gesellschaft geben.

Abbildung 1: Berufsprestige und Bruttostundenlohn systemrelevanter Berufe im Vergleich zum Durchschnitt.

Es zeigt sich, dass das Berufsprestige der systemrelevant Beschäftigten insgesamt unterdurchschnittlich ausgeprägt ist (Abbildung 1). Zwar finden sich unter den systemrelevanten Berufen auch sehr hoch angesehene Berufsgruppen wie Ärzt:innen und pharmazeutische Berufe, diese stellen jedoch einen vergleichsweise geringen Anteil. Insgesamt weisen knapp 80 Prozent aller systemrelevanten Arbeitnehmer:innen ein unterdurchschnittliches Berufsprestige auf. Besonders niedrig ist das Ansehen der Reinigungsberufe, der Fahrzeugführer:innen im Straßenverkehr sowie der Lagerwirtschafts-, Post- und Zustellungsberufe.

Der mittlere Stundenlohn in den systemrelevanten Berufen liegt mit 16,60 Euro knapp elf Prozent unterhalb des Durchschnittslohns aller Berufe. Betrachtet man die systemrelevanten Berufe einzeln, so zeigt sich, ähnlich wie beim Berufsprestige, eine beträchtliche Heterogenität. Besonders gering sind die Löhne bei den Reinigungsberufen, Verkäufer:innen, Fahrzeugführer:innen im Straßenverkehr, den Arzt- und Praxishilfen sowie den Lagerwirtschafts-, Post- und Zustellungsberufen. Zwar gibt es auch systemrelevante Berufe mit überdurchschnittlicher Bezahlung, diese stellen jedoch – mit Ausnahme der Verwaltungsberufe – nur einen geringen Anteil aller systemrelevant Beschäftigten. Insgesamt erzielen gut 70 Prozent der systemrelevant Beschäftigten einen unterdurchschnittlichen Lohn. Ein geringes berufliches Prestige geht dabei oft, aber nicht immer, mit einer geringeren Bezahlung einher. Einige Berufsgruppen – beispielsweise Müllwerker:innen oder Lokführer:innen – erzielen, gemessen an ihrem eher niedrigen Berufsprestige, vergleichsweise hohe Löhne. Altenpflegeberufe hingegen werden deutlich schlechter bezahlt als es ihr nahezu durchschnittliches Berufsprestige erwarten ließe. Diese Statusinkonsistenzen sind jedoch eher die Ausnahme. Insgesamt weisen die systemrelevanten Berufe sowohl ein unterdurchschnittliches Berufsprestige als auch eine unterdurchschnittliche Entlohnung auf.

Abbildung 2: Beschäftigungssituation und subjektiv empfundene Wertschätzung unter systemrelevant Beschäftigten.

Häufig ist im Zusammenhang mit den systemrelevanten Berufsgruppen auch von "prekärer Beschäftigung" die Rede. Allerdings ist der Begriff im wissenschaftlichen Diskurs wegen seiner Unschärfe umstritten. Stattdessen wird bevorzugt auf das Konzept atypischer Beschäftigungsverhältnisse in Abgrenzung zum sogenannten Normalarbeitsverhältnis zurückgegriffen. Das Statistische Bundesamt versteht unter atypischen Beschäftigungsformen "Teilzeitbeschäftigungen mit 20 oder weniger Arbeitsstunden pro Woche, geringfügige Beschäftigungen, befristete Beschäftigungen sowie Zeitarbeitsverhältnisse". Tatsächlich ist atypische Beschäftigung unter systemrelevanten Arbeitnehmer:innen zum Teil verbreiteter. Knapp 21 Prozent der systemrelevant Beschäftigten befinden sich in einem befristeten Anstellungsverhältnis – in den nicht systemrelevanten Berufen liegt der Anteil mit gut 16 Prozent deutlich darunter (Abbildung 2). Auch sind systemrelevant Beschäftigte überproportional in Betrieben beschäftigt, für die ein branchenspezifischer Mindestlohn für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Dies soll Lohndumping verhindern, was als Indiz für eine schwierige Arbeitsmarktposition der dort Beschäftigten gewertet werden kann. Überraschend ist auf den ersten Blick hingegen, dass systemrelevant Beschäftigte häufiger in Betrieben mit Tarifbindung arbeiten. Da das Lohnniveau in tarifgebundenen Unternehmen zumindest für Geringqualifizierte in der Regel höher ist, sollte dies einer schlechten Bezahlung systemrelevanter Tätigkeiten entgegenwirken. Tatsächlich ist die Tarifbindung in jenen Berufsgruppen gering, in denen besonders niedrige Löhne gezahlt werden: bei Fahrzeugführer:innen im Straßenverkehr, Arzt- und Praxishilfen, Verkäufer:innen oder auch den Lagerwirtschafts-, Post- und Zustellungsberufen. Der hohe Anteil tarifgebunden Beschäftigter in den systemrelevanten Berufen ist insbesondere auf den öffentlichen Dienst zurückzuführen: auf Berufe in Verwaltung, Erziehung, Krankenpflege und Polizei. Jedoch haben auch die unterdurchschnittlich bezahlten Reinigungsberufe einen Tarifanteil von zumindest 54 Prozent. Zudem sind Teilzeit- und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse unter systemrelevant Beschäftigten deutlich häufiger. Atypische Beschäftigung ist also in den systemrelevanten Berufsgruppen nicht die Regel, aber durchaus weit verbreitet, worin man in Kombination mit der unterdurchschnittlichen Bezahlung einen Ausdruck gesellschaftlicher Geringschätzung erkennen kann.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Beschäftigte in systemrelevanten Berufen ihre eigene gesellschaftliche Position eigentlich selbst als prekär wahrnehmen. Tatsächlich bewerten Beschäftigte in systemrelevanten Berufen ihr eigenes Gehalt seltener als angemessen als nicht systemrelevant Beschäftigte. Auch machen sie sich häufiger große Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation.

