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"Wenn du mich siehst, dann weine" | Hitze, Dürre, Anpassung | bpb.de

Hitze, Dürre, Anpassung Editorial "Man muss anerkennen, dass wir jetzt schon in einem anderen Klima leben". Ein Gespräch über das aktuelle Klimageschehen, Anpassungsmaßnahmen und den demokratischen Dialog darüber. Schwindender Reichtum. Vom Umgang mit Wasser in Deutschland Zur Entwicklung von Wasserhaushalt und Dürren in Deutschland Dürre Zeiten in Südeuropa. Das Beispiel Frankreich Kommune, pass dich an! Hitze und Trockenheit auf lokaler Ebene begegnen Hitze, Dürre, Krieg. Klimawandel als Sicherheitsrisiko "Wenn du mich siehst, dann weine". Dürren in der Vormoderne – Rekonstruktion, Anpassung, Erinnerung

"Wenn du mich siehst, dann weine" Dürren in der Vormoderne – Rekonstruktion, Anpassung, Erinnerung

Martin Bauch

/ 15 Minuten zu lesen

Die klimahistorische Perspektive bietet Orientierung, indem sie historischen Kontext zu extremen Dürren der Gegenwart liefert und Möglichkeiten und Grenzen der Anpassung aufzeigt. Zugleich lehrt sie, wie ein Bewusstsein für extreme Dürren wachgehalten werden kann.

Im Sommer 2022 erlebten weite Teile Europas eine verheerende Dürre: Die Landwirtschaft litt unter dem Mangel an Regen und schon seit Jahren stark reduzierter Bodenfeuchte, die niedrigen Wasserstände in Flüssen wie dem Rhein hinderten massiv Transporte von Waren und fossilen Brennstoffen auf großen Lastschiffen. Nicht zuletzt gerieten die auf Wasserkühlung angewiesenen französischen Atomkraftwerke unter Druck und mussten ihre Stromproduktion reduzieren. Dabei war die Kombination aus niederschlagsarmem Frühjahr und Sommer kein Einzelfall: 2022 war das dritte viel zu trockene Jahr seit 2018, wie auf den Karten der Dürreintensitäten für Deutschland seit 1952 zu erkennen ist (Abbildung 1). Sie zeigt darüber hinaus deutlich, dass Dürre eine Naturkatastrophe mit langem Vorlauf ist (slow onset disaster) und sich in der chronologischen Dehnung deutlich von kurzfristigen Extremereignissen wie Hochwasser, Sturmfluten oder Erdbeben unterscheidet. Sie ähnelt vielmehr der Wüstenbildung, dem Abschmelzen der Gletscher, der Versalzung und Übersäuerung der Ozeane sowie dem Ansteigen des Meeresspiegels – alles Umweltrisiken im Kontext des anthropogenen Klimawandels, die lange unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle waren oder es noch sind.

Medial erhielt die Dürre 2022 nicht zuletzt deshalb große Aufmerksamkeit, weil die wissenschaftliche Einschätzung kursierte, es handele sich um die schwerste Dürre in Europa seit mindestens 500 Jahren. Gänzlich unerwartet rückten so mittelalterliche Dürren ins öffentliche Interesse. Dies war umso interessanter, als auch Forschenden aus der noch jungen, an der Grenze von Natur- und Geisteswissenschaften angesiedelten Disziplin der Klimageschichte zwar einzelne Hitzejahre im 15. Jahrhundert in Mitteleuropa in den Sinn gekommen wären, nicht aber eine sehr lange Dürreperiode, die sie in ihren Quellen so bisher noch nicht erkannt hatten. Die Meldung basierte auf einer Veröffentlichung des Joint Research Centre der Europäischen Kommission, einer forschungsbasierten Einrichtung zur Politikberatung. Als Plattform unterhält das JRC ein "Global Drought Observatory", das eine Datenbank globaler Dürreereignisse auf Basis von Messwerten seit 1950 vorhält.

