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Menschenrechtsschutz in Europa

Michael Krennerich

/ 15 Minuten zu lesen

Um die Menschenrechte innerhalb Europas müsste es eigentlich gut bestellt sein. Nicht nur enthalten die nationalen Verfassungen in der Region umfassende Grundrechtskataloge und sind die Europäische Union sowie ihre 27 Mitgliedsstaaten bei Anwendung des Unionsrechts an die EU-Grundrechtecharta gebunden. Die europäischen Staaten sind auch in das regionale und das globale Menschenrechtsschutzsystem fest eingebettet. Auf regionaler Ebene sind hier die Menschenrechtsabkommen des 47 Staaten umfassenden Europarates zu nennen, dem – mit Ausnahme von Belarus – alle Staaten Europas angehören, auch die Türkei und die Staaten des Kaukasus. Auf globaler Ebene haben die europäischen Staaten die meisten Kernabkommen des UN-Menschenrechtsschutzes ratifiziert. Bei näherer Betrachtung lassen sich jedoch Lücken in Recht und Praxis erkennen.

Hüter der Menschenrechte

Der Europarat beschreibt sich auf seiner Website selbst als "Europas führende Organisation für Menschenrechte". Diesem Selbstverständnis verleihen etliche völkerrechtliche Abkommen zum Schutz der Menschenrechte Ausdruck. Zuvorderst ist hier die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK von 1950, seit 1953 in Kraft) zu nennen, die bislang durch 16 Protokolle ergänzt wurde.

Dem Schutz und der Förderung der Menschenrechte verpflichtet sind aber auch: die Europäische Sozialcharta in ihrer ursprünglichen (1961/1965) und in ihrer revidierten Fassung (1996/1999), das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (1987/1989), die Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels (2005/2008), das Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (2007/2010) sowie das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (2011/2014). Letzteres ist als "Istanbul-Konvention" bekannt geworden und erlangte 2021 besondere mediale Aufmerksamkeit, als die Türkei aus der Konvention austrat. Hinzu kommen noch Abkommen zum nationalen Minderheitenschutz.

Indes können nur Verletzungen der EMRK vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gebracht werden. Alle anderen Menschenrechtsabkommen werden, obwohl sie für die Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindlich sind, von Sachverständigenausschüssen überwacht, die allenfalls Berichte und Empfehlungen abgeben können. Hinzu kommt eine Reihe politischer Institutionen des Europarates zur Förderung der Menschenrechte.

Herzstück

Die EMRK ist das Herzstück des europäischen Menschenrechtsschutzes, der EGMR das zentrale Organ zum Schutz der darin verbrieften, vornehmlich bürgerlichen und politischen Rechte. Die EMRK verankert das Recht auf Leben, die Verbote von Folter sowie von Sklaverei und Zwangsarbeit; sie verbietet willkürlichen Freiheitsentzug, garantiert das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, schützt die Privatsphäre, das Familienleben und die Eheschließung ebenso wie die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Weiterhin enthält sie die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie ein Diskriminierungsverbot in Bezug auf die in der EMRK verankerten Rechte.

Durch Zusatzprotokolle wurden weitere Rechte nachträglich hinzugefügt. Dazu gehören die Rechte auf Eigentum, Bildung und freie Wahlen (Protokoll von 1952), das Recht auf Freizügigkeit sowie die Verbote der Schuldhaft, der Ausweisung eigener Staatsangehöriger und der Kollektivausweisung ausländischer Personen (Protokoll Nr. 4 von 1963), einige Verfahrens- und Justizgarantien (Nr. 7 von 1984), ein allgemeines Diskriminierungsverbot (Nr. 12 von 2000) sowie die Abschaffung der Todesstrafe (Nr. 6 von 1983 und Nr. 13 von 2002). Im Unterschied zur EMRK wurden die Zusatzprotokolle jedoch nicht von allen 47 Staaten gleichermaßen ratifiziert. So steht beispielsweise die Ratifikation des Protokolls 12 (Diskriminierungsverbot) durch Deutschland bis heute aus.

