Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist Gericht und Verfassungsorgan zugleich. Diese Doppelstruktur ist seit Anbeginn die Ursache für Interpretationsprobleme und Kompetenzkonflikte. Auf der einen Seite ist das höchste deutsche Gericht als Verfassungsorgan in die Sphäre der politischen Institutionen einbezogen, auf der anderen Seite bleibt Karlsruhe ein nur dem Verfassungsrecht unterworfenes Gericht. Auf der Bühne der Politik spricht es die Sprache der Justiz und auf der Bühne der Justiz auch die Sprache der Politik.
Als rechtsprechendes Verfassungsorgan operiert das BVerfG unter den Funktionslogiken eines Gerichts. Das begrenzt seine Entscheidungstätigkeit auf Streitigkeiten, die am Maßstab des Verfassungsrechts ergehen und vor der Verfassung (nicht, wie politische Entscheidungen, vor dem Wähler) gerechtfertigt werden müssen. Daraus könnte man nun ableiten, dass das Bundesverfassungsgericht, weil es weder demokratischen Anforderungen (Mehrheit, Wahl) zu entsprechen noch politische Maßstäbe anzulegen habe, notgedrungen rein juristisch entscheide: am Maßstab der Verfassung und in den Formen eines besonderen Verfahrens, das gesetzlich normiert ist.
Das BVerfG entscheidet aber freilich nicht nur als Gericht, sondern auch als Verfassungsorgan. Seine Entscheidungen betreffen immer auch das Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen.
Das BVerfG hat auf die Demokratie- und Politikabhängigkeit der Kompetenzordnung immer reagiert. So hat es etwa 1983 und 2005 die fingierten Vertrauensfragen zur Auflösung des Bundestages mit dem Argument akzeptiert, dass die beteiligten Verfassungsorgane (der Bundeskanzler, der Bundestag, der Bundespräsident) parteiübergreifend und gemeinsam die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen wünschten, auch wenn der Verfassungstext (Art. 68 GG) die Parlamentsauflösung gerade nicht der politischen Zweckmäßigkeit öffnet.
Gibt es umgekehrt Anzeichen dafür, dass Organe versuchen, ihre Interessen gegen andere Organe grundsätzlich durchzusetzen, erhöht das BVerfG seine Kontrolldichte und wirkt auf den politischen Prozess mit einer strengeren Auslegung der Verfassung ein. Man denke etwa an die immer pingeligere Kontrolle des Bundeswahlrechts, weil dessen Reformversuche nicht als interfraktionelle Entwürfe ausgestaltet waren und insofern auch nicht das Gütesiegel der paktierten Vernunft trugen.
Die Auslegung der Verfassung im Lichte der Demokratiefunktionalität und Kontextabhängigkeit betrifft die Regeln für alle Verfassungsorgane, also auch die Kompetenzregeln des BVerfG selbst. Weil das Gericht Verfassungsorgan ist, kann es sich selbst nicht von einer Regelbetrachtung ausnehmen, die politische Zusammenhänge berücksichtigt. Wenn das Grundgesetz die abstrakte Normenkontrolle vorsieht, dann erlaubt es die Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit den Mitteln des Verfassungsprozessrechts. Wenn die Verfassung eine Verfassungsbeschwerde einführt, dann ermöglicht sie dem Bürger, über die Wahrung seiner subjektiven Rechte hinaus zum Prozessstandschafter der Verfassung zu werden. Die Verfassung erlaubt, dass der Karlsruher Gerichtssaal zu einer Arena wird, in der politisch entschiedene Sachverhalte unter anderen Rechtfertigungshürden neu verhandelt werden – sei es auf Antrag der Opposition (in Gestalt von abstrakten Normenkontrollen, Organstreiten oder Bund-Länder-Streiten), sei es auf Antrag von Minderheiten (Verfassungsbeschwerde), sei es auf Antrag der Fachgerichtsbarkeit (konkrete Normenkontrolle).
Entscheidungen mit politischen Auswirkungen
Ein paar Beispiele: 1969 zwang das BVerfG den Deutschen Bundestag, ein Gesetz zur Gleichstellung nichtehelich Geborener zu verabschieden. Das Grundgesetz enthält einen entsprechenden Verfassungsauftrag, den der Bundestag jedoch 20 Jahre lang nicht umsetzte (was wiederum an den politischen Mehrheiten lag). Nun drohte das BVerfG, wenn das Gesetz nicht innerhalb eines halben Jahres erginge, gelte die Verfassungsnorm unmittelbar wie einfaches Gesetzesrecht (und würde die entsprechenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verdrängen).