Wie kam es zu der spektakulären langfristigen historischen Einordnung? Und ist es überhaupt möglich, Dürreperioden vor der systematischen Erfassung von Niederschlägen zu rekonstruieren? Haben uns diese historischen Dürreperioden in ihren soziokulturellen Auswirkungen noch etwas für unsere modernen Gesellschaften zu sagen?

Rekonstruktion historischer Dürren

Im Wesentlichen gibt es drei Wege, um Informationen über Dürren in der Zeit vor der instrumentellen Aufzeichnung von Niederschlägen und Flusspegeln zu gewinnen.

Die präzisesten Angaben lassen sich aus den Auswertungen von Baumringen gewinnen (Dendroklimatologie) – deren Wachstum wird im Hochgebirge von der Temperatur, in flacheren Gegenden vom Niederschlag bestimmt. Baumringe sind daher gute Proxydaten, das heißt indirekte Indikatoren für feuchte Phasen und Dürren, vor allem wenn zahlreiche Baumringchronologien im Vergleich ausgewertet werden können und so der Wert eines einzelnen Standorts weniger wichtig wird als ein Mittelwert zahlreicher Bäume. Auf diese Weise können sogar jahrgenaue Angaben zu Niederschlägen rekonstruiert werden, allerdings einzig für die Wachstumsperiode der Bäume – in aller Regel die Monate Juni bis August. Für alle anderen Jahreszeiten geben die Bäume keine Auskunft; und nicht für alle Regionen Europas sind dendroklimatologische Daten so dicht vorhanden, dass verlässliche Rekonstruktionen möglich sind. In den Baumringen fanden sich auch die ersten Hinweise auf eine Megadürre (megadrought) im 15. Jahrhundert, bestimmt durch jahrzehntelang weit unterdurchschnittliche Niederschläge in den Sommermonaten der Jahre 1437 bis 1473, wobei es in diesem langen Zeitraum nur zwei isolierte Jahre gab, für die ein positiver Dürreindex (PDSI) in Mitteleuropa in den aggregierten Baumringbefunden des "Old World Drought Atlas" nachweisbar war (Abbildung 2).

Eine zweite, erstaunlich präzise Rekonstruktion der meteorologischen Charakteristika von Sommern basiert nicht auf naturwissenschaftlichen Daten wie Baumringanalysen, sondern auf dem über viele Jahrhunderte an traditionsreichen Weinbaustandorten niedergeschriebenen Beginn der Weinlese. Dieser Erntebeginn wurde kollektiv reguliert, so etwa im französischen Beaune. Die Auswertung der dort seit 1354 kontinuierlich vorliegenden Weinlesedaten sind, so eine ältere Erkenntnis der Klimageschichte, ideale Quellen für Wärme und Trockenheit des vorherigen Sommers: Je weniger Niederschlag und je höher die Temperaturen, desto früher konnte mit der Weinlese begonnen werden. Meist profitierte auch die Qualität des Weins von diesen Rahmenbedingungen, wie etwa der älteste erhaltene europäische Weißwein in Würzburg beweist, der offensichtlich bereits für die Zeitgenossen als außergewöhnlich galt. Er hat den klimahistorisch markanten Jahrgang 1540.

Aus den schriftlichen Aufzeichnungen zum Beginn der Weinlese kann für Beaune eine beeindruckende Kurve gewonnen werden, die zeigt, dass extrem heiße und trockene Sommer auch in der Vormoderne immer wieder vorkamen (Abbildung 3) – allerdings scheinen gerade die fraglichen Jahre der Megadürre des 15. Jahrhunderts mit Ausnahme zweier Extremjahre 1420 und 1473 keineswegs von Extremen geprägt gewesen zu sein. Freilich muss hier berücksichtigt werden, dass eine solche Reihe von Weinlesedaten nur regionale Aussagekraft hat – in diesem Fall für Burgund, und eben nicht für ganz Mitteleuropa. Bemerkenswert ist dabei aber schon, dass sich auch dort die Hitzesommer ab dem Jahr 2000 häufen und der Dürresommer 2018 den frühesten Beginn der Weinlese seit 1354 aufweist: Die aus naturwissenschaftlichen Rekonstruktionen bekannte "Hockeyschläger-Kurve" der anthropogenen Klimaveränderung wird hier allein auf Basis historischer Quellen reproduziert.