Öffentliche Debattenbeiträge wie "Applaus zahlt keine Miete" mögen den Eindruck erweckt haben, es gäbe eine Diskrepanz zwischen hoher gesellschaftlicher Wertschätzung und niedriger Entlohnung der systemrelevant Beschäftigten. Lässt man die Heterogenität innerhalb dieser Gruppe einmal außer Acht, zeigen die empirischen Befunde aber, dass sowohl Anerkennung als auch Entlohnung insgesamt unterdurchschnittlich sind.

Erklärungsansätze

Dieser Befund mag zunächst erstaunen, denn gemäß der sogenannten funktionalistischen Schichtungstheorie sollten Berufe, die für das Funktionieren und das Überleben einer Gesellschaft besonders wichtig sind, auch mit höherem Ansehen und höheren Entlohnungen verbunden sein. Nur so werde sichergestellt, dass geeignete Personen in ausreichender Anzahl dazu motiviert werden, diese funktional wichtigsten gesellschaftlichen Positionen zu besetzen. Man könnte die Corona-Pandemie durchaus als empirischen Test dieser Theorie ansehen – und ihre zentrale Hypothese damit für widerlegt halten. Allerdings geht auch die funktionalistische Schichtungstheorie davon aus, dass die Entlohnung noch von anderen Faktoren beeinflusst wird.

Abbildung 3: Bruttostundenlohn von systemrelevant Beschäftigten im Vergleich zu nicht systemrelevant Beschäftigten.

So spielen etwa auch die Dauer der Ausbildung und die mit ihr verknüpften Anforderungen eine Rolle. Laut der sogenannten Humankapitaltheorie fungieren höhere Löhne als Anreiz für Individuen, die für spezialisierte Berufsfelder erforderlichen Ausbildungsinvestitionen zu tätigen. Für die systemrelevanten Berufe kann das durchschnittliche Ausbildungsniveau einen Teil der Lohnnachteile gegenüber nicht systemrelevanten Berufen erklären. Gerade im Bereich der Daseinsvorsorge und der Sicherstellung der Grundversorgung sind niedrige Qualifikationsniveaus und einfache Tätigkeiten weit verbreitet. Allerdings kann die Humankapitaltheorie nicht erklären, warum Angehörige systemrelevanter Berufe auch gemessen an ihrem Ausbildungsniveau nur unterdurchschnittlich entlohnt werden (Abbildung 3).

