Um die Menschenrechte innerhalb Europas müsste es eigentlich gut bestellt sein. Nicht nur enthalten die nationalen Verfassungen in der Region umfassende Grundrechtskataloge und sind die Europäische Union sowie ihre 27 Mitgliedsstaaten bei Anwendung des Unionsrechts an die EU-Grundrechtecharta gebunden. Die europäischen Staaten sind auch in das regionale und das globale Menschenrechtsschutzsystem fest eingebettet. Auf regionaler Ebene sind hier die Menschenrechtsabkommen des 47 Staaten umfassenden Europarates zu nennen, dem – mit Ausnahme von Belarus – alle Staaten Europas angehören, auch die Türkei und die Staaten des Kaukasus. Auf globaler Ebene haben die europäischen Staaten die meisten Kernabkommen des UN-Menschenrechtsschutzes ratifiziert.
Hüter der Menschenrechte
Der Europarat beschreibt sich auf seiner Website selbst als "Europas führende Organisation für Menschenrechte". Diesem Selbstverständnis verleihen etliche völkerrechtliche Abkommen zum Schutz der Menschenrechte Ausdruck. Zuvorderst ist hier die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK von 1950, seit 1953 in Kraft) zu nennen, die bislang durch 16 Protokolle ergänzt wurde.
Dem Schutz und der Förderung der Menschenrechte verpflichtet sind aber auch: die Europäische Sozialcharta in ihrer ursprünglichen (1961/1965) und in ihrer revidierten Fassung (1996/1999), das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (1987/1989), die Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels (2005/2008), das Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (2007/2010) sowie das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (2011/2014). Letzteres ist als "Istanbul-Konvention" bekannt geworden und erlangte 2021 besondere mediale Aufmerksamkeit, als die Türkei aus der Konvention austrat. Hinzu kommen noch Abkommen zum nationalen Minderheitenschutz.
Indes können nur Verletzungen der EMRK vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gebracht werden. Alle anderen Menschenrechtsabkommen werden, obwohl sie für die Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindlich sind, von Sachverständigenausschüssen überwacht, die allenfalls Berichte und Empfehlungen abgeben können. Hinzu kommt eine Reihe politischer Institutionen des Europarates zur Förderung der Menschenrechte.
Herzstück
Die EMRK ist das Herzstück des europäischen Menschenrechtsschutzes, der EGMR das zentrale Organ zum Schutz der darin verbrieften, vornehmlich bürgerlichen und politischen Rechte.
Durch Zusatzprotokolle wurden weitere Rechte nachträglich hinzugefügt. Dazu gehören die Rechte auf Eigentum, Bildung und freie Wahlen (Protokoll von 1952), das Recht auf Freizügigkeit sowie die Verbote der Schuldhaft, der Ausweisung eigener Staatsangehöriger und der Kollektivausweisung ausländischer Personen (Protokoll Nr. 4 von 1963), einige Verfahrens- und Justizgarantien (Nr. 7 von 1984), ein allgemeines Diskriminierungsverbot (Nr. 12 von 2000) sowie die Abschaffung der Todesstrafe (Nr. 6 von 1983 und Nr. 13 von 2002). Im Unterschied zur EMRK wurden die Zusatzprotokolle jedoch nicht von allen 47 Staaten gleichermaßen ratifiziert. So steht beispielsweise die Ratifikation des Protokolls 12 (Diskriminierungsverbot) durch Deutschland bis heute aus.
Vertragsstaaten können sich in Form von Staatenbeschwerden wegen jeder behaupteten Verletzung der EMRK an den Gerichtshof wenden, was allerdings selten geschieht.
Die Urteile des EGMR sind verbindlich und müssen von den betreffenden Staaten umgesetzt werden. Allerdings kann der EGMR keine in den Mitgliedsstaaten ergangenen Urteile aufheben oder abändern. Es obliegt dem jeweiligen Staat – über die Zahlung etwaiger festgelegter Entschädigungen hinaus –, Maßnahmen zu ergreifen, um die Konventionsverletzung zu beenden und gleichartige Verletzungen künftig zu vermeiden. Das Ministerkomitee des Europarats überwacht die Urteilsumsetzung und entscheidet, ob die ergriffenen Maßnahmen als Umsetzung des Urteils ausreichen oder Nachbesserungen erforderlich sind.
Abgewendeter Herzinfarkt
Die Arbeitsbelastung des EGMR ist enorm. Auf dem Höhepunkt im Jahr 2011 waren 151.600 Beschwerden beim EGMR anhängig. Erst dank des – von der russischen Regierung lange Zeit blockierten – Protokolls Nr. 14 von 2004, das im Juni 2010 in Kraft trat und eine effizientere Abwicklung der Fälle ermöglichte, sank die Zahl der unerledigten Beschwerden und lag Ende 2020 bei 62.000. Allein 2020 wurden insgesamt 41.700 neue Beschwerden eingelegt, zugleich wurde über 39190 Beschwerden entschieden: 37.289 wurden als unzulässig abgewiesen oder aus der Liste gestrichen,
Die meisten EGMR-Urteile betrafen bislang Verletzungen des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren, gefolgt von Verletzungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die gerade in den vergangenen Jahren zugenommen haben.
