Die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, das Vereinigte Königreich, Israel, Japan, Südkorea – diese und weitere Länder können bei aller Unterschiedlichkeit als demokratische Verfassungsstaaten bezeichnet werden. Was ist bei diesem Typus politischer Ordnung das Wesentliche: die Demokratie, die Verfassung oder der Staat? Aus politiktheoretischer Perspektive möchte man sagen, dass die Frage falsch gestellt ist, denn das Wesentliche des demokratischen Verfassungsstaates liegt gerade in der Verbindung von jeweils drei gleichwertigen Prinzipien. Es geht um die Legitimation und Ausübung politischer Herrschaft durch das Volk und in seinem Interesse, um die umfassende Bindung an Recht, für das eine besondere Geltungskraft anerkannt wird und in dessen Rahmen Herrschaft ausgeübt wird, sowie um die Souveränität von Herrschaft in einem definierten Territorium. Zwischen diesen Prinzipien besteht ein dynamisches Spannungsverhältnis, das es in einem ersten Schritt begrifflich zu entfalten und dessen innere Logik es herauszuarbeiten gilt: die Selbstbindung der Bürgerschaft durch Recht. Das Verständnis dieser Form politischer Ordnung bliebe unvollständig, wenn neben die politiktheoretische nicht auch eine empirische Rekonstruktion träte, bei der auch die im Detail variierenden Gewichtungen der Prinzipien vor dem Hintergrund jeweils unterschiedlicher historischer Entwicklungspfade nachzuzeichnen sind. Das soll mit wenigen Strichen in einem zweiten Schritt für England, die USA und Frankreich geschehen, die für drei historisch einflussreiche Strömungen im Verfassungsdenken stehen.
Welche Zukunft hat dieser Typus politischer Ordnung? Für das globalisierte 21. Jahrhundert sind zahlreiche Abgesänge auf den Staat als territorial definierte Ordnung zu hören. Autoritäre Bewegungen fordern das demokratische Legitimationsprinzip heraus, und insbesondere die Klimakrise stellt die Freiheitlichkeit der modernen Verfassung auf die Probe. Hier wird die These vertreten, dass der demokratische Verfassungsstaat eine entwicklungsfähige Ordnung ist, innerhalb der die Selbstbindung durch Recht neuen Herausforderungen angepasst werden kann (und muss). Anhand des Klimabeschlusses des Bundesverfassungsgerichts soll daher in einem dritten Schritt das Innovationspotenzial des demokratischen Verfassungsstaates beleuchtet werden.
Ermöglichung und Begrenzung demokratischen Handelns
In der griechischen Mythologie findet sich in Homers Odyssee eine Erzählung, die in der Verfassungstheorie häufig herangezogen wird, um den Clou der Verbindung von Demokratie und Verfassung zu veranschaulichen.
Begrenzung des Handlungsspielraums als Schutz vor Gefahr und Ermöglichung von Handlungen, die ohne dies nicht möglich wären – das sind auch die beiden zentralen Wirkungen, die die Bindung des Souveräns an eine Verfassung beinhaltet.
Die Verfassung bewirkt also die Bändigung einer – vermeintlichen oder tatsächlichen – Irrationalität, die sich in politischer Macht Bahn brechen und für die Freiheit des Einzelnen wie auch für das Gemeinwohl zur Gefahr werden kann. Dass solche Gefahren auch der Demokratie drohen, wenn das Volk mit Mehrheit entscheidet, ist eine der zentralen Erfahrungen der politischen Moderne, weshalb auch diese Herrschaftsform auf institutionelle Sicherungsmaßnahmen zur Kontrolle von Machtausübung und Begrenzung ihrer Verfügungsgewalt angewiesen ist. Das ist der Sinn vielerlei Vorkehrungen im Verfassungsstaat, angefangen bei der Differenzierung zwischen dem Innehaben und dem Ausüben der Staatsgewalt:
Die Unterscheidung zwischen Innehaben und Ausüben der Staatsgewalt drückt sich auch in der Lehre der verfassunggebenden Gewalt aus, wonach das Volk als Souverän die die Verfassung "hervorbringende Gewalt" ist (pouvoir constituant) und in ihrem Rahmen als "verfasste Gewalt" (pouvoir constitué) handelt.