Die dritte Quelle für historische Dürreperioden sind narrative historische Dokumente – also Aufzeichnungen über Dürreperioden und deren Folgen in Chroniken, Annalen und Tagebüchern, aber auch in Inschriften oder Briefen. Sie eignen sich besonders, um einzelne Extremjahre zu identifizieren und näher zu charakterisieren. Dies hat die Klimageschichte etwa für das Jahr 1473 geleistet oder für die sogenannte Jahrtausenddürre des Jahres 1540. Historische Dokumente geben auch – anders als alle sonstigen Daten – Auskunft über Niederschläge oder deren Abwesenheit im Herbst, Winter und Frühjahr. Dafür sind die Informationen in der Regel lückenhaft, subjektiv gefärbt, manchmal nur schwer zu verorten und regional ungleich verteilt.

Ein zentrales Problem ist, dass diese qualitativen Informationen kaum in einen Zusammenhang mit quantitativen Rekonstruktionen wie den Dürreindizes auf Baumringbasis gebracht werden können. Daher kommt die nicht unproblematische Methode der sogenannten Klimaindizes zum Tragen. Darunter versteht man den Versuch, qualitative Informationen über Temperatur und Niederschlag für bestimmte Perioden (meist Jahreszeiten) auf einer Skala (meist von +3 bis −3) auszudrücken. Im Fall der mitteleuropäischen Megadürre in der Mitte des 15. Jahrhunderts wurden Niederschlags- und Temperaturindizes für ganze Jahrzehnte mit Rekonstruktionen auf Baumringbasis verglichen. Die Befunde der dekadischen Indizes stützen jedoch keineswegs die These einer jahrzehntelangen Megadürre, weder im Hinblick auf reduzierte Niederschläge noch auf höhere Temperaturen. Ein solches Extrem hätte sich auch stärker in der schriftlich überlieferten Geschichte des spätmittelalterlichen Europa niederschlagen müssen. Die Indizes wiederum beruhen auf einer Pionierarbeit der historischen Klimatologie für Mitteleuropa, deren Datengrundlage online einsehbar ist. Aus Perspektive der historisch-kritischen Methode sind aber viele der dortigen Einträge aus Schriftquellen von geringer Zuverlässigkeit, was unvermeidlich die Belastbarkeit der Indizes beeinträchtigt.

Alle dargestellten Datengrundlagen für die Rekonstruktion historischer Dürreperioden haben also spezifische Vor- und Nachteile. Es ist ausgesprochen schwierig, Aussagen zu treffen, die für ganze Jahresläufe oder Jahrzehnte Validität beanspruchen können. Trotz jahrzehntelanger Grundlagenforschung ist unser Wissen jenseits der Baumringrekonstruktionen dafür noch zu wenig belastbar.

Auswirkungen und Anpassung

Die sozioökonomischen Konsequenzen vormoderner Dürren weisen erstaunliche Parallelen zu den Folgen des gegenwärtigen Wassermangels auf. Dies zeigt etwa das Zitat aus einer Regensburger Chronik für das Jahr 1540, in der Rückbezüge zum Hitzejahr 1473 gezogen werden:

"Vom merzen an piß auff den 28. julii [1540] wenig, schir gar nit gerengt (…), das alles, so auff dem feld soll wagssen, hart verpran, sonderlich dy waid, das fiech schir erhungeret, es was also haiß, das das lieb getraid Magarethe (10. Juni) alles in stedln ward. es het kain dau, wie man saget, das im dürren sommer gewest, so man gezelt hat 1473, so ist doch, wie dürr es gewesen ist, an kainer frucht und gwegß kain mangel gewesen, aller ding genug gewagssen (…) Ich habs von glaubwürdigen leuten gehört, das dy feldtmeus wassers halben todt in egkern gefunden sein worden. Item es sein vill weld und hölzer außprunnen, das es pillich unser nachomen einen dürren sommer nennen kännden und mügen."