Und wie steht es um Deutschland? Die 199 Urteile gegen die Bundesrepublik Deutschland, bei denen der EGMR zwischen 1959 und 2020 mindestens eine Verletzung der Konventionsrechte feststellte, betrafen mehrheitlich überlange Gerichtsverfahren sowie andere verfahrensrechtliche Garantien wie das Recht auf ein faires Verfahren und wirksame Rechtsmittel sowie das Rückwirkungsverbot (keine Strafe ohne Gesetz). Gerade erst im Oktober 2020 verurteilte der EGMR die Bundesrepublik (wie bereits 2014) wegen Verstoßes gegen das Gebot eines fairen Verfahrens aufgrund einer rechtswidrigen Tatprovokation durch V-Leute.
Kräftiger (Im)Puls?
Der EGMR hat erheblich dazu beigetragen, dass sich das Verständnis der – zumindest bürgerlichen und politischen – Menschenrechte innerhalb Europas verdichtet hat. Mithilfe der Doktrin der "margin of appreciation" hat er dabei einen Weg gefunden, die Menschenrechtsstandards zu harmonisieren und zugleich den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen.
Zugleich passte der Gerichtshof seine Auslegung der inzwischen über 70 Jahre alten EMRK an sich ändernde gesellschaftliche Bedingungen an. Dabei tariert der EGMR nicht nur die Grenzen staatlicher Eingriffe in die Menschenrechte stets aufs Neue aus. Er bestimmt auch die positiven Maßnahmen immer wieder neu, welche die Staaten zum Schutz der in der EMRK niedergelegten Rechte zu ergreifen haben. Mithilfe einer lebendigen Interpretation der Menschenrechtskonvention werden dabei auch aktuelle Probleme aufgegriffen, etwa in Bezug auf neue Informations- und Kommunikationstechnologien
Abbildung 2: Entscheidungen des EGMR 2020 nach Gegenstandsbereich (© bpb)
Abbildung 2: Entscheidungen des EGMR 2020 nach Gegenstandsbereich (© bpb)
Ferner zeigen die vielen Beschwerden, dass der EGMR gerade auch von Menschen in Anspruch genommen wird, in deren Ländern teils gravierende Menschenrechtsprobleme bestehen und in denen sie keinen angemessenen Menschenrechtsschutz erfahren. Daraus ergeben sich große Herausforderungen: Sie betreffen nicht nur die Bewältigung einer Vielzahl von Beschwerden und die Länge der Verfahrenswege bis zum und beim EGMR. Gerade in Ländern, in denen die Menschenrechte systematisch verletzt werden, kann die Menschenrechtslage nur bedingt mithilfe von Individualbeschwerden verbessert werden.
Dies gilt umso mehr, als nicht ausgemacht ist, dass die Urteile zu "leading cases" schnell und wirksam umgesetzt werden,
So ist der europäische Menschenrechtsschutz nicht nur auf den Europarat als "Hüter der Menschenrechte" angewiesen, sondern gerade auch auf die Menschenrechtspolitik und den vorgeschalteten Grundrechtsschutz seitens und innerhalb der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten. Dies gilt insbesondere für den Schutz von Geflüchteten und den Umgang mit autokratischen Praktiken in der Region.
Europas offene Wunde
Seit Jahren beschäftigt der staatliche Umgang mit Geflüchteten den EGMR. Hier gibt es einerseits etliche Urteile, die sogenannte Pushbacks, Kollektivausweisungen und Rückführungen von geflüchteten Personen in Länder, in denen ihnen Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen, als Menschenrechtsverletzungen ausweisen.
Einen hinreichenden Schutz der Geflüchteten bietet letztlich weder der EGMR noch der Europäische Gerichtshof (EuGH), der die Anwendung des EU-Rechts prüft. Dabei kommt es bei der Umsetzung der Gemeinsamen Europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik (GEAS) durch die EU-Mitgliedsstaaten teils zum offenen Bruch mit dem Völkerrecht, einschließlich der Genfer Flüchtlingskonvention, und dem EU-Recht. Menschenrechtliche Problemfelder betreffen – gedacht in konzentrischen Kreisen, der Route von Geflüchteten folgend – die Zusammenarbeit mit menschenrechtsverletzenden Regimen bei der Migrationskontrolle außerhalb Europas; die Behinderung und Außerkraftsetzung der Seenotrettung auf dem Mittelmeer; das Unterlaufen der individuellen Prüfung eines Asylverfahrens an den europäischen Grenzen sowie der (in der Qualifikationsrichtlinie, der Aufnahmerichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie) selbstgesetzten Standards bei der Aufnahme, den Verfahren und der Behandlung von Geflüchteten in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten.
Die Europäische Kommission hat zwar verschiedentlich Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, so jüngst etwa gegen Ungarn wegen der Nicht-Umsetzung des europäischen Asylrechts,
Immun gegen Autokraten?