All diese Entscheidungen sind hochgradig politisch: Sie greifen in Mehrheiten ein, sie verändern die politische Verantwortungsteilung zwischen den Gewalten, sie erschweren oder erleichtern den Einfluss des Wählers und des Bürgers. Um noch zwei Entscheidungen aus diesem Jahr anzufügen: Der Klimaschutzbeschluss vom 24. März 2021,
Solche Entscheidungen dürfen nicht nur deshalb politisch genannt werden, weil sie Fragen der Tagespolitik betreffen. Sie sind auch im Rahmen der juristischen Begründung der Entscheidung in einem nicht parteipolitischen Sinne politisch, weil sie nicht ohne Berücksichtigung der Demokratiefunktionalität getroffen werden. 1969 hätte das BVerfG den Gesetzgeber nicht zwingen müssen – es hatte dies ja 20 Jahre lang nicht getan. 1975 hätte das BVerfG nicht das strenge Schutzniveau bei Schwangerschaftsabbrüchen verlangen müssen. Im zweiten Abtreibungsurteil (1993) gibt das BVerfG diese Position bekanntlich auf.
Der verfassungsrechtliche Maßstab, der den Entscheidungen zugrunde liegt, ist also nicht so starr und unabänderlich, dass er keine anderen Entscheidungen zuließe. Solche Beispiele zeigen, dass nicht nur die Gegenstände, die vom BVerfG entschieden werden, im politischen System wurzeln und schon deswegen politisch sind, sondern dass auch die gerichtlichen Maßstäbe von den Umständen abhängen und sich mit der Zeit, mit neuen Mehrheiten, mit dem, was man politisch-gesellschaftlichen Wandel nennt, ändern. Verfassungsauslegung ist gerade kein autonom juristischer Prozess, sondern immer eine Konkretisierung eines Textes unter den sich wandelnden Bedingungen der Zeit.
Besonderheiten der Verfassungsauslegung
Verfassungsauslegung ist auch deshalb eine besondere Form der Normerkenntnis, weil ihr Gelingen das Zusammenwirken Vieler voraussetzt. Sie ist kein Vorrecht des BVerfG. Die anderen Verfassungsorgane legen das Grundgesetz aus, indem sie auf seiner Grundlage handeln, die Bürger, indem sie ihre Freiheitsrechte ausleben und notfalls einklagen. Die Verfassung wirkt als allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Wertekonsens ganz unabhängig von Verfahren vor dem BVerfG. Die Grundrechte und der Menschenwürdesatz aus Artikel 1 GG sind im zivilgesellschaftlichen Diskurs omnipräsent. In diesem Sinne sind wir alle Verfassungsinterpreten,
Eine breite Verfassungsinterpretation in republikanischer Verantwortung der Bürger ist im Übrigen auch eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Verfassung ihren Geltungsanspruch aufrechterhalten kann. Warum sollten wir uns an einen Text gebunden fühlen, der 1949 entstand und dem notgedrungen andere sozialmoralische Vorstellungen zugrunde lagen? Gewiss, man könnte die Verfassung ändern. Das setzte aber erhebliche Mehrheiten voraus und wäre gerade im Grundrechtsteil heikel. Interpretation ist folglich die Alternative, mit der die Legitimität der Verfassung bewahrt und ihre Politisierung durch Verfahren der Verfassungsänderung vermieden werden kann.
Das Bundesverfassungsgericht hat folglich eine anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen. Es regelt das Verhältnis von Recht und Politik. Wann darf eine Mehrheitsentscheidung vorangehen und Recht prägen? Wann darf sie das nicht, weil sie das Recht verletzt? Wann begrenzt Recht Mehrheiten, wann ermächtigt es sie? Das BVerfG wird so zum Hüter des politischen Prozesses. Es ist zur strukturell übergreifenden verfassungsrechtlichen Beurteilung des politischen Systems im Ganzen aufgerufen.