Der Autor, der Kleriker Leonhard Widmann, war Sohn von Weinbauern und möglicherweise deswegen besonders sensibilisiert für Witterungsphänomene und deren Auswirkungen. Er liefert eine mustergültige Charakterisierung der sozioökonomischen Konsequenzen des Jahrtausendsommers 1540, der hier beispielhaft stehen kann: Getreideernten und Viehzucht konnten negativ beeinflusst werden, allerdings nur in extremen Ausprägungen – trockene, warme Sommer waren für die Produktion von Brotgetreide generell eher vorteilhaft. Während Tiere unter dem Wassermangel litten und Waldbrände sich häuften, profitierte die Weinproduktion quantitativ wie qualitativ eher.

Auch die vormoderne Energieproduktion hatte mit den Folgen niedriger Wasserstände zu kämpfen: Freilich fielen hier keine Kernkraftwerke, sondern Wassermühlen als vorherrschende Energiequelle trocken, mit Konsequenzen für die protoindustrielle Produktion vor allem von Textilien und die Versorgung mit dem Lebensmittel Mehl. Austrocknende Flüsse behinderten zudem den Transport übers Wasser, der mit Abstand günstigsten Möglichkeit der Zeit, Massengüter wie Getreide, Bier oder Wein zu bewegen.

Entsprechend konnten in extremen Fällen wie der mehrjährigen Dürre von 1302 bis 1304 im Mittelmeerraum auch ausbleibende Niederschläge zu Teuerungen führen. Städte reagierten darauf mit der Stärkung einschlägiger Infrastrukturen der Wasserversorgung wie dem Neubau von Brunnen, der Erweiterung früher Wasserleitungssysteme oder dem Ausbau von Häfen, um von dort auch in Hungerperioden mehr Getreide einführen zu können. Dies zeigt sich deutlich in der Reaktion der toskanischen Kommune Siena auf die Dürre ab 1302. Die Stadt wurde weitab von allen größeren Wasserläufen auf einer Hügelkette erbaut; so ließen die Stadtväter zum einen nach einem legendären unterirdischen Fluss suchen, der sogenannten Diana, zum anderen erwarben sie den Hafen Talamone in der Südtoskana und bauten ihn zum Getreideimporthafen um. Für beides hatte der zeitgenössische Dichter Dante Alighieri in seiner "Göttlichen Komödie" nur Spott übrig: "Du findest sie bei dem eitlen Volk [der Sienesen], das noch vergeblicher als beim Suchen nach der Diana seine Hoffnung baut auf Talamone" (Purgatorium, Canto XIII). So fanden die durchaus zweckrationalen Reaktionen auf eine Dürreperiode ihren Eingang in ein Werk der mittelalterlichen Weltliteratur.

Ob längere Dürreperioden zu einer Häufung von Stadtbränden führten, wie es vor allem für die Jahrtausenddürre 1540 postuliert worden ist, bleibt in der Forschung umstritten: Der angenommene Wirkmechanismus ist dabei denkbar einfach. Da die Bebauung der mittelalterlichen Städte vorwiegend aus Holz bestand und strohgedeckte Dächer aufwies, erhöhte eine langfristige Austrocknung die Brandgefahr. Dies beobachteten bereits Zeitgenossen: "Viele Städte wurden wegen der Trockenheit und der Unfruchtbarkeit, die in diesem Jahr [1244] vorherrschte, von Hausbränden verzehrt." Eine statistisch signifikante Korrelation von Dürrephasen im 13./14. Jahrhundert und Stadtbränden ist jedenfalls für Italien und Frankreich beobachtet worden. Gerade für Italien kann man in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch erste Organisationsformen einer kommunalen Feuerbekämpfung durch Feuerwehren finden. Nach einer Häufung von Brandkatastrophen in Mitteleuropa im Frühjahr 1342 finden wir auch Reaktionen in Deutschland: Kaiser Ludwig der Bayer erließ nur wenige Tage nach dem verheerenden Stadtbrand von Landshut für seine Residenz München eine Bauordnung, die Dächer aus Ziegeln vorschrieb und Strohdächer und Holzschindeln innerhalb der Stadtmauern verbot.