Vertragsstaaten können sich in Form von Staatenbeschwerden wegen jeder behaupteten Verletzung der EMRK an den Gerichtshof wenden, was allerdings selten geschieht. Weit bedeutsamer ist der gerichtliche Individualrechtsschutz: Jede Person, die der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates unterliegt und von einer Verletzung der in der EMRK verankerten Rechte betroffen ist, kann, wenn der nationale Rechtsweg erschöpft (oder verschlossen) ist, beim EGMR eine Beschwerde gegen den betreffenden Staat einreichen. Der EGMR prüft, ob das Verhalten des beklagten Staates mit der EMRK vereinbar war, stellt gegebenenfalls eine Verletzung der dort garantierten Rechte fest und kann dem Beschwerdeführer oder der Beschwerdeführerin Schadensersatz zusprechen.

Die Urteile des EGMR sind verbindlich und müssen von den betreffenden Staaten umgesetzt werden. Allerdings kann der EGMR keine in den Mitgliedsstaaten ergangenen Urteile aufheben oder abändern. Es obliegt dem jeweiligen Staat – über die Zahlung etwaiger festgelegter Entschädigungen hinaus –, Maßnahmen zu ergreifen, um die Konventionsverletzung zu beenden und gleichartige Verletzungen künftig zu vermeiden. Das Ministerkomitee des Europarats überwacht die Urteilsumsetzung und entscheidet, ob die ergriffenen Maßnahmen als Umsetzung des Urteils ausreichen oder Nachbesserungen erforderlich sind.

Abgewendeter Herzinfarkt

Die Arbeitsbelastung des EGMR ist enorm. Auf dem Höhepunkt im Jahr 2011 waren 151.600 Beschwerden beim EGMR anhängig. Erst dank des – von der russischen Regierung lange Zeit blockierten – Protokolls Nr. 14 von 2004, das im Juni 2010 in Kraft trat und eine effizientere Abwicklung der Fälle ermöglichte, sank die Zahl der unerledigten Beschwerden und lag Ende 2020 bei 62.000. Allein 2020 wurden insgesamt 41.700 neue Beschwerden eingelegt, zugleich wurde über 39190 Beschwerden entschieden: 37.289 wurden als unzulässig abgewiesen oder aus der Liste gestrichen, 1.901 Beschwerden wurden durch 871 Urteile des Gerichtshofs beendet. Dabei profitierte der EGMR davon, dass er inzwischen ähnlich gelagerte Fälle zusammenlegen und "Pilotverfahren" durchführen kann.

Abbildung 1: Entscheidungen des EGMR 2020 nach Ländern, Anteil in Prozent (© bpb)

Die meisten EGMR-Urteile betrafen bislang Verletzungen des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren, gefolgt von Verletzungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die gerade in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Nimmt man noch die Verletzungen des Rechts auf Leben dazu, zeigen die Urteile, dass auch in den Mitgliedsstaaten des Europarats selbst schwere Menschenrechtsverletzungen noch lange nicht gebannt sind. Allerdings stellt sich die Menschenrechtslage in den Ländern sehr unterschiedlich dar. Die allermeisten anhängigen Verfahren betreffen Russland, die Türkei und die Ukraine. Zu diesen Ländern wurden 2020 auch die meisten Urteile gesprochen und die meisten Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Dieses Gesamtbild prägte bislang auch das Jahr 2021.

Und wie steht es um Deutschland? Die 199 Urteile gegen die Bundesrepublik Deutschland, bei denen der EGMR zwischen 1959 und 2020 mindestens eine Verletzung der Konventionsrechte feststellte, betrafen mehrheitlich überlange Gerichtsverfahren sowie andere verfahrensrechtliche Garantien wie das Recht auf ein faires Verfahren und wirksame Rechtsmittel sowie das Rückwirkungsverbot (keine Strafe ohne Gesetz). Gerade erst im Oktober 2020 verurteilte der EGMR die Bundesrepublik (wie bereits 2014) wegen Verstoßes gegen das Gebot eines fairen Verfahrens aufgrund einer rechtswidrigen Tatprovokation durch V-Leute. Darüber hinaus wurden in der Vergangenheit auch andere Verletzungen wie etwa der Rechte auf Freiheit und Sicherheit oder auf Schutz des Privatlebens und der Familie festgestellt.