Wie in der Geschichte von Odysseus und den Sirenen hat dieses institutionelle Arrangement im Verfassungsstaat aber noch eine zweite Wirkung: Zur begrenzend-bändigenden tritt die ermöglichende Wirkung hinzu. So dient die Gewaltenteilung nicht nur der Machtkontrolle, sondern steigert durch die Aufteilung von Kompetenzbereichen auch die Rationalität. Wie in der ökonomischen Sphäre der modernen Gesellschaft ist auch hier die Arbeitsteilung ein intelligentes Organisationsverfahren, mit dem bessere und effizientere Ergebnisse erzeugt werden können: Die funktionale Differenzierung staatlicher Aufgaben – Gesetze geben, ausführen und den Inhalt und Prozess auf Rechtmäßigkeit überprüfen – und die Verteilung auf unterschiedliche Institutionen bieten die Chance differenzierter Problemwahrnehmung und angemessener Aufgabenerfüllung.
Damit dieses anspruchsvolle Arrangement funktioniert, ist allerdings eine entscheidende Voraussetzung notwendig. Die handelnden politischen Akteure und auch die Bürgerschaft sollten von einem Konsens über das "Unabstimmbare" getragen sein, wie es Adolf Arndt, einer der wichtigen Rechtspolitiker der frühen Bundesrepublik, ausgedrückt hat. Sie müssen sich einig wissen über das, was nicht kontrovers sein sollte, wie es Ernst Fraenkel, Remigrant und einer der Gründerväter der deutschen Politikwissenschaft, in seiner Theorie pluralistischer Demokratie konzeptualisiert hat. Denn bei allem Pluralismus der Werte bedarf es im demokratischen Verfassungsstaat einer geteilten ethischen Überzeugung, begleitet von einer entsprechenden Haltung in der Praxis: dass allen Menschen die gleiche unantastbare und zu respektierende Würde innewohnt, dass allen Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie gleiche Freiheit zukommt (und folglich faire Lösungen bei widerstreitenden Interessen zu suchen sind) und es nicht zuletzt eines bürgerschaftlichen Engagements bedarf, das weit über die Erfüllung geschriebener Rechtspflichten, wie etwa Steuern zu zahlen, hinausgeht. Um eine viel zitierte Sentenz Ernst-Wolfgang Böckenfördes auf einen Begriff zu bringen: Der demokratische Verfassungsstaat ist auf ein demokratisches Ethos seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen, das seine Institutionen lebendig hält.
Entwicklungspfade
Die Ideen- und Realgeschichte des modernen Konstitutionalismus ist eng verknüpft mit der Geschichte des Rechtsstaats. Verfassungsstaat und Rechtsstaat stehen beide für die Rechtsbindung politischer Herrschaft, sind allerdings nicht deckungsgleich – das Konzept des Rechtsstaats kann, ahistorisch gedacht und ohne hier die deutsche Herkunft des Begriffs einzubeziehen, im Kern auf die Gesetzmäßigkeit politischer Herrschaft und das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz konzentriert werden, ohne dass eine Verbindung mit einer demokratischen Legitimation von Herrschaft und einer konstitutionellen Garantie individueller Rechte begriffsnotwendig ist.
In der politischen Tradition des Vereinigten Königreichs sind die Parlamentssouveränität und das Rule-of-Law-Prinzip Ausdruck eines Konstitutionalismus ohne eine förmliche Verfassungsurkunde.
Die Siedler in den Kolonien der Neuen Welt forderten die Garantien der Bill of Rights auch für sich ein. Die Kolonisten sahen sich vom Parlament des Mutterlands nicht repräsentiert, obschon sie der britischen Krone Steuern zu zahlen hatten. Der Ruf der Unabhängigkeitsbewegung, "No Taxation Without Representation", nimmt einen genuinen Bestandteil der englischen Parlamentssouveränität und verwandelt ihn in eine Begründung für die Unabhängigkeit: In der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika erlebt der Konstitutionalismus gewissermaßen seine Geburtsstunde in nahezu vollendeter Form. Auch wenn der Konvent von Philadelphia "eigentlich" nur zusammentrat, um das Gerüst für eine bessere Union ("to form a more perfect Union", wie es in der Präambel heißt) der Einzelstaaten zu entwickeln,
Der Supreme Court hat sich 1803 diese verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz bekanntlich in einem seiner ersten Urteile in einem Akt richterlicher Selbstermächtigung selbst zugesprochen, denn eine explizite Kompetenzzuweisung sieht die Verfassung nicht vor.