Interpretationswandel ist freilich eine Herausforderung für ein Gericht, weil er die Frage aufwirft, ob das Gericht zuvor falsch entschieden hat, was wiederum seinen Nimbus erschüttern würde. Auch hier ist die Aufgabe anspruchsvoll: Die Rechtssicherheit darf durch zu viel Interpretationswandel nicht leiden. Findet aber keine Neuinterpretation der Verfassung statt, leidet irgendwann die Legitimität der Verfassung (abgesehen davon, dass das politische Leben stranguliert würde).
Dass das BVerfG unter der Bevölkerung wie im Ausland seit Jahrzehnten hohes Ansehen genießt, zeigt, wie gut es Karlsruhe in den letzten 70 Jahren gelungen ist, diese anspruchsvolle Rolle auszufüllen. Man kann den Beitrag des BVerfG, die Deutschen zu Demokraten zu erziehen, der Gesellschaft der 50er Jahre den NS-Geist auszutreiben, neue soziale Bewegungen zu respektieren, Minderheiten in das politische Leben zu integrieren und ganz allgemein eine verfassungsrechtliche Werteordnung als Grundkonsens zu etablieren und dadurch die Sozialmoral, das Sittengesetz oder das Naturrecht in der Funktion als gesellschaftlichen Grundkonsens zu ersetzen, nicht hoch genug schätzen.
Richterlicher Aktivismus: Wann, wie, wofür?
Was aber folgt nun daraus, dass dem BVerfG von der Verfassung eine politische Funktion zugewiesen wird? Wann darf, wann sollte sich das BVerfG aktivistisch verhalten, wann hingegen sollte es besser richterliche Zurückhaltung, den judicial self-restraint, üben? Hier lassen sich keine eindeutigen Grenzen ziehen, wohl aber Direktiven geben. Das Grundgesetz will eine repräsentative und zugleich partizipative, eine rechtsstaatlich gebundene und zugleich demokratisch gestaltbare, eine freiheitliche und eine pluralistische politische Ordnung schaffen. Wie sich dies auf die Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Normen auswirkt, bedarf folglich einer Einschätzung des politischen Systems aus der Perspektive der verfassungsrechtlich fundierten Distanz.
Die entscheidende Frage ist also nicht, ob sich das Verfassungsgericht als "Normverwerfer" und "Ersatzgesetzgeber" betätigen darf, sondern wie es mit der "countermajoritarian difficulty",
Zunächst darf nicht vergessen werden, dass Hauptadressat des BVerfG nicht die anderen Verfassungsorgane, sondern die Dritte Gewalt selbst ist, mit der Spannbreite vom Amtsgericht bis zum Bundesgerichtshof. Die allermeisten Verfahren in Karlsruhe betreffen Verfassungsbeschwerden, die fachgerichtlichen Urteilen vorwerfen, gegen die Verfassung verstoßen zu haben. Im Verhältnis zu den Fachgerichten erfüllt das BVerfG keine politische Funktion, sondern es sorgt für den täglichen Verfassungsvollzug durch die rechtsprechende Gewalt.
Richterlicher Aktivismus ist umso eher angebracht, je wahrscheinlicher Minderheitenrechte nicht nur im Einzelfall, sondern strukturell verletzt werden. Wenn beispielsweise bestimmte Ansichten im Bundestag unterrepräsentiert sind (etwa die Friedensbewegung zur Zeit der Brokdorf-Demonstration 1981), ist es geboten, das parlamentarische Repräsentationsdefizit durch eine Stärkung der gesellschaftlichen Artikulationsformen zu beheben – mit anderen Worten, die Grundrechte zur Kompensation von Repräsentationsmängeln einzusetzen. Das erklärt die starke Stellung des Versammlungsrechts, das typischerweise von denen wahrgenommen wird, die im politischen Prozess unterrepräsentiert sind (heute also eher Fridays for Future oder die Kritiker der Corona-Maßnahmen).
Der politische Prozess kann aber auch darunter leiden, dass bestimmte Themenfelder aus der Eigenrationalität des politischen Prozesses heraus nicht aufgegriffen werden. So hat der Bundestag etwa an der Reform des Erbschaftsteuerrechts kein politisches Interesse: Man macht sich im Zweifel unbeliebt, gewinnt mit dem Thema keine Wahlen, hat starke Lobbyisten gegen sich (Familienunternehmen etwa), und die Steuereinnahmen kämen nicht einmal dem Bund zugute. Das Erbschaftsteuerrecht ist aber ein zentrales Steuerungselement für Chancengerechtigkeit und gegen die Verschärfung der Vermögensungleichheit. Schon unter dem Gesichtspunkt der Behandlung einer gesamtgesellschaftlich wichtigen Problematik, die aber keine politische Rendite verspricht, war es richtig, dass das BVerfG mehrfach das Erbschaftsteuergesetz beanstandet und den Bundestag gezwungen hat, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen.