Kräftiger (Im)Puls?

Der EGMR hat erheblich dazu beigetragen, dass sich das Verständnis der – zumindest bürgerlichen und politischen – Menschenrechte innerhalb Europas verdichtet hat. Mithilfe der Doktrin der "margin of appreciation" hat er dabei einen Weg gefunden, die Menschenrechtsstandards zu harmonisieren und zugleich den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen. Den Staaten wird dabei ein gewisser, aber auch nicht unbegrenzter Ermessensspielraum bei der Rechtsauslegung zugestanden. Auch haben die EGMR-Urteile – über die behandelten Einzelfälle hinaus – teils zu weitreichenden Änderungen von Gesetzen, Vorschriften und Verfahren in den Mitgliedsstaaten geführt. Ein Beispiel unter vielen ist die Reform der nachträglichen Sicherungsverwahrung in Deutschland infolge einer Grundsatzentscheidung des EGMR von 2009.

Zugleich passte der Gerichtshof seine Auslegung der inzwischen über 70 Jahre alten EMRK an sich ändernde gesellschaftliche Bedingungen an. Dabei tariert der EGMR nicht nur die Grenzen staatlicher Eingriffe in die Menschenrechte stets aufs Neue aus. Er bestimmt auch die positiven Maßnahmen immer wieder neu, welche die Staaten zum Schutz der in der EMRK niedergelegten Rechte zu ergreifen haben. Mithilfe einer lebendigen Interpretation der Menschenrechtskonvention werden dabei auch aktuelle Probleme aufgegriffen, etwa in Bezug auf neue Informations- und Kommunikationstechnologien oder Umweltfragen. Deutlich wurde dies erst jüngst, als der Gerichtshof eine Klimaklage portugiesischer Kinder und Jugendlicher gegen 33 Länder, darunter auch Deutschland, zuließ und ihr sogar höchste Priorität einräumte. Auch die Covid-19-Pandemie beschäftigte bereits den EGMR. Im Fokus standen dabei der unzureichende Schutz des Lebens, unmenschliche beziehungsweise erniedrigende Behandlungen in Haft- und Aufnahmeeinrichtungen sowie freiheitseinschränkende Maßnahmen der Pandemiebekämpfung.

Abbildung 2: Entscheidungen des EGMR 2020 nach Gegenstandsbereich (© bpb)

Ferner zeigen die vielen Beschwerden, dass der EGMR gerade auch von Menschen in Anspruch genommen wird, in deren Ländern teils gravierende Menschenrechtsprobleme bestehen und in denen sie keinen angemessenen Menschenrechtsschutz erfahren. Daraus ergeben sich große Herausforderungen: Sie betreffen nicht nur die Bewältigung einer Vielzahl von Beschwerden und die Länge der Verfahrenswege bis zum und beim EGMR. Gerade in Ländern, in denen die Menschenrechte systematisch verletzt werden, kann die Menschenrechtslage nur bedingt mithilfe von Individualbeschwerden verbessert werden.

Dies gilt umso mehr, als nicht ausgemacht ist, dass die Urteile zu "leading cases" schnell und wirksam umgesetzt werden, obwohl diese einer verstärkten Überwachung unterliegen. Entsprechende Probleme betreffen etwa unzureichende Untersuchungen von Misshandlungen oder Tötungen durch Sicherheitskräfte, prekäre Haftbedingungen, unzulässige Eingriffe in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die fehlende Unabhängigkeit der Justiz in einigen Mitgliedsstaaten des Europarats. Der politische Dialog und der Druck seitens des Ministerkomitees reichen selbst in etablierten Demokratien nicht immer aus, um eine angemessene Umsetzung der EGMR-Urteile zu gewährleisten.