Die französische Entwicklungslinie des Konstitutionalismus schließlich hat vor dem Hintergrund des umfassenden sozial-revolutionären Bruchs von 1789 viel stärker neben die Forderung der Freiheit auch die der Gleichheit gestellt und dies mit sozialen Ansprüchen verknüpft: "Fraternité" verbindet sich mit der Vorstellung der Gesellschaft als Solidargemeinschaft, was sich auch in einer früheren und umfassenderen Institutionalisierung des Staates als Wohlfahrtsstaat niedergeschlagen hat.
Dass sich das Grundgesetz zu einer Art Fixpunkt des deutschen Gemeinwesens entwickelt hat, mit Integrationskraft sowohl was die Akteure im politischen Wettbewerb angeht als auch in symbolischer Hinsicht als gemeinsamer Nenner der Bürgerschaft, hängt wesentlich mit der Anrufbarkeit seines Hüters zusammen: Die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht zu einem Bürgergericht gemacht, und die verhältnismäßig niedrigen Zugangshürden für die politischen Akteure bewirken die Realisierung der Rechtsbindung bereits im Vorfeld eines Prozesses. Der mögliche Gang nach Karlsruhe und sein Ergebnis werden dauerhaft antizipiert. Auch wenn das Grundgesetz nahezu von Beginn an von der kontroversen Debatte begleitet wird, ob es "nur" als Rahmen oder auch als Programm, nur in seiner ordnenden oder auch mit einer inhaltlich orientierenden und integrierenden Funktion zu verstehen ist:
Ökologisch motivierte Selbstbindung
Um in der Bildersprache der griechischen Mythologie zu bleiben: Es gibt eine Achillesferse im demokratischen Verfassungsstaat. Eigentlich müssten die beiden Wirkungen der rechtlichen Selbstbindung, Begrenzen und Ermöglichen, besonders hilfreich bei der Bewältigung der ökologischen Herausforderung, speziell der Klimakrise, sein.
Die Antwort ist banal: Erkenntnis und Interesse sind auseinandergefallen. Die relevanten Akteure in der Wettbewerbsdemokratie, also die demokratischen Mehrheiten und ihre Repräsentanten, haben die Gegenwartspräferenz in der Nutzenfunktion nicht überwinden können. Gegenwärtig anfallende Kosten und im Hier und Jetzt realisierte Gewinne von Entscheidungen sind systematisch stärker gewichtet worden als zukünftige. Solange die Kosten einer auf fossiler Energie beruhenden Lebensweise zeitlich und räumlich externalisiert werden konnten, ist eine auf Dekarbonisierung zielende Transformationspolitik aufgrund ihrer – von den politischen Konkurrenten auch noch beschworenen – Kosten für die Durchsetzung von Verhaltensänderungen, der Einkommenseinbußen durch geringere gesamtgesellschaftliche Wachstumsraten und des sich erst in Zukunft einstellenden "Gewinns" (der kein Zugewinn ist, sondern nur die Abwendung einer Verschlechterung in Form eines geringeren Temperaturanstiegs) nicht wettbewerbsfähig gewesen. Die Kurzfristigkeit im Entscheidungshorizont demokratisch gewählter Politiker, die zu einer strukturellen Vernachlässigung der Zukunft führt, spiegelt also nicht einfach nur eine angenommene Kurzfristigkeit in der Präferenzordnung der Wähler wider, sondern wird durch die Funktionsbedingungen der Wettbewerbsdemokratie auch systematisch erzeugt. Dieser Mechanismus relativiert sich freilich in dem Moment, in dem eine hinreichend einflussreiche Zahl von Bürgerinnen und Bürgern eine zukunftsverantwortliche Politik einfordert. Allem Anschein nach hat die neue soziale Bewegung "Fridays for Future" Klimapolitik in Europa bereits konfliktfähiger gemacht, auch wenn den Aktivisten – und auch den Klimaforschern – der Green New Deal der EU und die jeweiligen nationalstaatlichen Maßnahmen zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens bei weitem nicht ausreichend erscheinen.