Zudem stellt sich die normative Frage, ob Lohnnachteile tatsächlich durch ein geringeres Ausbildungsniveau gerechtfertigt werden können. Das meritokratische Ideal, nach dem Lebenschancen vor allem durch eigene Leistung und nicht durch soziale Herkunft determiniert werden sollen, hat den Fokus auf Chancengleichheit im Bildungssystem gelenkt. Jedoch rechtfertigt dieses Ideal nun jegliche Ungleichheiten, die auf Bildungsunterschiede zurückgeführt werden können – was man durchaus als Bildungsfetisch bezeichnen könnte. Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Abwertung Geringqualifizierter spricht Michael Sandel sogar von einer "Tyrannei der Leistung", Thomas Piketty von "meritokratischem Extremismus". Letztlich ist die Grundprämisse des meritokratischen Ideals fragwürdig: Chancengleichheit im Bildungssystem ist de facto nicht verwirklicht. Bildung kann daher nicht als Indikator für Leistung gelten und somit nicht zur Legitimation leistungsbasierter Einkommensunterschiede herangezogen werden.

Neben dem Ausbildungsniveau reflektieren Löhne auch das Wechselspiel aus Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften. Das Arbeitskräfteangebot ist in vielen Berufsfeldern mit geringem Qualifikationsniveau vergleichsweise hoch, beispielsweise in den Reinigungs- oder Zustellungsberufen, sodass die Marktlogik ein niedriges Lohnniveau zumindest teilweise erklären kann. Gleichzeitig sollte das Knappheitsargument in personennahen Dienstleistungsberufen, wie etwa in der Pflege oder der Kindererziehung im Primarbereich, aufgrund des dort geringen Arbeitskräfteangebots eigentlich eher höhere Einkommen bedingen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Arbeitgeber sind hier bemüht, das Arbeitskräfteangebot durch Anwerbung ausländischer Fachkräfte und Quereinsteiger hoch zu halten. Auch wenn die Tarifbindung hoch ist, scheint die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer:innen in den genannten Berufsfeldern im Vergleich zu anderen Branchen wie etwa der Automobilindustrie schlechter zu sein. Dies liegt unter anderem daran, dass im Dienstleistungssektor die Betriebe kleiner und damit auch die gewerkschaftliche Organisations- und Konfliktfähigkeit geringer sind als im industriellen Sektor. In Bereichen wie dem Einzelhandel kommt die Substitution regulärer Beschäftigung durch Minijobs als Erklärung hinzu.

Nachfrageseitig ist zudem die Zahlungsbereitschaft für Grundgüter und personennahe Dienstleistungen in Deutschland traditionell eher gering im Vergleich zur Zahlungsbereitschaft für Luxusgüter oder produktionsnahe Dienstleistungen. Bei den systemrelevanten Tätigkeitsfeldern handelt es sich außerdem um einen zwar relativ stabilen, aber zugleich auch wenig dynamischen Bereich der Wirtschaft: Im personennahen Dienstleistungsbereich spielt der Einsatz von Technologie kaum eine Rolle, sodass viele systemrelevante Berufsgruppen kaum von Lohnzuwächsen aus dem technologischen Fortschritt profitieren. Auch an den Gewinnen aus der Globalisierung konnten die systemrelevant Beschäftigten kaum partizipieren, da sie größtenteils keine Exportgüter produzieren. Marktbezogene Mechanismen können die beobachtbare Lohnstruktur somit zumindest teilweise erklären. Globalisierung und technologischer Wandel sind aber in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft nicht ohne die Vorleistungen der systemrelevanten Berufe denkbar, sodass die Gesellschaft diese über staatliche Umverteilung an den Gewinnen beteiligen sollte.

Politische Institutionen greifen bereits heute an verschiedenen Stellen in die Lohndetermination ein, auch, um Gerechtigkeitsvorstellungen oder funktionalistische Erwägungen zu bedienen. Durch Mindestlöhne verfolgt der Staat etwa das Ziel, am unteren Ende der Einkommensverteilung existenzsichernde Entlohnungen sicherzustellen. Da systemrelevant Beschäftigte häufiger im Niedriglohnbereich arbeiten, hat eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns beziehungsweise branchenweiter Mindestlöhne einen direkten Einfluss auf das Lohnniveau in diesen Berufen. Darüber hinaus sollen wettbewerbsfähige Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst sicherstellen, dass funktional wichtige gesellschaftliche Aufgaben erfüllt werden. Beispiele hierfür sind Berufe in der öffentlichen Verwaltung oder Polizei- und Justizberufe, die zumindest leicht überdurchschnittlich vergütet werden. Zugleich bemüht sich der Staat darum, die Kosten für die Grundversorgung nicht zu hoch werden zu lassen. In der gesetzlichen Krankenversicherung etwa wird mit dem Instrument der Budgetierung das Ziel der Kostendämpfung verfolgt. Da ein großer Kostenfaktor im Gesundheitsbereich die Löhne und Gehälter der dort Beschäftigten sind, werden hierdurch indirekt auch deren Verdienstmöglichkeiten begrenzt. Es ist jedoch eine politische Frage, ob man eine für alle erschwingliche Grundversorgung und eine bessere Entlohnung der Beschäftigten als unumgänglichen Zielkonflikt betrachtet. Eine bessere Bezahlung in diesen Bereichen der Grundversorgung könnte auch durch eine Umstrukturierung der Finanzierung erreicht werden, beispielsweise durch eine progressivere Ausgestaltung der Beitragssätze. Auch kann die Kostendeckelung nicht erklären, warum im Gesundheitswesen teils beträchtliche Einkommensunterschiede bestehen, beispielsweise innerhalb der Pflegebranche. Allgemeinverbindliche Tarifverträge könnten der Lohnspreizung entgegenwirken, die zwischen tarifgebundenen staatlichen Einrichtungen und nicht tarifgebundenen Einrichtungen in privater Trägerschaft im Gesundheits- und Pflegesektor besteht.