So ist der europäische Menschenrechtsschutz nicht nur auf den Europarat als "Hüter der Menschenrechte" angewiesen, sondern gerade auch auf die Menschenrechtspolitik und den vorgeschalteten Grundrechtsschutz seitens und innerhalb der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten. Dies gilt insbesondere für den Schutz von Geflüchteten und den Umgang mit autokratischen Praktiken in der Region.

Europas offene Wunde

Seit Jahren beschäftigt der staatliche Umgang mit Geflüchteten den EGMR. Hier gibt es einerseits etliche Urteile, die sogenannte Pushbacks, Kollektivausweisungen und Rückführungen von geflüchteten Personen in Länder, in denen ihnen Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen, als Menschenrechtsverletzungen ausweisen. Auch hat der EGMR einzelne Staaten wegen der erniedrigenden Behandlung und/oder der willkürlichen Inhaftierung von (gerade auch minderjährigen) Geflüchteten verurteilt, allen voran Griechenland, aber etwa auch Belgien, Frankreich, Italien, Malta sowie Russland, die Türkei und Ungarn. Im Juli 2020 verurteilte der EGMR beispielsweise Frankreich wegen der erniedrigenden Behandlung von Asylsuchenden, die teils auf der Straße leben mussten. Andererseits sah der EGMR in einigen Rückführungen im Rahmen der sogenannten Dublin-Verordnung, etwa nach Ungarn oder Italien (hier im Unterschied zum Tarakhel-Urteil), keine Konventionsverletzung. Auch erachtete die Große Kammer des EGMR im Februar 2020 Rückführungen an der Grenze der spanischen Exklave Melilla (Marokko) als rechtmäßig, verbunden mit dem Hinweis auf angebliche legale Einreisemöglichkeiten.

Einen hinreichenden Schutz der Geflüchteten bietet letztlich weder der EGMR noch der Europäische Gerichtshof (EuGH), der die Anwendung des EU-Rechts prüft. Dabei kommt es bei der Umsetzung der Gemeinsamen Europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik (GEAS) durch die EU-Mitgliedsstaaten teils zum offenen Bruch mit dem Völkerrecht, einschließlich der Genfer Flüchtlingskonvention, und dem EU-Recht. Menschenrechtliche Problemfelder betreffen – gedacht in konzentrischen Kreisen, der Route von Geflüchteten folgend – die Zusammenarbeit mit menschenrechtsverletzenden Regimen bei der Migrationskontrolle außerhalb Europas; die Behinderung und Außerkraftsetzung der Seenotrettung auf dem Mittelmeer; das Unterlaufen der individuellen Prüfung eines Asylverfahrens an den europäischen Grenzen sowie der (in der Qualifikationsrichtlinie, der Aufnahmerichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie) selbstgesetzten Standards bei der Aufnahme, den Verfahren und der Behandlung von Geflüchteten in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten.

Die Europäische Kommission hat zwar verschiedentlich Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, so jüngst etwa gegen Ungarn wegen der Nicht-Umsetzung des europäischen Asylrechts, doch steht die Kommission vor dem Dilemma, einerseits EU-Recht schützen und anderseits den Ausgleich selbst mit solchen Mitgliedsstaaten suchen zu müssen, die sich der Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten verweigern und das Problem in das außereuropäische Ausland verlagern möchten. Die aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen "unverhohlene Aufweichung oder Umgehung internationalen Rechts in der Asyl-und Flüchtlingspolitik" hat die Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten als menschenrechtspolitische Akteure stark beschädigt.

Immun gegen Autokraten?