Wenn das BVerfG dergestalt Themen setzt und Aufgaben verteilt, ist der potenzielle Übergriff auf die demokratisch zu verantwortende Rechtspolitik besonders groß. Hier empfiehlt es sich, nicht zu viel zu entscheiden, also entweder eine Aufgabe zu verteilen (Reform des Erbschaftsteuerrechts) oder die Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe dem Gesetzgeber zu überlassen. Hier geht das BVerfG manchmal zu weit, weil es auch noch die Mittel konkretisiert, etwa die Reform des Erbschaftsteuerrechts an konkrete Vorgaben aus dem Gleichheitssatz knüpft. Zu weit gegangen war das BVerfG auch im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, als es nicht nur eine neue Aufgabe kreierte (staatliche Schutzpflicht als richterliche Verfassungsinterpretation), sondern zugleich auch das Mittel zur Umsetzung der Schutzpflicht vorgab (Strafrecht, Indikationslösung).
Kluge Dosierung
Als gewaltenrespektierende Klugheitsregel gilt also: Für die politische Verantwortung und damit die demokratische Legitimation (und mögliche Sanktion durch den Wähler) muss immer etwas zur Entscheidung übrigbleiben, entweder das Ziel oder das Mittel: Entweder, dem politischen Prozess wird eine Aufgabe überantwortet, dann darf nicht auch noch das Mittel verfassungsrechtlich deduziert werden; oder ein Themenfeld ist bereits politisch besetzt, dann bietet sich die Mittelauswahl zur Kontrolle an. In diese zweite Rubrik fällt etwa der Klimaschutzbeschluss: Die Bundesrepublik hat sich völkervertraglich zu einem konkreten Klimaschutzziel verpflichtet. Jetzt kann das BVerfG die zeitliche Umsetzung dieses Ziels überprüfen. Oder ein strukturell vergleichbares Beispiel: Wenn sich der Bundestag für die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften entscheidet, kann das BVerfG daran anknüpfend prüfen, wie er dieses Ziel umsetzt – und den demokratisch legitimierten Reformprozess befördern.
Aktivismus und Zurückhaltung lassen sich auf diese Weise praktisch gut dosieren und zugleich auf verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zurückführen. Vereinfacht gesagt ist das BVerfG zu demokratiefunktionalem Aktivismus in drei verallgemeinerungsfähigen Konstellationen aufgerufen, nämlich erstens, wenn ein Repräsentationsdefizit zu verzeichnen ist, zweitens zum Schutz struktureller Minderheiten, die keine Mehrheitschance haben, sowie drittens, wenn der politische Prozess zu versteinern droht. Man überlege aber weiter, welche anderen Konstellationen Aktivismus auch rechtfertigen könnten: Wenn Mehrheitskonsens besteht, dass bestimmte Kompetenzen ausgehöhlt werden (etwa durch selbstexekutierende Gesetze wie bei der "Bundesnotbremse",
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem demokratiefunktionalen Bereich sind, anders als Entscheidungen, die subjektive Rechte im Einzelfall betreffen, nie für die Ewigkeit. Wenn das BVerfG als Verfassungsorgan und nicht als Gericht entscheidet, dann gilt für es natürlich das, was auch sonst für Verfassungsorgane gilt: Hier gibt es kein letztes Wort. Demokratie beruht auf der Chance der Minderheit, zur Mehrheit zu werden und die Dinge ändern zu können. Demokratie lebt von der Reversibilität. Es ist daher wichtig, dass die demokratiefunktionalen Entscheidungen des BVerfG interpretationsfähig bleiben und nicht ihrerseits zur Versteinerung beitragen. Verfassungsinterpretation entwickelt sich zur Interpretation von Verfassungsinterpretationen. Erst die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglicht einen solchen Interpretationsdiskurs. In dieser Perspektive wird das Bundesverfassungsgericht nicht zur Gouvernante der Demokratie, sondern zur Mutter des Verfassungspatriotismus.