Selbstverständlich gab es nicht nur im modernen Sinn pragmatische Reaktionen auf Dürrekatastrophen, die sich vielleicht als mittelalterliche Frühformen einer Art öffentlicher Daseinsvorsorge interpretieren lassen. Extreme Umweltveränderungen wurden im Mittelalter immer auch als göttliche Strafe interpretiert, weil sich im zeitgenössischen Verständnis und geprägt durch biblische Beispiele in solchen Naturereignissen stets ein Kommentar Gottes zur moralischen Qualität der betroffenen Gesellschaft erkennen ließ. Entsprechend war es keineswegs irrational, auf diese Ereignisse religiös zu reagieren: Mit Bußpredigten, wie wir sie etwa eine Woche nach dem großen Stadtbrand von Florenz am 10. Juni 1304 belegen können, als der Dominikaner Giordano da Pisa seine Mitbürger ermahnte, das Feuer habe nur Gottes Willen erfüllt. Nach dieser Logik ergab es Sinn, nichts unversucht zu lassen, um diesen Willen zu beeinflussen – etwa durch Bußprozessionen, wie sie in großer Dichte fürs vormoderne Katalonien im Kontext von Dürreperioden überliefert sind. Aber auch in Florenz trug man 1355 zum ersten Mal eine Marienikone durch die Stadt, um eine langanhaltende Winterdürre zu einem Ende zu bringen. Die Prozessionen mit dieser Madonna dell’Impruneta wurden unter dem Eindruck extremer Ereignisse wie Katastrophen, Seuchen und Kriege noch bis ins 20. Jahrhundert veranstaltet.

Bittprozessionen sind ein gutes Beispiel für soziale Bewältigungsstrategien menschlicher Gemeinschaften im Angesicht der Dürre. Wie tief verwurzelt sie sind, zeigen etwa die Prozessionen während der Dürre im Frühjahr 2023 in Südfrankreich und Spanien, die erstmals seit 150 Jahren wieder stattfanden. Dass in Perpignan am 18. März 2023 wenige Stunden nach einer solchen Prozession entgegen der Wettervorhersage ein beachtlicher Niederschlag von 36,8 Litern pro Quadratmeter fiel – der erste Regen seit Ende September 2022 – war da natürlich ein schöner Zufall. Es steckt aber auch eine gewisse Ironie in der Geschichte, wenn man bedenkt, dass der Heilige, dessen Reliquien feierlich herumgetragen wurden, Gauderich von Perpignan, eigentlich als Schutzheiliger gegen Dauerregen verehrt wird.

Lektionen aus der Geschichte

Auch wenn das straftheologische Denken der Vormoderne und die damit verbundenen Bewältigungsstrategien heute nur noch im übertragenen Sinn relevant sind – man denke an die in der Medienöffentlichkeit oft personalisiert diskutierte "Rache der Natur" aufgrund menschlicher Ausbeutung oder apokalyptische Tendenzen bei manchen Klimaaktivist*innen –, so sind Bittprozessionen vermutlich nicht die entscheidende Lektion, die die Klimageschichte in der anthropogenen Klimaveränderung der Gegenwart anzubieten hat. Drei Aspekte gilt es festzuhalten:

Erstens ist festzustellen, dass es ein großes Bedürfnis gibt, das gegenwärtige Erleben von extremer Trockenheit in historische Zusammenhänge einzuordnen. Häufig geschieht dies unzulässig zur Relativierung und Verharmlosung – denn zweifellos hat es bereits extreme Dürrejahre gegeben, die vermutlich regional noch längere Trockenperioden verursacht haben, als wir es bisher erleben. Ein häufig missbrauchtes Beispiel ist die Jahrtausenddürre 1540. Weinlese- und Baumringdaten zeigen jedoch gleichermaßen, dass uns die Häufung der extremen Trockenjahre seit etwa 2003 durchaus Sorgen machen sollte. Klimahistorische Forschung kann und sollte hier nicht gegen die Beobachtungen und Prognosen der gegenwarts- und zukunftsorientierten Klimatologie in Stellung gebracht werden. Verweise auf einzelne Extreme in der gegenwärtigen Diskussion sind dabei nicht falsch und doch irreführend: Sie taugen nicht als Beruhigung, sondern vielmehr als Warnung. Auch wenn historische Referenzen wie "schlimmste Dürre seit dem Mittelalter" schwierig zu verifizieren sind, so zeigt die Erforschung historischer Extreme doch, welche Spannbreite an meteorologischen Ereignissen bereits innerhalb der natürlichen Schwankungsbreite erwartbar ist.

Zweitens zeigt die klimahistorische Forschung, dass Gesellschaften in der Vergangenheit immer wieder Wege gefunden haben, sich meteorologischen Extremen und sich verändernden klimatischen Rahmenbedingungen anzupassen. Hieraus können wir gewissen Mut schöpfen, aber keine Sorglosigkeit ableiten: Vormoderne Menschen lebten unter ganz anderen technologischen, sozialen, demografischen Rahmenbedingungen. Aus gutem Grund sind wir nicht mehr bereit, die Opfer an Lebenserwartung und Lebensstandard einzukalkulieren und die soziale Ungleichheit der Folgen meteorologischer Extreme hinzunehmen, die unter vormodernen Bedingungen akzeptiert wurden.

Drittens können wir aus der Vormoderne tatsächlich lernen, wie man klimatische Extreme effektiv in der Erinnerung hält und visualisiert. Im Kontext von Dürren sind vor allem zwei Phänomene hervorzuheben: Merkverse und sogenannte Hungersteine. Die "Chronosticon" oder "Chronogramm" genannten Merkverse, die das jeweilige Ereignis und die Jahreszahlen in lateinischer Sprache beziehungsweise römischen Zahlen festhielten, waren vor allem in der Frühen Neuzeit populär und wurden an öffentlichen Gebäuden angebracht oder flossen in Geschichtswerke ein. So fand etwa die Jahrtausenddürre von 1540 in einem Vers, der den Niedrigwasserstand der Flüsse thematisierte, kunstvollen Ausdruck. Obwohl es altphilologisch beschlagenen Zeitgenossen auch heute noch möglich ist, solche Chronogramme mit klarem Bezug zur Klimakrise etwa für das Jahr 2022 zu verfassen, wird mit dieser Textform in der Gegenwart wohl kein größeres Publikum mehr erreicht.

Bessere Chancen haben diesbezüglich die Hungersteine in mitteleuropäischen Flüssen. Dabei handelt es sich um Markierungen und Inschriften, die bereits in der Vormoderne auf Felsen im Flussbett angebracht wurden und nur bei extremem Niedrigwasser sichtbar werden. Sie finden sich in bemerkenswerter Dichte in der Elbe sowohl auf sächsischer als auch auf böhmischer Seite. Ein hervorragendes Beispiel dafür findet sich im nordböhmischen Děčín an der Elbe – auf dem dortigen Hungerstein sind mehrere Zahlen von Niedrigwasserjahren seit dem 17. Jahrhundert angebracht (Abbildung 4). Was diese bedeuteten, bringt eine Inschrift markant auf den Punkt: "Wenn du mich siehst, dann weine." Offensichtlich orientierten sich an diesem Vorbild Klimaaktivist*innen von Greenpeace, die im August 2018 in Magdeburg am Domfelsen im Bett der Elbe einen analogen Hungerstein mit der Inschrift "Wenn Du mich siehst, ist Klimakrise" platzierten, um für den baldigen Ausstieg aus der Kohleverstromung zu demonstrieren.