Nicht minder aktuell ist die Frage, inwieweit sich der Europarat und die EU autokratischen Herrschaftspraktiken in Europa entgegenstellen, die mit Menschenrechtsverletzungen einhergehen. So ergingen in jüngerer Zeit etliche einstweilige Verfügungen oder Urteile des EGMR, welche die Freilassung von Oppositionellen oder Medienschaffenden etwa in Aserbaidschan, der Türkei und Russland verlangten. Im Februar 2021 forderte der EGMR erneut Russland erfolglos auf, den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Ebenso werden immer wieder Entschädigungszahlungen an unrechtmäßig inhaftierte Politiker*innen, Journalist*innen oder Richter*innen verhängt. Auch einzelne Beschwerden, die mit demokratischen Rückschritten in EU-Mitgliedsstaaten wie Ungarn und Polen zusammenhängen und die Unabhängigkeit der Justiz betreffen, fanden Zugang zum EGMR. Doch letztlich kann der Europarat etwaigen autoritären Herrschaftspraktiken seiner Mitgliedsstaaten nur bedingt etwas entgegensetzen. Das gilt umso mehr, als auch auf politischer Ebene menschenrechtliche Kritik teilweise unterlaufen wird, wie dies etwa im Falle Aserbaidschans in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats geschah. Die "Kaviar-Diplomatie" des Autokraten Ilham Alijew verfing auch bei einigen deutschen Bundestagsabgeordneten.

Die EU wiederum bekennt sich in ihrem aktuellen Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie (2020–2024) zu einer ambitionierten Menschenrechtsaußenpolitik weltweit, sowohl gegenüber EU-Beitrittskandidaten als auch gegenüber Staaten der europäischen Nachbarschaftspolitik und Eurasiens. Zum Werkzeugkasten der Menschenrechtsaußenpolitik gehören – neben etwa Menschenrechtsdialogen und -förderungen – auch Sanktionen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, wie sie beispielsweise gegen Belarus verhängt wurden. Auf die dortigen Protestdemonstrationen des Jahres 2020 reagierte der Diktator Alexander Lukaschenko mit Massenverhaftungen, Folter und Misshandlungen. Seit Dezember 2020 verfügt die EU sogar über einen "globalen Menschenrechtssanktionsmechanismus", mit dem schwere Menschenrechtsverletzungen weltweit sanktioniert werden können. Gleichwohl bleibt es schwierig, von außen die Menschenrechtslage in Ländern wie Belarus, der Türkei oder Russland zu beeinflussen und eine angemessene Antwort auf das selbstbewusste Auftreten mächtiger, renitenter Autokraten zu finden.

Innerhalb der EU wiederum verfügt die Europäische Kommission (als "Hüterin der Verträge") über rechtliche Hebel, um auf autokratische Tendenzen reagieren zu können. Zwar setzt die Kommission vornehmlich auf den Dialog mit Regierungen, doch kann es auch zu Vertragsverletzungsverfahren und zu Klagen vor dem EuGH kommen, wie etwa gegen Polen (wo die nationalkonservative PiS-Regierung durch Justizreformen die Unabhängigkeit der Gerichte beschnitten hat) und Ungarn (wo Viktor Orbán nicht nur die politische Macht, sondern inzwischen auch die Justiz und die Medien kontrolliert und den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft einschränkt). Gegen beide Staaten wurde auch das symbolträchtige, aber nur in Ausnahmefällen vorgesehene Verfahren nach Art. 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zum Schutz der Werte der EU (erfolglos) ausgelöst. Mit dem neuen, seit Januar 2021 geltenden "Rechtsstaatsmechanismus" der EU können zudem Mitgliedsstaaten sanktioniert werden, wenn sie von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit abweichen. Jedoch wurde das Instrument in zähen Verhandlungen auf Verstöße eingegrenzt, die EU-Gelder betreffen. Und ohnehin wird der Mechanismus erst noch vom EuGH auf seine Vereinbarkeit mit den Verträgen geprüft.

Appendix

Der Europarat mag der Hüter der bürgerlichen und politischen Menschenrechte in Europa sein, jener der sozialen Menschenrechte ist er indes nicht. Die EMRK enthält mit Ausnahme der Rechte auf Eigentum und auf Bildung keine wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. Für gewöhnlich können daher Verletzungen solcher Rechte nicht direkt vor den EGMR gebracht werden, sondern allenfalls mittelbar über die dort verankerten Rechte, etwa über die Rechte auf Leben, ein faires Gerichtsverfahren, auf den Schutz des Privat- und Familienlebens oder auch über das Diskriminierungsverbot.