Doch die Beharrungskräfte sind groß, und das hängt neben der immer noch vergleichsweise schwachen Priorität, die die Wählerschaft der Thematik einräumt, mit einer weiteren Schwachstelle an der Achillesferse des demokratischen Verfassungsstaates zusammen: Die Grundrechte als liberale Abwehrrechte schützen eine von staatlichem Reglement grundsätzlich frei zu haltende Handlungssphäre. Jede Handlung kann sich auf den Schutz eines Grundrechts berufen, entweder auf ein bestimmtes oder aber auf die allgemeine Handlungsfreiheit aus Artikel 2 GG. Ein die grundrechtliche Freiheit regulierender staatlicher Eingriff kann nur dann erfolgen, wenn es um den im Wege der Verhältnismäßigkeitsprüfung als notwendig erachteten Ausgleich mit anderen grundrechtlichen oder weiteren in der Verfassung geschützten Rechtsgütern geht. Dass die mit der Emission von Treibhausgasen verbundenen individuellen Handlungen als Ausübung der Freiheit des einen die grundrechtliche Sphäre – Gesundheit, Eigentum, Berufsfreiheit – einer anderen berühren und deswegen von Verfassungs wegen staatliche Maßnahmen erforderlich sind, galt bis zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts als schwer vorstellbar. Fragen der Klageberechtigung, der Betroffenheit, Probleme der Zurechenbarkeit und wissenschaftlichen Beweisbarkeit von Kausalität, gerade mit Blick auf Ursachen und Folgen, die geläufige Grenzen in Zeit und Raum überschreiten, und auch die Einschätzung, ob "nur" ein Risiko oder "schon" eine Gefahr vorliegt – all diese und weitere Aspekte ließen das Rechtssystem eher als Hindernis für eine ökologisch verantwortliche Politik erscheinen.
Deswegen sind seit den siebziger Jahren bis heute immer wieder Verfassungsänderungen vorgeschlagen worden, um ökologische Interessen rechtlich konfliktfähiger zu machen: angefangen von einem Umweltgrundrecht über eine ökologische Grundrechtsschranke bis hin zu einem durch Ombudspersonen oder Verbände einklagbaren Grundrecht für zukünftige Generationen. Das Umweltstaatsziel in Art. 20a GG, zu dem sich der verfassungsändernde Gesetzgeber schließlich in den neunziger Jahren mit einer Kompromissformel durchgerungen hatte, erschien vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Forderungen als sehr kurz gesprungen, zumal es in der intensiv geführten verfassungspolitischen Debatte auch institutionelle Vorschläge gab, zugunsten ökologischer Politik tief in den politischen Prozess einzugreifen – etwa durch ein aufschiebendes Vetorecht eines Ökologischen Rates als einer Art Dritten Kammer oder ein Vetorecht für die Umweltministerin.
Und diesen Blickwinkel hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Klimabeschluss eingenommen:
Die zweite zentrale Aussage ist eine grundrechtsdogmatische Innovation:
Die dritte zentrale Aussage schließlich ist die Aktualisierung des universalistischen Geltungsanspruchs der Menschenrechte als der normativen Legitimitätsgrundlage der Verfassung. Denn auch wenn die Beschwerdeführenden aus Nepal und Bangladesch am Ende in der Sache nicht erfolgreich waren – die Tatsache, dass ihre Klage die Zulassungshürde übersprungen hat, kommt einer generellen Anerkennung der Verantwortlichkeit des Nationalstaats im Bereich des Klimaschutzes für mögliche Folgen seiner Gesetzgebung für Menschen in anderen Teilen der Welt gleich.
Indem das Bundesverfassungsgericht die Politik auf den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Klimas und die Achtung der planetaren Grenzen verpflichtet hat, hat es ein neues Kapitel im Buch der Selbstbindung durch Recht aufgeschlagen. Die Veränderung erfolgt hier nicht durch explizite Verfassungsänderung, sondern im Wege des Wandels durch verfassungsgerichtliche Rechtsprechung. Hier liegt in einem sehr fundamentalen Sinn eine Selbstbindung des demokratischen Souveräns vor, denn das Verfassungsgericht ist von diesem autorisiert, die grundgesetzliche Ordnung auch für die Zukunft zu bewahren. Wenn nicht heute in effektiver Weise eine Politik des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen betrieben wird, dann droht der ökologische Notstand zum neuen Normalzustand zu werden, wie er in diesem Sommer im Ahrtal und an anderen Orten zwar lokal und zeitlich begrenzt Einzug gehalten hat, aber gleichwohl mit existentiellen Folgen für die dort lebenden Menschen. Dass sich der Staat in einer solchen Situation der Verwaltung des Mangels und des Managements von Katastrophen grundrechtlichen Freiheiten und den Prinzipien demokratischer Entscheidungsbildung verpflichtet fühlt, ist nach aller Erfahrung nicht zu erwarten.