Eine klimahistorische Perspektive auf Dürren der Vormoderne kann also Orientierung bieten, indem sie historischen Kontext zu extremen Dürren der Gegenwart liefert und Einblicke in Möglichkeiten und Grenzen der Anpassung menschlicher Gesellschaften gibt – wobei die Grenzen der Vergleichbarkeit immer mitgedacht werden müssen. Nicht zuletzt zeigt sie uns, wie ein Bewusstsein für die Folgen extremer Dürren in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wachgehalten werden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Andrea Toreti et. al., Drought in Europe July 2022, Technical Report by the Joint Research Centre of the European Commission, Luxemburg 2022.

  2. Vgl. Sam White/Christian Pfister/Franz Mauelshagen (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Climate History. London 2018; Franz Mauelshagen, Klimageschichte der Neuzeit. 1500–1900, Darmstadt 2010.

  3. Als Überblick zur klimahistorischen Forschung zu Dürren vgl. Rudolf Brázdil et al., Documentary Data and the Study of Past Droughts: A Global State of the Art, in: Climate of the Past 12/2018, S. 1915–1960.

  4. Siehe Externer Link: https://edo.jrc.ec.europa.eu/gdo.

  5. Vgl. Edward R. Cook et al., Old World Megadroughts and Pluvials During the Common Era, in: Science Advances 10/2015, S. 1–9.

  6. Siehe die Datenbank des "Old World Drought Atlas": Externer Link: http://drought.memphis.edu/OWDA.

  7. Vgl. Thomas Labbé et al., The Longest Homogeneous Series of Grape Harvest Dates, Beaune 1354–2018, and Its Significance for the Understanding of Past and Present Climate, in: Climate of the Past 4/2019, S. 1485–1501.

  8. Thematisiert wird etwa der Würzburger Steinwein von 1540 in der klimahistorischen Online-Ausstellung "Die Wetterseiten der Geschichte", kuratiert von mir und Diana Lucia Feitsch, siehe Externer Link: https://artsandculture.google.com/story/lgVhMeBlg6zDLg.

  9. Vgl. Christian Pfister, Evidence from the Archives of Societies. Documentary Evidence – Overview, in: White/Pfister/Mauelshagen (Anm. 2), S. 37–48.

  10. Vgl. Chantal Camenisch et al., Extreme Heat and Drought in 1473 and Their Impacts in Europe in the Context of the Early 1470s, in: Regional Environmental Change 1/2020, L02202.

  11. Vgl. Oliver Wetter et al., The Year-Long Unprecedented European Heat and Drought of 1540 – A Worst Case, in: Climatic Change 125/2014, S. 349–363.

  12. Vgl. David J. Nash et al., Climate Indices in Historical Climate Reconstructions: A Global State of the Art, in: Climate of the Past 3/2021, S. 1273–1314.

  13. Vgl. Monica Ionita et al., Past Megadroughts in Central Europe Were Longer, More Severe and Less Warm than Modern Droughts, in: Nature Communications Earth & Environment 2/2021, Artikelnr. 61.

  14. Vgl. Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 20082.

  15. Vgl. The Climate and Environmental History Collaborative Resarcher Environment (Tambora) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, der Universitätsbibliothek Freiburg/Br., dem Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig, der Hochschule Esslingen sowie der Universität Augsburg, Externer Link: http://www.tambora.org.

  16. Vgl. den Überblick bei Rudolf Brázdil et al., Droughts in Historical Times in Europe, as Derived from Documentary Evidence, in: Jürgen Herget/Alessandro Fontana (Hrsg.), Palaeohydrology. Traces, Tracks and Trails of Extreme Events, Cham 2020, S. 65–96.

  17. Leonhart Widmanns Chronik von Regensburg 1511–43, 1552–55, in: Karl Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der baierischen Städte Regensburg, Landshut, Mühldorf, München, Leipzig 1878, S. 3–244, hier S. 161.

  18. Vgl. Kathleen Pribyl, Farming, Famine and Plague. The Impact of Climate in Late Medieval England, Cham 2017.

  19. Vgl. Martin Bauch et al., A Prequel to the Dantean Anomaly. The Precipitation Seesaw and Droughts of 1302–1307 in Europe, in: Climate of the Past 16/2021, S. 2343–2358.