Dem direkten, ausdrücklichen Schutz der sozialen Menschenrechte innerhalb des Europarats dient die (revidierte) Europäische Sozialcharta, die jedoch eher ein schwaches Instrument ist und überdies zu wenig in Wert gesetzt wird. Schon die Eingangsformulierung des ersten Teils der Charta ist Ausdruck des verklausulierten politischen Unwillens, den sozialen Menschenrechtsschutz stark auszugestalten: "Die Vertragsparteien sind gewillt, mit allen zweckdienlichen Mitteln staatlicher und zwischenstaatlicher Art eine Politik zu verfolgen, die darauf abzielt, geeignete Voraussetzungen zu schaffen, damit die tatsächliche Ausübung der folgenden Rechte und Grundsätze gewährleistet ist", heißt es dort.

Die Liste der Rechte ist zwar vorderhand imposant und umfasst in ausdifferenzierter Weise unter anderem die Rechte auf Arbeit, gerechte Arbeitsbedingungen, Schutz der Gesundheit, soziale Sicherheit sowie Wohnen. Aufgrund eines stark "souveränitätsschonenden Ansatzes" sind die Vertragsstaaten jedoch nicht verpflichtet, alle Bestimmungen der Charta anzunehmen. Nötig ist nur die Annahme einer Mindestanzahl von Kernbestimmungen, weitere Artikel kann jeder Staat selbst auswählen.

Immerhin: Die Staaten müssen dem Europäischen Komitee für Soziale Rechte regelmäßig Bericht erstatten. Dieses prüft auch etwaige Kollektivbeschwerden, die es unter anderem internationalen NGOs mit beratendem Status beim Europarat erlauben, Beschwerden gegen Staaten einzulegen, wenn deren Rechtspraxis gegen (die jeweils angenommenen) Artikel der Charta verstößt. Indes haben sich nur 15 Staaten dem Kollektivbeschwerdeverfahren unterworfen; Deutschland gehört nicht dazu. So ist der regionale Schutz der sozialen Menschenrechte in Europa auf den politischen Willen der Mitgliedsstaaten angewiesen, in einen konstruktiven Dialog mit dem Komitee zu treten – und ihre Rechtsordnungen menschenrechtskonform auszugestalten. Ergänzend können UN-Menschenrechtsabkommen zum Tragen kommen, die soziale Menschenrechte beinhalten. Im Ergebnis verfügt Europa zwar wie keine andere Weltregion über ausgebaute Sozialstaaten, doch völkerrechtlich verankerte soziale Menschenrechte spielen in Politik und Rechtsprechung nur eine untergeordnete Rolle.

Recht und Politik

Menschenrechte werden nicht nur auf juristischem Wege erwirkt. Bei aller Bedeutung des gerichtlichen Rechtsschutzes und einflussreicher Leiturteile: Grundlegende Reformen, die darauf abzielen, die Menschenrechte umfassender zu schützen, werden immer auch gesellschaftspolitisch erstritten. Schließlich geht es hierbei um Macht, Verteilungsfragen, gesellschaftliche Leitbilder sowie im Idealfall um politische Einsicht und Lernprozesse. Stets bedarf es des kollektiven Handelns gesellschaftlicher und politischer Akteure, damit Unrechtserfahrungen und Emanzipationsbestrebungen in menschenrechtspolitischen Forderungen ihren Ausdruck finden. Ebenso nötig sind die Begründung und Einübung menschenrechtlicher Verhaltensweisen, damit sich eine demokratische Menschenrechtskultur herausbildet. Zugleich bedarf der gesellschaftspolitische Einsatz für Menschenrechte aber auch institutioneller Rückendeckung durch kodifiziertes Recht sowie durch Institutionen und Verfahren des Menschenrechtsschutzes. Um die Menschenrechtsstandards in Europa zu wahren, auszubauen und ihre Einhaltung zu kontrollieren, sind daher sowohl zivilgesellschaftliches und politisches Engagement wichtig als auch ein wirksames institutionelles Monitoring und eine effektive, lebendige Rechtsprechung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Ratifikationsstand der UN-Kernabkommen und ihrer Zusatzprotokolle siehe Externer Link: https://indicators.ohchr.org. Deutschland hat noch immer nicht das Zusatzprotokoll (und damit ein Beschwerdeverfahren) zum UN-Sozialpakt ratifiziert und, wie alle anderen EU-Staaten, ebenfalls nicht die UN-Wanderarbeiterkonvention. Außerdem akzeptiert die Bundesrepublik das Beschwerdeverfahren des UN-Zivilpakts nicht in Bezug auf das dort verankerte allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 26 des Zivilpakts).