Nicht minder aktuell ist die Frage, inwieweit sich der Europarat und die EU autokratischen Herrschaftspraktiken in Europa entgegenstellen, die mit Menschenrechtsverletzungen einhergehen. So ergingen in jüngerer Zeit etliche einstweilige Verfügungen oder Urteile des EGMR, welche die Freilassung von Oppositionellen oder Medienschaffenden etwa in Aserbaidschan, der Türkei und Russland verlangten. Im Februar 2021 forderte der EGMR erneut Russland erfolglos auf, den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Die EU wiederum bekennt sich in ihrem aktuellen Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie (2020–2024) zu einer ambitionierten Menschenrechtsaußenpolitik weltweit, sowohl gegenüber EU-Beitrittskandidaten als auch gegenüber Staaten der europäischen Nachbarschaftspolitik und Eurasiens.
Innerhalb der EU wiederum verfügt die Europäische Kommission (als "Hüterin der Verträge") über rechtliche Hebel, um auf autokratische Tendenzen reagieren zu können. Zwar setzt die Kommission vornehmlich auf den Dialog mit Regierungen, doch kann es auch zu Vertragsverletzungsverfahren und zu Klagen vor dem EuGH kommen, wie etwa gegen Polen (wo die nationalkonservative PiS-Regierung durch Justizreformen die Unabhängigkeit der Gerichte beschnitten hat) und Ungarn (wo Viktor Orbán nicht nur die politische Macht, sondern inzwischen auch die Justiz und die Medien kontrolliert und den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft einschränkt).
Appendix
Der Europarat mag der Hüter der bürgerlichen und politischen Menschenrechte in Europa sein, jener der sozialen Menschenrechte ist er indes nicht. Die EMRK enthält mit Ausnahme der Rechte auf Eigentum und auf Bildung keine wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. Für gewöhnlich können daher Verletzungen solcher Rechte nicht direkt vor den EGMR gebracht werden, sondern allenfalls mittelbar über die dort verankerten Rechte, etwa über die Rechte auf Leben, ein faires Gerichtsverfahren, auf den Schutz des Privat- und Familienlebens oder auch über das Diskriminierungsverbot.
Dem direkten, ausdrücklichen Schutz der sozialen Menschenrechte innerhalb des Europarats dient die (revidierte) Europäische Sozialcharta, die jedoch eher ein schwaches Instrument ist und überdies zu wenig in Wert gesetzt wird. Schon die Eingangsformulierung des ersten Teils der Charta ist Ausdruck des verklausulierten politischen Unwillens, den sozialen Menschenrechtsschutz stark auszugestalten: "Die Vertragsparteien sind gewillt, mit allen zweckdienlichen Mitteln staatlicher und zwischenstaatlicher Art eine Politik zu verfolgen, die darauf abzielt, geeignete Voraussetzungen zu schaffen, damit die tatsächliche Ausübung der folgenden Rechte und Grundsätze gewährleistet ist", heißt es dort.
Die Liste der Rechte ist zwar vorderhand imposant und umfasst in ausdifferenzierter Weise unter anderem die Rechte auf Arbeit, gerechte Arbeitsbedingungen, Schutz der Gesundheit, soziale Sicherheit sowie Wohnen. Aufgrund eines stark "souveränitätsschonenden Ansatzes"
Immerhin: Die Staaten müssen dem Europäischen Komitee für Soziale Rechte regelmäßig Bericht erstatten. Dieses prüft auch etwaige Kollektivbeschwerden, die es unter anderem internationalen NGOs mit beratendem Status beim Europarat erlauben, Beschwerden gegen Staaten einzulegen, wenn deren Rechtspraxis gegen (die jeweils angenommenen) Artikel der Charta verstößt.
Recht und Politik
Menschenrechte werden nicht nur auf juristischem Wege erwirkt. Bei aller Bedeutung des gerichtlichen Rechtsschutzes und einflussreicher Leiturteile: Grundlegende Reformen, die darauf abzielen, die Menschenrechte umfassender zu schützen, werden immer auch gesellschaftspolitisch erstritten. Schließlich geht es hierbei um Macht, Verteilungsfragen, gesellschaftliche Leitbilder sowie im Idealfall um politische Einsicht und Lernprozesse. Stets bedarf es des kollektiven Handelns gesellschaftlicher und politischer Akteure, damit Unrechtserfahrungen und Emanzipationsbestrebungen in menschenrechtspolitischen Forderungen ihren Ausdruck finden. Ebenso nötig sind die Begründung und Einübung menschenrechtlicher Verhaltensweisen, damit sich eine demokratische Menschenrechtskultur herausbildet. Zugleich bedarf der gesellschaftspolitische Einsatz für Menschenrechte aber auch institutioneller Rückendeckung durch kodifiziertes Recht sowie durch Institutionen und Verfahren des Menschenrechtsschutzes. Um die Menschenrechtsstandards in Europa zu wahren, auszubauen und ihre Einhaltung zu kontrollieren, sind daher sowohl zivilgesellschaftliches und politisches Engagement wichtig als auch ein wirksames institutionelles Monitoring und eine effektive, lebendige Rechtsprechung.