  20. Vgl. Christian Pfister, When Europe Was Burning. The Multi-Season Mega-Drought of 1540 and Arsonist Paranoia, in: Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Historical Disaster Experiences. Towards a Comparative and Transcultural History of Disasters Across Asia and Europe, Heidelberg 2017, S. 155–188.

  21. Vgl. Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Göttingen 2011, S. 102–110.

  22. Wilhelm Wattenbach (Bearb.), Continuatio Sancrucensis secunda, in: Georg Heinrich Pertz (Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica, Scriptores (in Folio) 9, Hannover 1851, S. 637–646, hier S. 641.

  23. Vgl. Bauch et al. (Anm. 19).

  24. Vgl. Brázdil et al. (Anm. 16).

  25. Vgl. Sécheresse en Espagne: une procession pour le retour de la pluie organisée pour la première fois depuis 1949, in: Le Monde, 2.5.2023; Laure Moysset, Perpignan: une procession hors du temps contre une sécheresse historique, in: L’Indépendant, 18.3.2023.

  26. Vgl. Quelques heures après une procession contre la sécheresse, une pluie "miraculeuse" est tombée sur Perpignan, in: Midi Libre, 19.3.2023.

  27. Vgl. Dagomar Degroot et al., Towards a Rigorous Understanding of Societal Responses to Climate Change, in: Nature 7851/2021, S. 539–550.

  28. Vgl. Martin Bauch/Hans -Rudolf Bork/Adam Izdebski, Vergessenes Extremwetter. Umwelthistorische Wegweiser auf dem Pfad der Resilienz, in: APuZ 40–41/2021, S. 50–54.

  29. Für 1540 finden sich zahlreiche Nachweise des Merkverses "eXICCata LeVIs CVr fLVMIna CerVi reqVIrIs" (lateinisch: "Warum forschst Du nach dem Hirsch, wo das Licht/die Sonne die Flüsse ausgetrocknet hat?"), wobei die Addition der Großbuchstaben das Dürrejahr ergibt: M+CCCC+LL+VVVVV+X+IIIII = 1540. Zu Chronogrammen allgemein vgl. Waldemar Schupp, Das Chronogramm als kulturgeschichtliches Phänomen, in: Herold-Jahrbuch 8/2003, S. 127–188.

  30. Etwa "VarIatIones CaeLI graVes IngraVesCent/ConIVnCtIs eLVVIonIbVs IngentIbVs/VentIs saeVIs aestV sICCItatIbVs/egentI InopIa/nIsI nobIs IntentIone VnIVersa ContInget/natVrae rerVM ConVenIenter VIVere" ("Die gravierenden Klimaschwankungen werden uns/in Zukunft in Verbindung mit gewaltigen Überschwemmungen/heftig wütenden Stürmen, Hitze,/Dürre und gänzlicher Verarmung noch mehr belasten/sofern es uns nicht durch gemeinsamen Einsatz gelingt/in Harmonie mit der Schöpfung zu leben"). Urheber dieses bemerkenswerten Chronogramms und der Übersetzung ist Heinrich Hürfeld, erstveröffentlicht in Pro Lingua Latina – Zeitschrift für Lateinische Sprache 23/2022, S. 9.

  31. Vgl. Libor Elleder et al., Low Water Stage Marks on Hunger Stones: Verification for the Elbe from 1616 to 2015, in: Climate of the Past 5/2020, S. 1821–1846.

  32. Protest gegen Kohleenergie: Greenpeace-Aktivisten platzieren Hungerstein in der Elbe, 17.8.2018, Externer Link: http://www.greenpeace.de/klimaschutz/energiewende/kohleausstieg/stein-gemeisselt.

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ist promovierter Historiker und leitet die Nachwuchsforschungsgruppe "Dantean Anomaly" zur spätmittelalterlichen Klimageschichte im europäischen Vergleich am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig.
E-Mail Link: martin.bauch@leibniz-gwzo.de