  2. Vgl. Externer Link: http://www.coe.int/de/web/portal/home.

  3. Vgl. einführend Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München–Basel–Wien 20217.

  4. Entsprechende Staatenbeschwerden reichten etwa Zypern gegen die Türkei sowie Georgien und die Ukraine gegen Russland ein.

  5. Vgl. Holger Hembach, Die Beschwerde beim EGMR. Zulässigkeit und Verfahren, Wien 2020.

  6. Die Überwachung erfolgt auf Vertreterebene bei regelmäßigen "Human Rights Meetings".

  7. Verfahren können auch durch einseitige Erklärungen oder gütliche Einigungen beendet werden.

  8. Siehe Externer Link: http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2020_ENG.pdf.

  9. Vgl. European Court of Human Rights (ECHR), Overview 1959–2020, Straßburg 2021; ECHR, The EHCR in facts & figures 2020, Straßburg 2021.

  10. Vgl. Externer Link: http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2020_ENG.pdf.

  11. Vgl. Externer Link: http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2021_BIL.PDF.

  12. EGMR, Akbay and Others v. Germany, Urteil vom 15.10.2020, Nr. 40495/15, 40913/15 und 37273/15.

  13. Vgl. auch Linos-Alexander Sicilianos, The European Yearbook on Human Rights at 70. The Dynamic of a Unique International Instrument, in: Philip Czech et al. (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights 2020, Cambridge 2021, S. 3–16.

  14. EGMR, M.v. Germany, Urteil vom 17.12.2009, Nr. 19359/04.

  15. Meist bezogen sich die Urteile auf den Schutz des Privatlebens und der Meinungsäußerungsfreiheit.

  16. Besonders interessant sind hier – in Ermangelung eines Rechts auf Gesundheit in der EMRK – die positiven Maßnahmen zum Schutz des Rechts auf Leben, etwa bei gefährlichen Industrieaktivitäten, Giftmüllentsorgungen, Schadstoffemissionen oder Naturkatastrophen; siehe ECHR Press Unit, Factsheet – Environment and the ECHR, Straßburg 2021.

  17. EGMR, Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Other States, Nr. 39371/20. Anhängig ist auch die Beschwerde KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland, Nr. 53600/20.

  18. Vgl. ECHR Press Unit, Factsheet – COVID-19 health crisis, Straßburg 2021.

  19. Als "leading cases" stuft das Ministerkomitee jene Fälle gegenüber einem Staat ein, die systematische Probleme betreffen und ähnliche Umsetzungsmaßnahmen erfordern.

  20. Vgl. Council of Europe (CoE), Committee of Ministers, Supervision of the Execution of Judgements and Decisions of the European Court of Human Rights 2020, Straßburg 2021.

  21. Lange Zeit war etwa Großbritannien nicht bereit, EGMR-Urteile umzusetzen, die den pauschalen Wahlrechtsausschluss von Strafgefangenen als Verstoß gegen Art. 3 des Protokolls Nr. 1 der EMRK auswiesen; vgl. Michael Krennerich, Freie und faire Wahlen?, Frankfurt/M. 2021, S. 67f.