Ein Grund für das niedrige Lohnniveau in vielen systemrelevanten Berufen ist nicht zuletzt, dass es sich hierbei häufig um traditionell weibliche Berufsfelder handelt, die mitunter einer "kulturellen Entwertung" unterliegen und in denen genderstereotype Zuschreibungen Diskriminierung begünstigen. Da Frauen häufiger auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie angewiesen sind, ist Teilzeitarbeit in diesen Bereichen weit verbreitet. Auch handelt es sich oft um "sinnstiftende" Tätigkeiten, in denen sich die Beschäftigten durch eine hohe intrinsische Motivation auszeichnen – etwa in den Pflege- und Erziehungsberufen. Das Verantwortungsgefühl der Beschäftigten birgt jedoch das Potenzial für Ausbeutung durch die Arbeitgeber. Gemäß der "Theorie der kompensierenden Lohndifferenziale" fungieren die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit sowie eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie als nicht-monetäre Entlohnungskomponenten. Diese geschlechtsspezifischen Strukturen können ebenfalls einen Teil der geringeren Löhne in den systemrelevanten Berufen erklären.

Die hier betrachteten Mechanismen können das im Durchschnitt geringere Ansehen und die schlechtere Bezahlung systemrelevanter Berufe nicht abschließend erklären. Wegen der beträchtlichen Unterschiede in den Beschäftigungssituationen der systemrelevanten Berufsgruppen bedarf es einer genaueren Betrachtung auf der Ebene einzelner Berufe, auf der dann auch konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der jeweiligen Beschäftigtengruppen ansetzen müssen.

Ausblick

Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, dass viele Berufe, die für das Funktionieren der Gesellschaft essenziell sind, nur eine unterdurchschnittliche gesellschaftliche Wertschätzung erfahren. Dabei ist zu betonen, dass systemrelevant Beschäftigte ihren Dienst an der Gesellschaft natürlich nicht nur in Krisenzeiten leisten. Krisen haben aber das Potenzial, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen: Nach der Finanzkrise sank beispielsweise die Reputation von Bankangestellten. Zu Beginn der Corona-Pandemie gab es zwar viel Applaus für Beschäftigte in systemrelevanten Berufen. Ob dies allein jedoch für eine nachhaltig höhere, auch monetäre, Anerkennung der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen sorgen wird, ist fraglich. An Gelegenheiten, den Solidaritätsbekundungen Taten folgen zu lassen und eine bessere Bezahlung für die Betroffenen durchzusetzen, mangelte es zuletzt nicht. In den entsprechenden Tarifverhandlungen wurden jedoch, wenn überhaupt, nur Einmalzahlungen in Form sogenannter "Corona-Prämien" vereinbart. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es für nachhaltige Veränderungen mehr braucht als guten Willen: Eine Besserstellung der systemrelevant Beschäftigten erfordert sowohl eine erhöhte Zahlungsbereitschaft für primäre Dienstleistungen als auch ein konsequentes politisches Eingreifen in institutionelle Rahmenbedingungen. Beides muss zuerst einmal gesellschaftlich gewollt werden.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Staat am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. E-Mail Link: aschrenker@diw.de

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsforschungsgruppe Zeitpolitik der Abteilung Staat am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. E-Mail Link: csamtleben@diw.de

ist promovierter Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehrbereich Empirische Sozialforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail Link: schrenker@hu-berlin.de