  22. Wichtig sind hier z.B.: EGMR, Hirsi Jamaa and Others v. Italy, Urteil vom 23.2.2012, Nr. 27765/09; M.S.S.v. Belgium and Greece, Urteil vom 21.1.2011, Nr. 30696/09. Vgl. auch jüngere Entscheidungen wie Moustahi v. France, Urteil vom 25.6.2020, Nr. 9347/14 oder M.K. and Others v. Poland, Urteil vom 23.7.2020, Nr. 40503/17, 42902/17, 43643/17.

  23. Vgl. ECHR Press Unit, Factsheet – Accompanied migrant minors in detention (2021), Factsheet – Unaccompanied migrant minors in detention (2020), Factsheet – Migrants in detention (2020), Factsheet – "Dublin" cases (2016), Straßburg.

  24. EGMR, N.H. and Others v. France, Urteil vom 3.7.2020, Nr. 28820/13, 75547/13, 13114/15.

  25. EGMR, Tarakhel v. Switzerland, Urteil vom 4.11.2014, Nr. 29217/12.

  26. EGMR, N.D and N.T v. Spain, Urteil vom 13.2.2020, Nr. 8675/15, 8679/15.

  27. EuGH, C-808/18, Commission v. Hungary.

  28. Vgl. Petra Bendel, EU-Flüchtlingspolitik in der Krise, Bonn 2017.

  29. Forum Menschenrechte, 11.6.2021, Externer Link: http://www.forum-menschenrechte.de/wp-content/uploads/2021/06/PM-Menschenrechte-waehlen.pdf.

  30. Vgl. z.B. Legal Tribune Online, 18.2.2021, Externer Link: http://www.lto.de/recht/presseschau/p/presseschau-2021-02-18-egmr-nawlany-haftentlassung-grosseanfrage-sanktionierung-sozialleistung-nsu-prozess-hrspiel.

  31. Vgl. etwa EGMR, Baka v. Hungary, Urteil vom 23.6.2016, Nr. 20261/12.

  32. Vgl. CoE, Report of the Independent Investigation Body on the Allegations of Corruption Within the Parliamentary Assembly, Straßburg, 15.4.2018. Siehe auch Friedel Taube, Wie funktioniert das "System Aserbaidschan", 12.3.2021, Externer Link: http://www.dw.com/de/a-56854642; Silvia Stöber/Andrea Becker, Kuscheln mit Diktatoren, 13.3.2021, Externer Link: http://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/union-politiker-aserbaidschan-kasachstan-101.html.

  33. Vgl. European Union External Action Service (EEAS), EU Annual Report on Human Rights and Democracy in the World 2020, Brüssel 2021.

  34. Dazu gehören auch Einreiseverbote sowie das Einfrieren von Vermögenswerten gelisteter Personen beziehungsweise Organisationen sowie Wirtschaftssanktionen für bestimmte Wirtschaftsbereiche.

  35. Siehe den Beitrag von Kriszta Kovács und Kim Lane Scheppele in diesem Heft.

  36. Siehe aber auch Ingrid Leijten, Core Socio-Economic Rights and the European Court of Human Rights, Cambridge 2018.

  37. Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 19 vom 24.11.2020, S. 902.

  38. Norman Weiß, Regionalisierung des Menschenrechtsschutzes – Funktionen, Strukturen und Herausforderungen, in: MenschenRechtsMagazin 1–2/2019, S. 38–52, hier S. 42.

  39. Zur Rechtsauslegung des Komitees siehe Karin Lukas, The Revised European Social Charter, Cheltenham 2021.

  40. Vgl. Michael Krennerich, Soziale Menschenrechte, Frankfurt/M. 2013; Eberhard Eichenhofer, Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, Frankfurt/M. 2021.

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ist Professor am Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Vorsitzender des Nürnberger Menschenrechtszentrums sowie leitender Herausgeber der "Zeitschrift für Menschenrechte".
E-Mail Link: michael.krennerich@fau.de